FolkWorld #78 07/2022
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Tunes from Home

Irish Music in den Zeiten von Corona

Im Rahmen der Vorbereitung einer Neuauflage des Companion to Irish Traditional Music[77] wurde ich von Fintan Vallely gefragt, ob ich etwas darüber sagen könne, wie sich die Corona-Pandemie auf die deutsche Irish-Music-Szene ausgewirkt hat. Mein erster Gedanke war abzulehnen, da auch ich in diesen zwei Jahren irgendwie ein wenig den Überblick verloren habe. Mein zweiter Gedanke: Warum frage ich nicht einfach mal rum! Deshalb freue ich mich an dieser Stelle über eine Rückmeldung von Gudrun Walther[64] (Cara,[76] Deitsch)[70] und Jens Kommnick[78] (Iontach).[70]

Gudrun Walther

"#AlarmstufeRot"

Artist Video Gudrun Walther
@ FROG


www.walthertreyz.com
www.artes-konzertbuero.de

Meine erste Frage war, wie alle die Corona-Zeit überstanden und was sie so gemacht haben? Jens Kommnick fasst es kurz und knapp zusammen: "Wir haben versucht, das Beste aus der Situation zu machen: wir haben neue Stücke arrangiert, im heimischen Studio aufgenommen und auf einschlägigen Musikplattformen wie Spotify oder Apple Music mit unseren Mitmenschen geteilt. Außerdem haben wir uns oft - wozu wir normalerweise nicht so viel Zeit haben - einfach nur so zum Sessionmachen getroffen."

Gudrun Walther geht ins Detail: "Wir hatten einige Open-Air-Konzerte in den Sommermonaten 2020, überwiegend im Duo und meist sehr kurzfristig gebucht, aber auch 3 mit der ganzen Band. Wir hatten im Herbst 2020 Workshops, die in Präsenz stattgefunden haben, und einige weitere Konzerte im Duo. Dann war wieder alles dicht. Parallel haben wir einige Kurse auch im Online-Format durchgeführt, eine Online-Vorlesung gehalten, und mehrere gestreamte Konzerte gespielt."

Sie erinnert an eines der Highlights in Sachen Folk in der Corona-Zeit: "Im Sommer 2020 haben wir das Sang & Klang-Online-Folkfestival organisiert, bei dem wir über 30.000 € Spenden sammeln konnten, die wir an drei Organisationen gegeben haben, die Musikern und Technikern in der Coronazeit halfen."[73] Insgesamt war es aber eine sehr bedrückende Zeit: "Ohne die Überbrückungshilfe wäre es schwierig gewesen, aber das Land Baden-Württemberg genehmigt den sog. Unternehmerlohn von 1.000 € pro Monat, den man auch für Lebenshaltungskosten verwenden darf."

Jens Kommnick

Artist Video Jens Kommnick
@ FROG


www.jenskommnick.com

Und wer hat damals geahnt, dass nicht so schnell wieder zur Tagesordnung zurückgegangen werden konnte: "2021 haben wir Tunes from Home ins Leben gerufen. Zwischen dem 6. Januar und dem 5. Juli haben wir 25 Online-Sessions, jeden Montag Abend, auf Zoom veranstaltet. Die Teilnehmer konnten im Vorfeld via Paypal spenden, soviel oder so wenig sie wollten. Im Gegenzug haben wir dann Noten für die Session verschickt. Die Teilnehmer konnten uns hören, wir haben mit professionellem Equipment den Sound abgenommen, und jede/r konnte von Zuhause mitspielen. Teilweise hatten wir ganze Familien, die mit uns mitgespielt haben."

"Nachdem klar war, dass die Resonanz riesig war (über 150 Endgeräte mit oft mehreren Teilnehmern) haben wir begonnen, auch Gäste einzuladen, die dann virtuell zugeschaltet waren und einen Teil der Session übernommen haben, so dass die Teilnehmer nicht nur mit uns spielen konnten. Unter unseren Gästen waren: Mick O’Brien, Ciara Ni Bhriain, Oisín MacDiarmada, Samantha Harvey, Claire Mann, Aaron Jones, Regina Kunkel, Björn Kaidel, Toon Van Mierlo, Pascale Rubens und Andy Cutting."

"Live-Gäste haben wir uns für besondere Gelegenheiten (Ostern oder Pfingsten), an denen normalerweise große Musiktreffen stattfinden, auch eingeladen und sind an Pfingsten sogar dafür in die nahe gelegene Rätschenmühle umgezogen, wo wir die Session auf der Bühne abgehalten haben und einen Ton- und Videotechniker engagiert haben. Live-Gäste waren Hendrik Morgenbrodt, Steffen Gabriel, Franzi Gabriel und Barbara Hintermeier."[73][77]

"Die Tunes from Home-Online-Sessions haben uns finanziell gerettet, sowie unseren musikalischen Gäste und einigen Technikern noch eine Gage beschert. Außerdem hat es die Szene zusammengehalten, oft wurde nach der Session (in der Regel haben wir bis 22 Uhr musiziert) noch lange auf Zoom in verschiedenen Chat-Rooms geklönt. Noch heute sprechen uns Leute darauf an, wie dankbar sie dafür waren, jeden Montag zu musizieren und unter die Leute zu kommen. Das Repertoire hat sich mittlerweile auch etabliert, viele Sets hört man nun auf lokalen Sessions oder bei Kursen - das war ein richtiger Erfolg."

Gudrun engagierte sich zur gleichen Zeit in verschiedenen Initiativen, die sich virtuell treffen: das European Folk Network, die DeutschFolk-Initiative, sowie den Online-Mitgliederversammlungen von Profolk. Sie beklagt aber "die Ungewissheit und der daraus resultierende Druck, sich ständig um Alternativen zu kümmern, nie zur Ruhe zu kommen." Im Sommer 2021 durfte man sich dann wieder von Angesicht zu Angesicht treffen: "Es gab wieder Gigs und Workshops, bis in den Oktober hinein waren wir durchgehend beschäftigt."

Nur nebenbei erwähnt realisierten in diesem Sommer die in Wien beheimateten Celtica Pipes Rock in einer kurzen Corona-Atempause auch die DVD-Veröffentlichung "Celtic Spirits at Merkenstein".[77] Insgesamt 70 Aktive, einschließlich Chöre, Trommler, Steptänzer und Feuerkünstler, substituierten das ansonsten abwesende Publikum.

Celtica-Gitarrist Gajus Stappen konnte - nach der Absage aller Festivals 2020 in ganz Europa - zum Schluss kaum die Tränen zurückhalten: "Das war einer der schönsten Momente meines Lebens! Das Celtica-Erlebnis ist vor allem eben eine Live-Erfahrung. Der lange Lockdown gerät ins Vergessen, aber nicht übersehen werden sollte, dass - bis sich das Konzertleben endlich wieder normalisiert haben sollte - der Verkauf von CDs und DVDs die primäre Einnahmequelle vieler Künstler geworden ist."

Celtica Pipes Rock

Artist Video Celtica Pipes Rock @ FROG

www.celticarocks.com

Das fehlende Live-Erlebnis war auch für Jens Kommnick das Unerfreulichste in dieser Zeit: "Am Schlimmsten war, dass wir unsere Liebe zur Musik so lange nicht mit unserem Publikum teilen konnten. Das Glücksgefühl, das du auf der Bühne erleben kannst, ist einfach durch nichts zu ersetzen; und dieses Glücksgefühl hat uns so sehr gefehlt."

"Augenblicklich" (d.h. Juni 2022), sagt Jens, "hat sich die Situation spürbar verbessert: obwohl immer noch ein wenig Planungssicherheit fehlt, so können wir wieder auftreten und genießen jedes Konzert dankbar und in vollen Zügen."

Gudrun Walther resümiert: "Ab November 2021 bis März 2022 war wieder Pause; die haben wir mit den mittlerweile ausgerufenen Stipendienprojekten des Landes sowie der GVL und GEMA überbrückt. Ich hatte ein Kompositionsstipendium des Landes Baden-Württemberg sowie ein Aufnahmestipendium der GVL. Jürgen [Treyz] hatte ein Recherchestipendium und ein Aufnahmestipendium." Daraus resultierte: "Musik, die durch die Landschaft der schwäbischen Alb (wo ich wohne) inspiriert ist, die man sowohl mit einem Streichquartett aufführen kann als auch folkig. Eine Trio-CD mit Damian McKee, Aaron Jones und mir.[78] Eine Kinderlieder-CD mit Bernd Kohlhepp und Jürgen Treyz. Haufenweise neue alte Stücke aus Handschriften ausgegraben für kommende Deitsch-Alben."

Sang & Klang Festival

"Rudelgucken statt Rudolstadt"

"Poesie und Protest" (Review)

"Seit März 2022 sind wir auf Tour, allerdings ständig mit dem Damoklesschwert über uns - einmal musste eine Tour mittendrin abgebrochen werden, weil unser Piper positiv war. Gerade bin ich zurück von einem Workshop, auf dem sich eine Teilnehmerin positiv getestet hat, und ich teste mich jetzt täglich, eigentlich kommt die Band..."

Abschließend stellt sich natürlich die Frage, ob man für die Zukunft auch eine Lehre ziehen kann?! Gudrun meint: "Geistig flexibel bleiben. Sich trauen, Ideen zu verwirklichen. Teamarbeit ist toll - sowohl bei Sang & Klang als auch bei anderen Projekten hat sich gezeigt, wie toll man mit anderen Menschen kreativ arbeiten kann, sogar wenn man sich nur virtuell treffen kann. Vertrauen, dass es Wege gibt - man muss sie nur finden."

Jens Kommnick: "Hm, eine Lehre, die wir aus der Pandemie gezogen haben? Vielleicht, dass wir viele Dinge, die wir in der Vergangenheit als selbstverständlich angesehen haben, nun als Kostbarkeiten zu schätzen wissen: Umarmungen, Geselligkeit mit Freunden und Familie, Sessions, etc."

Und ich selbst? Meine Verarbeitung der Corona-Zeit habe ich in einem Liedchen namens "The Luck of the Irish" verewigt, dessen Refrain da lautet:

May the road rise up to meet you
And your verses always find a rhyme
May God's love and the luck of the Irish be with you
Any place, any way, any time

Inspiriert von einer Überdosis an irischen Segenssprüchen wurde mir bewusst, dass das sprichwörtliche "Luck of the Irish" nicht unbedingt "Glück" an sich ist, sondern eine optimistische Einstellung angesichts einer katastrophalen Situation. Man übersteht keine Pandemie, wenn man denkt, das Glas sei halbleer. Ich sage: es ist ganz egal, ob das Glas halbvoll oder halbleer ist; Hauptsache es gibt ein Glas und es ist etwas drin!!



Photo Credits: (1) Tunes from Home, (2) Gudrun Walther, (3) Jens Kommnick, (4) Celtica Pipes Rock, (5) Sang & Klang Festival (unknown/website).


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