Ausgabe 29 09/2004

FolkWorld CD-Besprechungen (1)


Bute Beach Party, photo by The Mollis

Zupfgeigenhansel "Miteinander"
Label: Pläne-Records; 88901; 16 Tracks; 45:23 min Deutschland 1982/2004
Weltmusik ist häufig auch Rootsmusik. So darf jedes Völkchen genüsslich seine Wurzeln gießen und stolz drauf sein. Wurzelpflege bedeutet in Deutschland allerdings all zu oft Zahnschmerzen, denn einige Wurzeln der deutschen Kultur liegen im deutschen Liedgut. In multikultureller Zeit wurzelt man ja lieber im Cubanismo, im Balkanbrass oder wurde zum keltischen Stepptanz geboren. Dabei gibt es gar nicht so viele Gründe sich seiner Kultur zu schämen. Vor zweiundzwanzig Jahren, als der Einfluss der Weltmusik auf die deutsche Musik verhältnismäßig gering war und deutsche Musik mit so klangvollen Namen wie Rex Gildo durch die Radios ölte, pflegte die Gruppe Zupfgeigenhansel das niederliegende deutsche Liedgut, unbeeindruckt vom sie umspülenden Schlager. Die alten Volkslieder, wie "Bunt sind schon die Wälder" oder "Ade nun zur guten Nacht" hatten es ihnen angetan. Auch Dieter Süverkrüpp schrieb ein paar Lieder, die so klangen, als hätten sie schon ein Jahrhundert auf dem Buckel und wären von Wanderern und Heimatgruppen gebührend zerzaust worden. Erich Schmeckenbecker und seine Mannen von Zupfgeigenhansel trugen sie mit einigem Pathos, viel Ehrlichkeit und der völligen Abwesenheit von Ironie vor. Die Aufnahmen, der damals nur kurz im Handel befindlichen LP veröffentlichte der Pläne-Verlag 2004 unter dem Titel "Miteinander". Die CD wirkt wie ein Relikt aus einer Zeit, die ein gewisses Peinlichkeitspotenzial besitzt. Trotzdem ist die Wiederaufnahme von Zupfgeigenhansels "Miteinander" beste Wurzelpflege für die heutige deutschsprachige Folk- und Liederszene.
Kontakt zum Label: info@plaene-records.de
Karsten Rube


Songs an einem Sommerabend 4
Label: Pläne-Records; No.; 19 Tracks; 76:07 min Deutschland 2004
Seit 18 Jahren geht vor dem Kloster Banz ein Open-Air-Festival über die Bühne. Eine kleine Wiese, eine Bühne, viele Künstler und noch mehr Publikum. In 18 Jahren kommen eine Menge Leute zusammen. Zeit für den Pläne-Verlag das bereits vierte musikalische Tondokument der Banzer Tage zusammenzustellen. Auf der CD "Lieder an einem Sommerabend 4" finden sich so verschiedene Musiker wieder, wie Hannes Wader und Bernardo Sandoval, Lydie Auvray und Dulce Pontes, Naked Raven und Ludwig Hirsch, Klaus Hoffmann und Etta Scollo um nur einige zu nennen. Man kann bei dieser Collection bedauernd feststellen, was einem bei diesen Veranstaltungen alles entgangen ist, aber auch, was einem gelegentlich erspart geblieben ist. Eine durchwachsene Mischung.
Kontakt zum Label: info@plaene-records.de
Karsten Rube


José Maria "As luck would have it"
Label: own; U.S.A. 2002 11 Tracks, 41:04 min
Auf der CD "As luck would have it" singt der Sänger und Gelegenheitsgitarrist Jose Maria Songs, die nach amerikanischer Arbeiterbewegung klingen. Er singt sie vorzugsweise in seiner Heimatsprache portugiesisch. Dabei sind die Lieder durchaus von portugiesischen Themen durchwirkt. Er singt von der Mouraria, dem maurischen Viertel in Lissabon, einen Fado, der nicht nach Fado klingt und ein Lied das übersetzt den bemerkenswerten Titel: "Bring mir eine Tasse Kaffee auf den Balkon" trägt. Jose Maria hat diese CD in Florida aufgenommen, mit amerikanischen Musikern. Ein wenig Sehnsucht nach seiner Heimat schwingt mit, aber nicht genug, um daraus eine bedeutende CD voller Hingabe zu machen. Elf Songs, die relativ gleich klingen und unbedeutend vor sich hin plätschern, einundvierzig lange Minuten. Seine Stimme ist brüchig und unruhig, seine Kunst als Gitarrenspieler von bemerkenswerter Einfachheit. Lediglich die kurzen Augenblicke, in denen die Slidegitarre von Steve Freeman aufjault entschädigen geringfügig. Als ich diese CD hörte, dachte ich an ein Abend am Feuer eines Ferienlagers. Der Pionierleiter konnte ein paar Lieder aus dem revolutionären Erbe der amerikanischen Arbeiterbewegung, aber kaum deren Sprache, also dichtete er sie deutsch nach, so wie es ihm gerade einfiel. Die vier Gitarrengriffe die er kannte, genügten um die alten Pete Seeger-Klamotten runterzureißen und "If I had a hammer" kannte auch jeder. Heute hat man am Lagerfeuer ein CD-Brenner dabei und heraus kommt so was, wie José Marias "As luck would have it" Auf der Rückseite der CD sieht man den Mann stolz beim im Kochtopf herumrühren. Hoffentlich kann er besser kochen als singen.
Kontakt: jmaria@starpower.net
Karsten Rube


Glissando "C'est une fête"
Label: own; 13 Tracks; 54:58 min Deutschland 2004
Eine Tanzmusikkapelle sollte sich stilistisch nicht festlegen müssen. Die Gruppe Glissando beherzigt dieses Motto und schrammelt sich einmal rund um die Welt. Auf der zweiten CD der Gruppe laden sie schlicht zum Tanz. Die Stücke haben sie dabei zusammengetragen auf den weiten üppigen Wiesen Osteuropas, in den Cocktails Südamerikas oder in den Sümpfen von Louisiana. Ein gelungenes Unterhaltungsfolkpopweltmusikethnotanzhaushoppsassa, das jeder Fête Farbe verleiht.
Band/Musiker-Homepage: www.glissando-band.de, Kontakt: contact@glissando-band.de
Karsten Rube


Rassegna "Dominos (Chants de Méditerranée)"
Label: Playasound - PS65273; 14 Tracks; 68:49 min Frankreich 2003
Das Mittelmeer, Wiege der menschlichen Hochkultur. Viele haben es besungen, vielen an deren Ufern gestanden. Das Mittelmeer bietet unendlich viel Stoff für Geschichten und Lieder. Die Gruppe Rassegna hat sich musikalisch an den Ufern des Mittelmeer entlang bewegt. Zwar sind sie nicht von Gibraltar um das ganze Meer bis nach Tanger gereist, aber sie haben ein paar typische Ufer besucht und nach Melodien gefischt. Gefangen haben sie maurische Klänge aus Spanien. So stießen sie in Spanien auch auf einen Folksong aus der Sammlung Frederico Garcia Lorcas. Mittelalterliches aus der Dordogne floss ihnen zu, ein Revolutionslied aus den Zeiten, als man in den Gassen Neapels für mehr Freiheit randalierte und Lieder von der Insel Sizilien. Instrumental anspruchsvolle Songs sind darunter, wie auch polyphone Klänge aus Korsika, etwa Petro Guelfuccis "Fiore". Beim Hören der CD schnuppert man ein wenig von der salzigen Luft, spürt die Winde, die von den Bergen herabwehen und erahnt ehrfurchtsvoll etwas von der Größe, die das Meer einst für die kulturelle Entwicklung Europas besaß. Eine gelungene musikalische Ergänzung zu Paul Theroux' Reisebuch "An den Gestaden des Mittelmeers".
Band/Musiker-Homepage: www.rassegna.free.fr, Kontakt zum Label: info@playasound.com
Karsten Rube


Barbara Thalheim "Insel sein"
Label: duophon 06133; Deutschland 2004 12 Tracks, 51:14 min
Sie ist seit einer sehr langen Zeit im Bewusstsein der deutschen Liederszene, so lange, dass sich vielleicht nur noch sie selbst an die wirklichen Anfänge erinnert. Ungefiltert ließ sie das Leben auf sich einströmen, alle Freuden und alle Enttäuschungen, um sie in konzentrierter Form als Lieder wieder abzugeben. Immer stand sie dabei, wie eine Einzelkämpferin im Wind. Auf Barbara Thalheims neuer CD "Insel sein" kann man deutlich hören, dass sich daran nichts geändert hat. Ihre Lieder handeln fast immer von ihr selbst, Ansichten eines künstlerischen Innenlebens, mit Abrechnungen und Wünschen, Erinnerungen und Träumen, die ganzen Palette dessen, was sich im Menschen abspielt und irgendwie raus muss. Mal will sie Insel sein, in sich selbst ruhend und in Ruhe gelassen, dann wieder präsentiert sie sich sehr offen und verletzlich (Ich atme die Welt ein). Sie singt Lieder von Liebe, die zerfällt (Der Rost) und von Liebe, die hält (Liebe, die ich meine), ein Hass-Liebeslied auf Berlin (Berlin, ein Tag), das sich am Atem von Kurt Weil berauscht, doch mehr den Charme einer Rummelplatzpolka versprüht. Ihr Wortspiel "Gähntest" klingt gelangweilt und in die "Hineingeborenen" hat sie soviel neudeutsche Allerweltsweisheiten hineingepresst, dass es nicht einmal das virtuose Akkordeon von Jean Pacalet vermag, hier rettend Musik draus zu machen. Die CD "Insel sein" wirkt unentschieden, beinahe hilflos. Sie klingt wie das Resümee einer Frau, die sich über all die Jahre hinweg treu geblieben ist und nicht weiß, ob sie das heute bedauern soll oder nicht.
Band/Musiker-Homepage: www.barbara-thalheim.de, Kontakt: buero@thagoel.de
Karsten Rube


Beth Nielsen Chapman "Look"
Label: Sanctuary Records; LC6448; 11 Tracks U.S.A. 2004
Die ganz besonderen Künstler erkennt man daran, das man sie zunächst nicht mal wahrnimmt. Beth Nielsen Chapman war mir bisher völlig unbekannt. Und so widmete ich mich dem Hören ihrer CD "Look" völlig frei von Wissen und hörte zunächst einmal erstaunlich einfache Songs, die mir ganz gefühlvoll ans Herz gingen. Ich glaubte einen Song bereits gehört zu haben, was sich später als richtig erwies. "I find your love" stammt aus dem Film "Calender Girls". Doch auch die ersten Lieder verleiten zum mitträumen, bis sie mit "Free" einen mitreißenden Song anbietet, einen Song, der mich zum Hitmitpfeifer mutieren lässt. Angenehm berührt hörte ich mir die CD gleich nochmal an.
Beth Nielsen Chapman kann, auch ohne das mir das bis dahin bekannt war, auf eine erstaunliche Liste von Veröffentlichungen zurückblicken. Sie wurde von Größen der Musikwelt gecovert - nennen wir mal Willy Nelson stellvertretend für eine ganze Reihe. Auch Elton John sang ein Lied von ihr, anstelle seines "Candle in the wind" während seiner Prinzessin-Diana-Gedächtnis-Tour. Und so allmählich, beim Kramen in Biografie und Veröffentlichungslisten stellt sich heraus, das Beth Nielson Chapman bereits Grammynominationen aufweisen kann, in die Alabama Hall of Fame aufgenommen wurde und zahlreiche Filmsongs geschrieben hat. Ihre musikalischen Einflüsse pendeln dabei auf der ganzen Bandbreite von Cole Porter, über Sting und Paul Simon, Joni Mitchell, Ella Fitzgerald, den Songs der Countryszene und der Musik des amerikanischen Südens. Diese Einflüsse jedoch gibt sie nicht als Gemisch allseits bekannter Zutaten wieder. Auf der CD "Look" gelingt Beth Nielsen Chapman das Wunder mit einer klaren Stimme aus zum Teil bitteren Lebenserfahrungen einfache und eingängige Songs zu schreiben, in denen eine nicht zu überhörende Hoffnung mitschwingt.
Kontakt zum Label: info@sanctuarygroup.de
Karsten Rube


Zezo Ribeiro/Chico César "Brincadeira
Label: Nubenegra; LC-12703; 12 Tracks Brasilien/Spanien 2004
Chico César gilt als einer der wichtigsten Vertreter der nachgewachsenen Generation innerhalb der MPB: Musica Popular do Brasil. Als kleiner Prinz von Bahia trat er zusammen mit Gilberto Gil auf, einem seiner wichtigsten Förderer. Der flippige Musiker Chico César, dessen seltsame Frisur ihm diverse Spitznamen einbrachte, hat in Brasilien bereits Songs veröffentlicht, die ins Mitsinggedächtnis eines musikalischen Volkes vereinnahmt wurden, das populäre Popsongs schnell zu Volksliedern macht. Chico Cesár hat sich mit dem Gitarristen Zezo Ribeiro zusammengetan. Zezo Ribeiro ist unermüdlich auf der Suche nach passendem stilistischen Ausdrucksmöglichkeiten auf seiner Gitarre. Er lernte bei John Scofield, studierte Flamenco in Spanien und sucht die traditionellen Elemente seiner Heimat Brasilien zu integrieren. Die Kombination der Hitmaschine Chico César und dem Schöpfen aus dem von musikalischen Inspirationen überlaufenden Topf Zezo Ribeiros entstand "Brincadeira", was "Scherzen" oder "Herumalbern" bedeutet. Doch es ist mehr als eine launige CD. "Veia" ist ein fröhlich ansteckendes Lied. "Noites de Junho" kurz und so typisch brasilianisch, dass es wie eine alte Bekannte aus der MPB wirkt. "Drible" hat die schmelzige Trägheit Caetano Velosos inhaliert. "Brincadera" ist genau die Musik für einen Sommer, auf den man lange Warten musste und der zögerlich doch noch einer geworden ist.
Kontakt zum Label: nubrenegra@nubrenegra.com
Karsten Rube


David Roth "Pearl Diver"
Label: Stockfisch Records; LC04910; 13 Tracks; 57:14 min; USA/Deutschland 2004
Das etwas andere Amerika, jenes, welches sich nicht Aufmerksamkeit erheischend vordrängelt, ist ein wenig schwer zu finden. Leise, poetische Töne dieses unaufdringlichen Teils des amerikanischen Bewusstseins finden sich auf der CD "Pearl Diver" des Sängers und Gitarristen David Roth.
Die Songs, die er im Laufe der Jahre geschrieben hat, wurden nun bei Stockfisch-Records in Deutschland eingespielt.
"Pearl Diver" ist dabei ein klug gewählter Titel, denn tatsächlich sollte man schon tief in die Lieder von David Roth eintauchen. Seine sanfte, ins Sentimentale kippende Stimme lässt jedes Wort emotional und ehrlich klingen. Er passt sich darin ein in eine Tradition von Song- Writern, die ihre Lieder mehr als Träger ihrer Gefühlswelt verstehen, denn als Mittel zur Agitation und gehört somit in eine Reihe mit den Guthries, John Denver, Dan Fogelberg oder auch Don McLean, von dem der Song "Vincent" stammt, der auf CD zu finden ist. Seine Texte sind Geschichten aus der Realität, doch wirken sie in ihrer Vortragsweise, wie kleine poetische Wunderwerke, Perlen eben, die man nur findet, wenn man nach ihnen taucht.
Kontakt zum Label: info@stockfisch-records.de
Karsten Rube


Ennio Morricone & Dulce Pontes "Focus"
Label: Universal Music LC01846; 2003 15 Tracks; 64:20
Wenn sich zwei große internationale Künstler zusammentun, heißt das, dass zwangsläufig etwas Enormes dabei Zustandekommt? Wenn ich mir die CD "Focus" anhöre, die den genialen Filmkomponisten Ennio Morricone mit der wunderbaren portugiesischen Sängerin Dulce Pontes zusammengeführt hat, frage ich mich, ob nicht schon im Vorfeld Freunde davon hätten abraten sollen. Wahrscheinlich hat sich wieder keiner getraut. Die Kompositionen Morricones sind Meilensteine der Filmgeschichte. Sie sind mit ihren einzigartigen Melodien für viele Menschen akustische Erinnerungstropfen an großartige Filme.
Auszüge aus Morricones musikalischen Themen genügen, um an Empfindungen erinnert zu werden, die einen während der Filme erreichten, welche er musikalisch untermalte. Doch häufig besitzen Soundtracks den Makel, dass sie, um die Verkaufszahlen zu steigern, das musikalische Thema eines Filmes am Ende des Soundtracks noch einmal mit einem Gesangsstar zu verwursten. Auf "Out of Africa" tauchte am Ende Al Jarreau auf, im "Russia House" singt plötzlich Patti Austin auf der CD mit - im Film zum Glück nicht. Es gibt noch einige böse Beispiele, die ich mir jetzt spare. Auf der vorliegenden CD "Focus" scheint Morricone auf die Idee gekommen zu sein, diese Entgleisung als Motto über die Produktion zu erheben. Und so klingt denn die ganze CD wie ein zu heiß aufgebackener Toast der alten Erfolgsnummern. Die CD ist überambitioniert und Dulce Pontes reist innerhalb ihrer enormen stimmlichem Möglichkeiten bis an ihre Grenzen, die sie zwar nicht überschreitet - aber sie ist nahe dran. Dulce Pontes schreit zuweilen, vielleicht um die recht träge eingespielten Songs aufzupusten. Doch leider gelingt ihr nur, dass man ihr selbst als eingeschriebener Fan nicht mehr zuhören mag. Da höre ich mir lieber Morricones alten Originale an oder Dulce Pontes eigene Produktionen und genieße dabei jene Perfektion, von der auf "Focus" kaum etwas zu spüren ist.
Kontakt: info.morricone@mclink.it
Karsten Rube


Shura Lipovsky "Heroes and Poets"
Label: Extraplatte; EX-ED 007; 2003; Spielzeit: 50:53 min
Die Geschichte des jüdischen Volkes ist u.a. auch eine Geschichte des Leidens (-> FW#27), die nicht zuletzt ihren schauerlichen Höhepunkt im Weltkrieg gefunden hat (-> FW#28). Am 19. April 1943 revoltierte das Warschauer Ghetto gegen die Nazi-Okkupation, wie es in der Ballade heisst: Yidn shteyen oyf kegn barbarn. Und weiter: Fun hertser broyzt a fayer, genug undz gekoylet vi shof, oy yidn nemt di shpayers, un kumt, lomir makhn a sof. Während der Zeit des Terrors fuhren Dichter und Komponisten fort, die Geschehnisse mit Hilfe jiddischer Lieder zu beschreiben (-> FW#21). Vielleicht mit dem Ziel, niemals den Mut aufzugeben und eine Botschaft der Hoffnung gegen den Schrecken zu stellen. (Der kanadische Jude Leonard Cohen hatte einst die Idee, dass die Nazis durch Musik besiegt worden waren.)
Fünfzig Jahre später fand in der Warschauer Philharmonie das offizielle Gedenkkonzert statt und wiederum ein Jahrzehnt später liegt das denkwürdige Konzert als CD vor. Welcher Produzent ist daran interessiert?, frug sich Shura Lipovsky. Es ist natürlich keine CD, die man bei einem gemütlichen Kaminfeuer, einem Glas Wein zusammen mit der Liebsten auf dem Sofa anhört und genießt. Mein Plattenlabel in Amerika wollte nicht. Sie hatten Angst, dass die CD, weil sie nicht unterhaltsam ist, nicht läuft. Shura Lipovsky will nicht nur erzählen, wie Juden gelitten haben. Ich will erreichen, dass wir nicht deprimiert bleiben. Wir sind erschüttert, das so etwas möglich war. Ich glaube, dass die Erschütterung über die eigenen Seiten auch ein Grund zur Hoffnung ist. Die Hoffnung, dass so etwas nie wieder vorkommt. Ben-Gurion sagte einmal: "Wer nicht an Wunder glaubt, ist kein Realist."
Das "Shura Lipovsky Trio" besteht neben der in den Niederlanden beheimateten Sängerin aus Zalmen Mlotek am Klavier und Jeff Warschauer an Mandoline und Gitarre. Jeff Warschauer ist bekannt als langjähriges Mitglied der Klezmer Conservatory Band und Zalmen Mlotek kann auf eine lange Musik- und Theater-Karriere in Zusammenhang mit jüdischer Musik zurücksehen. Das Repertoire des Warschauer Ghetto-Aufstandes hat mehr als die wohlbekannten "Shtil di nakht iz oysgeshternt" und "Zog nit keyn mol az du geyst dem letstn veg" von Hirsch Glik (1922-44) aufzuweisen. Da gibt es z.B. "Shifrales portret" von Mordechaj Gebirtig (1877-1942), dem Komponisten einer ganzen Reihe von berühmten jiddischen Liedern. Die Melodie von "Tsu eyns, tsvey, dray", Text von Leyb Rosenthal (1916-45), dürfte vielen bekannt sein; es handelt sich nämlich um das "Einheitsfrontlied" von Eisler. Und eins darf nicht fehlen, das von allen Klezmer-Gruppen gespielte Instrumentalstück "Gasn-nign" (-> FW#21, FW#22, FW#22), das auch im Warschau vor dem Krieg eine populäre Melodie gewesen ist.
Wir dürfen einen Blick erhaschen auf eine Welt, die nicht mehr ist: die Welt der jüdischen Shtetl im Ost-Europa in der ersten Hälfte des 20. Jhds. im allgemeinen und die Welt des Warschauer Ghetto-Aufstandes im besonderen. Es ist unsere inbrünstigste Hoffnung, dass diese CD nicht nur Ausdruck dieses Kampfes sein wird, sondern als eine Botschaft, die uns alle bittet, jede Nation und jedes Volk, Minderheit oder Mehrheit, mit Respekt, Interesse und Staunen zu betrachten, sagt Shura Lipovsky. Harmonie ist nicht umsonst ein Wort aus der Musik und Harmonie ist das schönste Wort für Frieden.
Extraplatte; Dt. Vertrieb: Sunny Moon
Walkin' T:-)M


Bilwesz "Hardigatti"
Label: Extraplatte; EX 589-2; 2004; Spielzeit: 51:16 min
Kabarettist Richard Rogler bemerkte einmal launig: Bei der Fußball-WM habe ich mir Österreich gegen Kamerun angeschaut. Auf der einen Seite Exoten, fremde Kultur, wilde Riten - auf der anderen Seite Kamerun. Umgekehrt scheint es manchmal dem Alpenstaatler genauso mit der Piefkei zu ergehen. Aber wir wissen ja, dass der clash of cultures gerade musikalisch immer sehr befruchtend ist. Jedenfalls kann man dies für das Duo Bilwesz bescheinigen, bestehend aus der Greifswälder Harfenistin Merit Zloch und dem Wiener Drehleierspieler Simon Wascher. Simon spielt seit Jahren traditionelle Musik und hat zudem viele Jahre das Bordunmusik-Festival in Kremsmünster organisiert. Merit ist vor allem in der traditionellen Musik der Ostseeregion beheimatet und es ist ihr nachdrücklichstes Anliegen, der Harfe den Platz in der Tanzmusik zurückzuerobern. Nicht zuletzt mit der musikalischen Überfliegerband Malbrook (-> FW#26, FW#28). Als Simon Merit zum ersten Mal kennenlernte, musste er seine Vorurteile über die Harfe gehörig revidieren: Endlich eine Harfenspielerin, die man wirklich hört, und dann spielt die auch noch so geile Grooves. Zu diesem umtriebigen Duo füge man noch die Gastmusiker Matthias Branschke (Schäferpfeife, Säckpipa -> FW#19), Stefan Straubinger (Konzertina), Laurenz Schiffermüller (Perkussion) und hinter dem Mischpult Matthias Loibner (-> FW#18) hinzu und fertig ist ein dream team der Bordunmusik, das 13 Titel in einem Wiener Heurigenkeller eingespielt hat. Die Stücke auf dem Album "Hardigatti" stammen aus wenig bekannten Notenhandschriften des vorwiegend 19. Jhds., hauptsächlich im Alpenland, einmal jeweils auch in Mecklenburg und Thüringen gesammelt. Die Stücke sind zeitgemäß arrangiert, machen aber aufgrund der Instrumentation einen viel älteren Eindruck. Dies dürfte wohl auch den Tatsachen entsprechen, wie das mindestens ins 17. Jhd., aber wahrscheinlich noch viel älter datierbare "Es geht wol zu der Sommerzeit". Und letzterer Titel beschreibt - wenn man ihn etwas mißinterpretiert - genau die Gefühle, die das Album augenblicklich in mir hervorruft.
Extraplatte
Walkin' T:-)M


Lúnasa "The Kinnitty Sessions"
Label: Compass; 7 4377 2; 2004; Spielzeit: 40:32 min
Wer heutzutage wissen will, was der state of the art in der traditionellen irischen Musik ist, der kann an Lúnasa (-> FW#5, FW#12, FW#21, FW#24, FW#26, FW #27) nicht vorübergehen. Ganz im Gegenteil, liefert doch kaum eine akustische Band einen besseren Eindruck, wie zu Beginn des 21. Jhds. traditionelle mit zeitgemäßen Musikformen verbunden werden, ohne das eine gegen das anderer auszuspielen oder zu verraten. Das 5. Album der Gruppe wurde im Dezember 2003 live vor auserwähltem Publikum in den Gemäuern des Kinnitty Castle aufgenommen. Das gotische Schloss liegt am Fuß der Slieve Bloom Mountains in der mittelirischen Grafschaft Offaly, vielleicht anderteinhalb Stunden von Dublin entfernt. Die ältesten Gebäudeteile datieren aus dem 12. Jhd., heute ist Kinnitty Castle ein Luxushotel für die etwas betuchteren Irlandreisenden. Die dazu passende Auserlesenheit und Noblesse Lunasas ist in den elf Instrumentalsets zu spüren. Die "Kinnitty Sessions" erinnern ein wenig an das phänomenale Erstwerk von 1998, aber mit einer gewissen Leichtigkeit, die man sich erst im Laufe der Jahre erspielt hat. In den alten Gemäuern gibt es natürlich einen Schlossgeist. Der schwarzgekleidete Mönch ist in der Lage, in die Zukunft zu sehen, und gibt seine Voraussagen durch das Personal bekannt. Fragt man dieses nach dem Lunasa-Konzert, so ist zu hören: Da ist noch mehr drin! Oder um zu kalauern: Offaly - it's awfully nice!
Compass Records
Walkin' T:-)M


Norland Wind "From Shore to Shore"
Label: Laika; 3510191.2; 2004; Spielzeit: 63:56 min
Das aktuelle Album von Norland Wind (-> FW#3, FW#7, FW#22, FW#28) ist live während der 2003er-Tournee aufgenommen worden, das die deutsch-irische Formation von shore to shore brachte (-> FW#26). Das 7-köpfige Ensemble um den Harfenisten Thomas Loefke bestand aus Kerstin Blodig (Gitarre, Gesang -> FW#21), Maire Breatnach (Geige, Gesang -> FW#25), Ian Melrose (Gitarre, Low Whistle -> FW#22), Matthias Kießling (Keyboards -> FW#28) sowie Noel Duggan (Gitarre, Gesang) und Padraig Duggan (Mandoline, Perkussion), besser bekannt als ehemalige Mitglieder von Clannad (-> FW#6). Thomas spielt seine aparten Harfenmelodien; die Bandmitglieder tragen einerseits ihren Teil zum Gruppensound bei und bekommen andererseits viel Gelegenheit, ihre eigenen Seiten zu präsentieren: Die Duggans tragen "Gleanntain Ghlas Ghaoth Dobhair" vor, eine Hommage an ihre Heimatregion im County Donegal. Die Melodie ist das bekannte "Paddy's Green Shamrock Shore" (-> FW#23), der gälische Text stammt von Proinsias Ó Maonaoigh, dem Vater der Frontfrau von Altan (-> FW#2). Kerstin Blodig ist leider mit keiner ihrer skandinavischen Balladen vertreten, die sie auch bei Norland Wind im Programm hat (siehe dazu den Bericht über den Venner Folkfrühling in dieser FW-Ausgabe), stattdessen mit einem selbstverfassten schottischen "Waulking Song" und den gälisch-sprachigen "An Cailín Deas Rua" und "Máire Bhruinneall". Auch Marie Breathnach singt eine gälische Ballade, diesmal aus eigener Feder, "Éist", und fiddelt ihre eigenen Instrumentalkompositionen; Ian Melrose ist mit einem Jig auf der Whistle vertreten. "From Shore to Shore" friert damit einen kurzen Augenblick im Dasein eines der dauerhaftesten keltischen Ensembles in diesem Lande ein.
Laika Records
Walkin' T:-)M


Hans Söllner + Bayaman'Sissdem "Oiwei I"
Label: Trikont; US-0321; 2004; Spielzeit: 65:40 min
Eines bayrischen Protestsängers Lebenslauf, Jahrgang 1955: Nach einem 3/4 Jahr schweren Diezl-Entzugs (d.i. Schnuller) im Kindergarten fand ich mich für den Rest meines Lebens damit ab, daß man mit diesen Leuten nicht diskutieren kann. Im 14. Lebensjahr wurde ich in Anbetracht meiner immer länger werdenden Haare aus dem Trachtenverein ausgestoßen und muß seither mein Leben alleine fristen. Die Arbeitslosigkeit schenkte ihm das erste Lied: "Endlich eine Arbeit." Nachdem ich Jahre damit verbrachte auf einer geschenkten Gitarre vier Griffe zu erlernen, begann ich genauso mittelmäßig zu mittelmäßigem Gitarrenspiel zu singen. Im Urlaub auf Jamaika machte er Bekanntschaft mit Rasta, Reggae und Marie Johanna. Durch meine mir angeborene gärtnerische Begabung und meine Liebe zur Natur, gelang es mir sehr bald, diese Pflanze in Deutschland zu kultivieren. Vor allem, da er alle Drogen verabscheut, besonders die im Handel erhältlichen, wie z.B. Alkohol, Lösungsmittel, Patex usw.
Die Rede ist von der Sau von Berchtesgaden, mit bürgerlichem Namen Söllner, Hans (-> FW#13, FW#14) genannt. Der Schrecken des bayrischen Amigo-Establishments und aller ehrbaren und gottesfürchtigen Bürger und Bürgerinnen nimmt wieder kein Blatt vor den Mund. "A Drecksau is a Drecksau", heisst es resigniert-provokativ. Es gibt gelegentlich aber auch lieblichere Töne. Söllner, der lange Zeit solo unterwegs gewesen ist, hat sich mittlerweile eine veritable Combo zugelegt (es gibt ja auch vermehrt Klampfen-Konkurrenz, siehe die Weiherer-Rezension unten). Das "Bayaman'Sissdem" steuert Akkordeon, Keyboard, Gitarre, Bass und Schlagzeug bei und statt Klampfen-Folk gibt es dann schon mal einen Reggae oder einen Country-Walzer.
Erst unlängst im Mai ist Söllner von angeblicher Beleidigung aufgrund der Textzeile früher hams Hitler geheissen und Himmler, heute heissens Haider und Beckstein freigesprochen worden. Der zuständige Richter begründete: Die fraglichen Zeilen sind für sich allein beleidigend. Aber im Gesamtzusammenhang des ganzen Lieds fällt es unter die Kunstfreiheit und ist nicht beleidigend. Die Ausländerpolitik des Herrn Beckstein war früher objektiv geeignet, Ausländerfeindlichkeit in einem Teil der Bevölkerung zu schüren, obwohl dies sicher nicht die Absicht des Herrn Beckstein war.
Trikont; Vertrieb: Indigo
Walkin' T:-)M


Weiherer "Scheiß da Hund"
Label: GoodLife Records; PV 1089; 2004; Spielzeit: 64:37 min
Im Gegensatz zu Herrn Söllner (s.o.) hat sich der 24jährige Christoph Weiherer (-> FW#26, FW#27) bislang ohne größere Skandale durchs Leben geschmuggelt. Dabei hat der niederbayrische Polit-Barde nicht weniger Kritisches zum Sissdem anzumerken, und er ist drum nicht öfter Gast in Radio und TV. (In diesem Jahr erhielt er allerdings eine Nomination für den Deutschen Folkpreis RUTH in der Kategorie Newcomer -> FW#28.) Abseits jeglichem modernen Liedermachertums schert sich der Weiherer um keine Trends und ist jeglicher oberflächlicher Comedy fremd, die in dieser Zeit auch musikalisch so oft die Ohren verklebt. Mit knochentrockenem Humor spielt er unaufdringlich seine Gitarre und sagt und singt einfach, was ihn stört. Es gibt eine Neuauflage von "Eia Sissdem" ("Euer System", wie man nördlich des Weisswurst-Äquators sagt), das schon auf der CD "Fährmann" vertreten war. Diesmal hat er jedoch Akkordeon und Bass dazu eingespielt und verortet sich damit nicht nur sprachlich, sondern auch musikalisch, noch mehr in seiner bayrischen Heimat. Der Weiherer scheint mir die zeitgemäße Nachfolge von Degenhardt (-> FW#23), Wader (-> FW#20) und Co. angetreten zu haben. Zeitgemäß? Ach geh, zeitlos wie alles originelle Liedgut. Ich bin so wie ich bin und auf alles andere scheisst der Hund.
Vertrieb: Pängg
Walkin' T:-)M


Adaro "Schlaraffenland"
Label: Tempus Fugit; 6 93723 60672 9; 2004; Spielzeit: 53:49 min
Das legendäre Schlaraffenland, so heisst es in dem Text von Hans Sachs, ist ein fernes Land, in das man nur gelangt, indem man sich vorher durch einen Berg von Reisbrei hindurchfrisst. Die Häuser sind aus Braten gebaut, die Dächer mit Pfannkuchen gedeckt, aus den Brünnen fließt Wein, Hühner und Gänse fliegen den Hungrigen geradewegs gebraten in den Mund hinein. Dies veranlasst die Band zu dem Kommentar: Dort gilt damals wie heute: Der Faulste wird König, ein Furz bringt bares Geld. Faul ist Adaro (-> FW#2, FW#10) jedenfalls nicht geworden. Die Deutsch-Folk-Rocker sind rockiger denn je, aber sie sind nicht ganz so heftig wie In Extremo (-> FW#25, FW#27) und nicht ganz so mittelalterlich wie Corvus Corax (-> FW#18, FW#22); sie haben sich nicht ganz so weit von den Roots entfernt wie Subway to Sally (-> FW#27) und dreschen nicht ganz so abgedroschene Phrasen wie Schandmaul (-> FW#23). Christoph Pelgen (Gesang, Dudelsäcke), Konstanze Kulinsky (Gesang, Drehleier), Jürgen Treyz (Gitarre), Henrik Mumm (Bass) und Jörg Bielfeldt (Schlagzeug) sowie die Gäste Gudrun Walther (Geige -> FW#18, FW#24, FW#27), die zusammen mit Jürgen Treyz auch bei Cara spielt (siehe CD-Rezension unten), und Herbert Wachter (Rahmentrommel) spielen Poprock mit Mittelalterflair. Die Eigenkompositionen auf Texte des Nürnberger Meistersängers Sachs (1494-1576), von Oswald von Wolkenstein (1377-1445) und Reinmar von Hagenau (1160/70- 1210) sind kein zarter Minnesang, sondern vielmehr Melodeien für geprellte Freier: Acht nicht auf der Pfaffen Ruf: Sie sprechent, Minn sei Sünde. Gott beschuf mit seiner Hand den Nagel zu der Rinnen. Also nicht Guten Appetit!, sondern Haut rein!
Label/Vertrieb: Tempus Fugit/Inside Out
Walkin' T:-)M


Cara "In Colour"
Label: Artes; ARCD3036; 2004; Spielzeit: 63:57 min
Von null auf hundert. Nun ja, nicht ganz, schließlich sind alle Mitwirkenden in der deutsch-irischen Szene nicht ganz unbekannt. Aber die Zusammensetzung ist neu - und spannend hinzu. Cara (gälisch für Freund) ist entstanden als Weiterentwicklung des King-Walther-Treyz-Trios (-> FW#20) und des sog. Session Projects (-> FW#22). Der Gesang von Gudrun Walther (More Maids -> FW#18, FW#24, FW#27) und Sandra Gunkel (-> FW#24) harmoniert aufs Beste bei traditionell klingenden Balladen, die aber mit neuen, eigenen Melodien versehen worden oder aber ganz - auch textlich - auf dem eigenen Mist gewachsen sind. Zudem spielen beide Fiddle, Flöte und Piano. Dazu kommen noch Claus Steinort (Flöte, Konzertina -> FW#12, FW#17, FW#24), Jürgen Treyz (Gitarrist von Adaro, s.o.) und Rolf Wagels (Bodhran). Die Instrumentalstücke sind sowohl traditionell als auch selbstverfasst und spannen einen musikalischen Bogen von Irland und Schottland über die Bretagne bis ins keltische Galizien. Einfach schön.
Artes Records
Walkin' T:-)M


Morris Open "Seasons"
Label: Eigenverlag; o.J.; Spielzeit: 55:08 min
Der Morris Dance ist von maurisch abgeleitet und war im 15. Jhd. der am weitesten verbreitete Tanz in Europa. Heute ist er nur noch im ländlichem England beheimatet und wird auch weithin als eine typisch englische Aktivität angesehen. Der Morris ist grundsätzlich ein ritueller Fruchtbarkeitstanz und wird eigentlich hauptsächlich im Frühjahr praktiziert, die Düsseldorfer Gruppe Morris Open nimmt uns jedoch auf eine musikalische Reise durch alle vier Jahreszeiten. Ulrike von Weiß (Gesang, Synthesizer), Claus von Weiß (Gesang, Gitarre, Cittern, Whistle, Pipe & Tabor, Harmonika) und Matthias Höhn (Gesang, Dudelsäcke, Concertina, Mandoline, Flöte, Rankett) spielen Popmusik aus dem alten England, nicht nur typischen Morris und die typisch englischen Carols und Wassails, sondern das gesamte Spektrum traditioneller Musikformen der Britischen Inseln (und zuweilen der irischen Nachbarinsel): Jigs, Reels, traditionelle Balladen, gelegentlich aus eigener Fabrikation. Das Booklet ist ansprechend aufgemacht und ausser den Liedtexten auch mit launigen Erläuterungen versehen. So heisst es über "Rosebud in June": There was a nasty verse in it about eating their flash [sheep], which we changed into a cheesy vegetarian version, yum. So absolutely no sheep were hurt during the singing of this song. Und über "The Blacksmith": This really goes too far: With his hammer in his hand he looked so clever. Come on, that's like watching Rambo for the great dialogues. "Seasons" ist eine nicht unbedingt zum Tanz einladende Platte, aber eine vergnügliche musikalische Reise durch das Jahr.
Morris Open
Walkin' T:-)M


Budweis - Wunderlich "Frisbee Rhodopsko"
Label: Eigenverlag; 15 Tracks; 49:39 min; Deutschland; 2004
Jan Budweis und Bettina Wunderlich konnten bisher auf vielfältige Weise ihr musikalisches Können unter Beweis stellen. Ihre Lebensläufe zählen Auftritte in verschiedenen Kombinationen auf. Combo, Orchester etc.. Nachdem sie vor wenigen Jahren unter Beteiligung von Wolfgang Meyering mit Veranda ein sehr eigenständiges Acustic- music-Trio formierten, haben sie sich nun auf ein sparsames Duo reduziert und das auf CD gebrannt, was sie musikalisch seit Jahren vereint: Spaß am Musizieren verspielter Tänze aus aller Herren Länder und Experimentieren mit traditionellen Rhythmen. Jan Budweis beweist sich nicht nur einmal mehr als virtuoser Handhaber seines diatonischen Akkordeons, sondern auch als Komponist einiger der eingängigsten Stücke der CD, während Bettina Wunderlich, die ebenfalls Kompositionen beitrug, mit ihrer Querflöte Melodien zu zaubern vermag, die sich geschickt zwischen Folk, Jazz und klassischen Elementen hindurchschlängeln, von allem etwas, aber nie soviel, dass sie von einer Sparte vereinnahmt werden könnte. Verspielt und experimentierfreudig gibt sich das Duo, wie man auch bei der Namenswahl für ihre Titel sieht und noch mehr, bei den dazugehörigen Erklärungen. Wer schließlich die Herkunft der Lieder oder die Inspirationen der Eigenkompositionen näher betrachtet, die auf französische, balkantypische, skandinavische und jüdische Wurzeln gleichermaßen zurückgreifen, verspürt die selbe Unruhe, die er beim Hören der Musik empfinden wird. Etwas von zigeunerhaftem Umherstreifen steckt den Hörer an. Reiselust und Freude am Eintauchen in Kulturen, die der unsrigen nur auf dem ersten Blick fremd erscheinen, überkommen den Hörer. Und obwohl Budweis und Wunderlich musikalisch einmal kreuz und quer durch Europa tanzen, fühlt man sich beim Hören der Musik auf eine sehr umfassende Weise Zuhause.
Band/Musiker-Homepage: www.budweis-wunderlich.de, Kontakt: maja-b.trio@web.de
Karsten Rube


Alasdair Fraser & Natalie Haas "Fire & Grace"
Label: Culburnie Records Cul121 / Greentrax Records; 13 Tracks; 65:02 min; Schottland; 2004
Die Geige ist in der keltischen, zumal in der schottischen Musik so selbstverständlich, wie der Dudelsack. Das Cello hingegen besitzt in der Folkmusik eher den Charakter eines Exoten. Eine Art Gast aus der gehobenen klassischen Gesellschaft, der sich höchst selten in die bodenständigen Kreise verirrt. Die Offiziere des klassischen Orchesters, wie sich die Cellisten gern selbst verstehen, lassen sich zwar gern auf einen Tango ein, doch als Kneipenmusiker dürften sie eine echte Rarität sein. Der Wundergeiger Alasdair Fraser, Schottlands Magic String schlechthin, kümmert sich wenig um solche Beschränkungen und holte sich die junge Cellistin Natalie Hass in Studio. Er suchte sich ein paar der gängigeren schottischen Melodien raus, arrangierte sie so, dass er selbst die Melodie führen konnte, während das Cello von Natalie Hass auf unglaubliche Weise zum Rhythmusinstrument wurde. An wenigen Stellen darf sie auch selbst die Melodie führen, dann schnurrt ihr Bogen über die Saiten, tief und samten, wie bei "Prince Charles last View of Scotland". Das ist der Moment, in der nicht die Klassik in die Kneipe kommt, sondern die Folkmusik zur Kammermusik geadelt wird. Zunächst klingt das Album, als spielte das Duo nur das sich steigernde Intro für eine später einsetzende Folkkapelle, doch dann entwickelt dieses Wechselspiel der beiden Streicher eine solche Eigendynamic, dass man das Fehlen weiterer Instrumente nur begrüßen kann. "Fire and grace" nennen sie ihr Album, was zunächst an das legendäre Album "Passion, Grace and Fire" der drei Gitarristen Meola, Laughlin und Paco de Lucia erinnert. Im Falle Fraser/Haas verkörpert Fraser das Feuer und Natalie Haas die Grazie. Die Leidenschaft mag zwar im Titel fehlen, doch Passion ist das Bindeglied, das unerwähnt diese beiden Musiker zusammenführte. Ein beeindruckendes Beispiel virtuoser Spielfreude auf zwei meisterhaft beherrschten Streichinstrumenten.
Kontakt zum Label: greentrax@aol.com
Karsten Rube


The Irish Folk Festival 04 "Celtic legends"
Label: Magnetic Music; MMR CD 1039; 2004; Spielzeit: 69.39 min
Alle Jahre wieder... So oder ähnlich könnte man die Besprechung einer CD zur Irish Folk Festival Tournee durch Deutschland (und die Schweiz) beginnen. Das diese Institution nun wirklich schon 30 Jahre existiert ist unglaublich. Somit wünsche ich zuerst mal: Herzlichen Glückwunsch - die Geburtstagsfeiern finden in den nächsten Monaten an vielen Orten in Deutschland statt, an denen das Festival Station macht.
Die Tour ist mit dem Untertitel versehen Celtic Legends (das schreckliche Modewort Celtic musste wohl verwendet werden, da neben den zu erwartenden Iren auch noch Carlos Nunez mit seiner Band auf das Festival kommt). So und damit sind wir ja schon bei der Besetzung der diesjährigen Tour: Neben dem genialen Gaitero und Flötenspieler Carlos Nunez aus der nordwestlichsten Ecke Spaniens hat Petr Pandula direkt noch einen zweiten Heavyweight verpflichtet, dieser Gruppe wird gerne das Prädikat supergroup verliehen. Solas besteht aus Iren von beiden Seiten des Atlantiks. Vervollständigt wird die Tour durch den alten archaischen Balladen Sänger Jim Hayes und dem Donegal duo Ian Smith & Steohen Campbell.
Jeder der vier Gruppen ist mit vier Stücken auf dem Album vertreten, Jim Hayes sogar mit fünf. Bis auf den spanischen Star haben alle Musiker und Gruppen zu dieser CD mit bislang unveröffentlichem Material beigetragen - diese gute alte Tradition macht die CDs der Festival Tour auch fuer die Leute interessant, die eigentlich von den einzelnen Musiker schon alles haben.
Viel Spass beim Feiern!
Festival-Homepage: www.irishfolkfestival.de, Kontakt: info@magnetic-music.com
Christian Moll


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Zum Inhalt der FolkWorld Nr. 29

© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 09/2004

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