FolkWorld Ausgabe 33 05/2007; Buchrezensionen von Walkin' T:-)M
Immer wieder mal ist verträumte, introvertierte Songwriter-Musik in. Sei es in der Rückkehr des Protestsongs, sei es in narrativen Formen, die Politisches mit Privatem verbinden, sei es der akustische Lo-Fi-Folk von Musikern aus dem Umfeld der Grunge-Musik. "Ein Großteil der Independent-Musik seit den 1990ern ist von dieser Schwermut geprägt, die sich in einer möglichst sanft und langsam gespielten Musik ausdrückt. Die norwegischen Kings of Convenience erklärten dies programmatisch zum Trend: Quiet is the new loud. Dies bedeutet einerseits, dass es ruhiger Musik nicht an Eindringlichkeit mangelt, aber auch, dass mit ihr nicht Neoromantik und Eskapismus gemeint sind, sondern dass ein ganz bestimmter zwischenmenschlicher Umgang vermittelt werden soll."
1982 kam der Songwriter Lach nach New York und spielte in den Folk-Clubs von Greenwich Village, in denen sich seit Dylans Zeiten nicht viel verändert hatte. Mit seinem aggressiven Gitarrenschlag und den vom Punk inspirierten Songs hatte Lach wenig Erfolg. Ich musste also meinen eigenen Club eröffnen, meine eigene Revolution starten, sagte er. Und: Wenn das Folk ist, dann mache ich Antifolk.
Das Sidewalk Café wurde eine regelmäßige Anlaufstelle für alle Arten von Songwritern. Suzanne Vega, Beck und Michelle Shocked (-> FW#27) begannen hier ihre Karrieren. Viele andere Künstler waren jedoch nicht besonders originell: eine alte, am klassischen Songwriting orientierte Szene, rasant vorgetragene Texte, Dylan auf 45 Umdrehungen, jedoch ohne große Variationen.
Erst um die Jahrtausendwende eroberte eine neue Generation von Musikern die Bühne, eine neue anarchistische Szene, die musikalisch keine Grenzen kannte und anerkannte.
Martin Büsser, Antifolk - Von Beck bis Adam Green. Ventil, Mainz, 2005, ISBN 3-931555-93-3, 141 S, €9,90. www.antifolk.net www.antifolkonline.com |
Martin Büssers Antifolk zeigt auf, dass Antifolk für Folk in etwa dasjenige ist, was Punk eine Generation zuvor für Rock gewesen war, die Rückkehr des Folk aus dem Geiste des Punk. Antifolk leitet sich von Folk ab. Es ist keine Bewegung gegen Folk, sondern eine, die den Folk modernisieren will, so wie Dylan sich 1965 gegen Spießigkeit und Dogmatismus innerhalb der damaligen Szene gerichtet hatte.
Jeffrey Lewis tritt bevorzugt in möglichst kleinen Räumen auf. Live zeigt er zu vielen seiner Songs so genante Videos, auf große Zeichenblöcke gezeichnete Comic-Strips, die seine Songs visuell untermalen. Daher bucht Lewis seine Konzerte von New York aus in Eigenregie, misstraut Managern und achtet darauf, stets in einer möglichst intimen Atmosphäre aufzutreten. "Don't Let Your Record Label Take You Out To Lunch", heißt ein warnender Songtitel. Jeglicher Kompromiss mit dem Markt bedeutet für ihn einen Verlust an Integrität.Es ist Outsider Music, die mit bescheidenem Gestus daherkommt. Und während die einen Adam Green als größten Songwriter seiner Generation feiern und gebetsmühlenhaft auf seine Verwandtschaft mit Kafkas Verlobter hinwiesen, wurde Green in der McDonalds Charts-Show auf Pro7 dem Format angemessen einfach nur als süßer Wuschelkopf aus New York angekündigt.
Die von vielen Antifolk-Musikern bewusst gewählte Schäbigkeit, mit der die Musiker zum Ausdruck bringen, dass sie gesellschaftlich nicht zu den Siegern des Systems gehören, können sich nur innerhalb eines intimen Kreises voll entfalten. Antifolk ist nicht für große Bühnen geeignet. Dies kann man als elitär bezeichnen, die Musiker würden es aber wohl eher familiär nennen.
Als kommerziell erfolgreicher Trend oder gar als neue Subkultur mit der Reichweite von Punk hat sich Antifolk dagegen nicht durchgesetzt. Die meisten Musiker vertreiben nach wie vor ihre selbst gebrannten CDs von New York aus auf dem eigenen Label. Warum also ein Buch über eine Szene schreiben, die noch marginal ist und sich anscheinend auch gar nicht um kommerziellen Erfolg bemüht? Doch Antifolk bedeutet weit mehr als nur einen Haufen begabter, aber meist unbekannter Liedermacher aus New York. Es ist ein Ausdruck unserer Zeit, der musikalisch vielleicht ungetrübteste Spiegel gesellschaftlicher Empfindungen am Beginn des neuen Jahrtausends. An dieser Szene lässt sich wie an kaum einer anderen ablesen, dass sich Musik und Musikmarkt im Umbruch befinden. Während die großen Plattenfirmen ihre ökonomische Krise beklagen, haben Musiker hier zu Eigeninitiative und Do-it-yourself zurückgefunden. Antifolk ist derzeit nur ein, wenn auch exemplarisches Beispiel für die Rückkehr des Folk, des Songs, des Bohéme-Lebensentwurfs, der intimen Musik und des Wunsches nach direkter Kommunikation mit dem Publikum.
Das Debüt der Moldy Peaches kam ausgerechnet am 11. September 2001 in die Plattenläden, inklusive dem Titel "New York City is like a Graveyard" mit Zeilen wie All the yuppies getting buried.
The world's all out of tune, hieß es, kaum waren die Bilder von den einstürzenden Türmen des World Trade Centers um die Welt gegangen. Dies nahm FolkWorld zum Anlass, den musikalischen Spuren nachzugehen, mit denen auf das grauselige Ereignis und den Nachfolgen bis zu Bushs Anti-Terror-Krieg reagiert wurde (FW#21, FW#22, FW#24).
Dietrich Helms & Thomas Phleps (Hg.), 9/11 - The world's all out of tune. Populäre Musik nach dem 11. September 2001. transcript, Beiträge zur Popularmusikforschung 32, Bielefeld, 2004, ISBN 3-89942-256-2, 211 S, €19,80. |
Unsere dreiteilige Lieder-Samlung erhielt den Titel "World's Out of Tune" nach dem Lied von Jeremy Borum. So ist auch der Titel des Sammelbandes 9/11 - The world's all out of tune von Dietrich Helms und Thomas Phleps. Die Beiträge entstammen Vorträgen, die im Oktober 2003 anlässlich der 14. Arbeitstagung des Arbeitskreises Studium Populärer Musik (ASPM) zum Schwerpunktthema "Populäre Musik nach dem 11. September 2001" gehalten worden sind.
Nach Auffassung von Martin Cloonan (in einem englisch-sprachigen Beitrag) geschahen unmittelbar nach dem 11. September drei Dinge: Erst einmal hätte es das Gefühl gegeben, dass Musik von keinerlei Bedeutung wäre. Zweitens seien bestimmte Musiken oder Lieder als unangemessene Reaktionen aufgefasst worden.
Das bekannteste Beispiel dafür ist die Liste der Radiokette Clear Channel, die 156 Titel aus der Rotation verbannt hatte, über Titel wie "I Go To Pieces", "It's Raining Men", "Another One Bites the Dust" und "Knocking on Heaven's Door" bis zu John Lennons "Imagine" und Cat Stevens "Peace Train". Folksänger John McCutcheon fragt in seinem Song "The List" ironisch, womit er die Schmach verdient habe, nicht auf der Liste zu erscheinen (-> FW#24).
Der Musiksender MTV gab zu Kriegsausbruch im Irak an seine Mitarbeiter aus, keine Musikvideos zu senden, die Soldaten, Kampfjets, Bomben, Aufstände und soziale Unruhen enthielten. Außerdem sollten alle Bezüge auf die Band B-52 konsequent vermieden werden. Sie wussten wohl nicht, dass der Name von einem Haarschnitt herstammt und nichts mit Bombern zu tun hat. Je näher der Irakkrieg rückte, umso hysterischer reagierten die Kriegsbefürworter gegen Kritiker und un-amerikanische Künstler: Familienmitglieder der Band Spearhead wurden von Armee-Offizieren bedroht, die Dixie Chicks boykottiert und ihre Platten verbrannt.
Musik war post-9/11 eben doch von Bedeutung. Die Musiker sollten sich kritiklos um das Sternenbanner scharen. Und dies, drittens, tat die Musikindustrie: Fundraiser, Benefizkonzerte, neue CDs mit patriotischer Musik. Nach dem Motto: where there is music, there is money. As corporate America had been attacked, so the response was corporate.
Der Rapper Canibus "Draft Me" gröhlte: Draft me! I wanna fight for my country, draft me and murder those monkeys. Er ist natürlich nicht selber losgezogen, genausowenig wie Paule McCartney: I will fight for the right to live in freedom, and anyone who wants to take it away will have to answer.
Susann Witt-Stahl (-> FW#22) stellt dar, wie sich die Popstars nach dem 11. September reihenweise mit dem Feldzug der USA gegen Afghanistan aktiv solidarisierten und sich zumindest für die Mobilisierung der Heimatfront zur Verfügung stellten. Bis zum 11. September genoss die Popmusik den Ruf des Friedensbotschafters, der im Stande war, Massenproteste gegen das 'Töten in Haufen' wenn auch nicht auszulösen, so doch mindestens ästhetisierend zu unterstützen. Nun wandte sie sich ab von Gewaltfreiheit, Friedensliebe und gesellschaftlicher Solidarität.
Sieht man jedoch einmal von zahlreichen, zum Teil erfolgreichen Songs ab, die auf der Patriotismus-Welle mitgeschwommen waren, aber auch von der weitaus geringeren Zahl kritischer Stimmen gegenüber der politischen Linie von George W. Bush, haben der 11. September und seine politischen Folgen keine weit reichenden Spuren im kommerziellen Popbetrieb hinterlassen. Es kam mitnichten zu einem Ende der Spaßgesellschaft. Das Thema, das die deutschen Medien neben dem Ausbruch des Irakkrieges am meisten beschäftigte, war der Casting-Wettbewerb "Deutschland sucht den Superstar". Dieses Nebeneinander spricht vielmehr für eine Kontinuität des Apolitischen, geradezu Ahistorisch-Redundanten innerhalb des kommerziellen Popbetriebs.
Die Welle des Patriotismus hat aber auch zu einer musikalischen Belebung des Undergrounds geführt, der sich explizit als ein anderes Amerika präsentiert. The Coup verweigerten jedem, der die US-Flagge trug, Zutritt zu ihren Konzerten. Public Enemy eröffneten ihre Shows mit einem Song namens "Son of a Bush". Der (klassische) Protestsong - den es ja immer noch gibt - kommt im Buch dagegen nicht vor, Songwriter wie David Rovics (-> FW#32) oder Stephan Smith (-> FW#31) werden nicht erwähnt.
Wobei sich eine politische Haltung nicht unbedingt in expliziten Song-Texten ausdrücken muss.
Während eine Band wie die Toten Hosen offen antifaschistische Songs in ihrem Repertoire hat und denoch nicht verhindern kann, dass sich auch Böhse-Onkelz-Fans im Publikum befinden, ist es Fugazi aufgrund zahlreicher außerhalb der Musik getroffener Entscheidungen gelungen, allen falschen Vereinnahmungen vorzubeugen. Die Band weigert sich seit nunmehr fünfzehn Jahren, mit der Musikindustrie zusammenzuarbeiten, bestimmt Auftrittsorte und Eintrittsorte weitgehend selbst, schaltet keine Anzeigen in kommerziellen Magazinen und tritt regelmäßig auf Benefizkonzerten - etwa im Rahmen der Seattle-Proteste - auf. Ihre Haltung ist unmissverständlich, obwohl sie keine dezidiert politische Nummer in ihrem Repertoire haben.
Also nix Neues unter der Sonne.
Hinter der banalen Weisheit, dass man auch schon vor 9/11 nicht zweimal in denselben Fluss steigen konnte, verbirgt sich eine andere Erkenntnis: Katastrophen sind Momente der Wende, der Umkehr. Nicht, dass man anschließend eine andere oder gar entgegengesetzte Richtung einschlüge. Es sind Zeitpunkte, in denen man sich umschaut, sich plötzlich der Gegenwart bewusst wird. Manches, so wurde mit dem Einsturz der Zwillingstürme deutlich, hatte schon lange vor 9/11 nicht mehr funktioniert, wie man es in der Wahrnehmung immer noch gern vorausgesetzt hatte. Wie Funny van Dannen in seinem Lied 11. September formulierte: Das soziale Klima war immer schon eigentlich viel zu kühl. Also ich hatte schon vor dem 11. September oft ein Scheißgefühl.
Das sagte Helms in einem anderen Werk, nämlich in Die Entdeckung des sozialkritischen Liedes. Das Buch beruht auf den Wortbeiträgen eines Symposiums, das anläßlich des 100. Geburtstags von Wolfgang Steinitz (-> FW#32) vor zwei Jahren auf dem TFF Rudolstadt (-> FW#31) veranstaltet worden ist.
Eckhard John (Hrsg.), Die Entdeckung des sozialkritischen Liedes - Zum 100. Geburtstag von Wolfgang Steinitz. Waxmann, Volksliedstudien Band 7, Münster, 2006, ISBN 3-8309-1655-8, 210 S, €19,90 (inkl. CD). |
Wolfgang Steinitz war für die Herausbildung eines neuen Volkslied-Verständnisses im 20. Jhd. ein entscheidender Wegbereiter.
Zunächst einmal war Steinitz' zweibändiges Kompendium mit Volksliedern demokratischen Charakters ein fundamentaler Gegenentwurf zu dem bis dahin vorherrschenden Volkslied-Veständnis, es war vor allem ein Gegenentwurf zu jener völkisch-rassistischen Volkslied-Ideologie, wie sie zu Zeiten des NS-Staates gehegt und gepflegt, gezüchtet und propagiert wurde.Ex-Folkländer Jürgen B. Wolff erinnert sich an seine
ersten unbeholfenen Recherchen in Sachen sangbarer deutscher Volkslieder. Da waren erschwerende Faktoren zuhauf: Was Westbands sangen, mochten wir nicht covern. Was als Schul- und Chorrepertoire sattsam bekannt war, sträubte sich von selbst. Und dann sollte sich Deutsches an der irischen Latte messen lassen. Gab es sie überhaupt, brachiale Sauflieder wie Wild Rover, Rebelsongs alias Roddy McCorley oder Schlachtenheuler vom Schlage der Enniskillen Dragoons?
Da trat der große Steinitz auf. Eine Begegnung der dritten Art. Er fiel sprichwörtlich vom Himmel und ward Sesam öffne dich, Bibel und Gral in einem. Für mich, dem sich Volkslied mit vogtländischer Einfalt verband (ei ja, ei ja, mei Vuglbeerbaam), war der Steinitz eine Ungeheuerlichkeit, eine Kampfansage. Nicht zu glauben, dass all diese großartigen ambitionierten Lieder im revolutionären Bewusstsein unseres sozialistischen Staates überhaupt nicht existierten, wo sie doch die Richtigkeit des Staatsbürgerkunde-Schulstoffes bewiesen: Das Volk wird zu allen Zeiten unterdrückt und ist zu allen Zeiten politisch und unermüdlich kreativ. Wie zur Bestätigung ningelte zu dieser profunden Erkenntnis Radio-DDR-weit das Rennsteiglied...
Hier lag gedruckt vor, was des Folkies Seele an Sangbarem tief innen fühlte. Schlichte kraftvolle Songs voll rührender Klarheit. Steinitz offerierte die Alternative zu Heino und Herbert Roth. Er gab der Szene in West und Ost ein verwertbares Repertoire, historisch glänzend aufbereitet, akrobatisch gratwandernd zwischen den ideologischen Fronten. Ihre objektive humanistische Sicht auf den Gegenstand vermochte aufgeklärte Geister in West und Ost gleichermaßen zu überzeugen. Weder diente sie sich plakativer DDR-Geschichtsklitterung an, noch nahm sie Rücksicht auf den Dornröschenschlaf gutsituierter Schöngeister in bundesdeutschen Volkskundelehrstühlen.
Das Volkslied gab uns, pathetisch gesprochen, eine Sprache in einer Zeit der Sprachlosigkeit. Biermann war weg, aber wir waren noch da. Von Zensoren umhegt. Verordneter Stillstand. Bestens geeignet, von einer so harmlosen Waffe wie dem Volkslied attackiert zu werden. Da riskierte niemand, wegen zersetzender Lyrik belangt zu werden. Denn Volkslied war die Kunst der unterdrückten Massen, ein Kuckucksei par excellence. Und mit dem Volkslied kehrte, ganz nebenbei, unsere, die deutsche Geschichte ins Bewusstsein zurück. Zu beiden Seiten [der Mauer] regte sich eine gemeinsame Kultur, spielten Gruppen beidseits des Limes dieselben Stücke, ohne einander zu kennen.
Bernhard Hanneken im Westen sieht das ähnlich:
Das nationale, bündische und folkloristische Liedgut war durch die Nationalsozialisten total korrumpiert worden. Das Volkslied wäre durchaus singbar gewesen, schließlich trug es an seiner Vergewaltigung durch die Nazis keine Schuld. Wenn man sich mit seinen Inhalten aueinandergesetzt, es sozusagen demokratisiert bzw. auch entnazifiziert hätte.
Drei Bereiche werden angesprochen: die Person Steinitz (durch seine Tochter), Steinitz als Inspirationsquelle für das deutsche Folkrevival der 1970er-Jahre, sowie gegenwartsbezogene Überlegungen zu oppositionellen Liedern im 20. Jhd. Ironie der Geschichte: zum jetzigen Zeitpunkt ist Deutschfolk so populär wie lange schon nicht mehr (-> FW#32, FW#33, FW#33). Nur Steinitz war weder Initiator noch Quelle davon. Noch einmal Bernhard Hanneken:
Was sich allerdings bei der Entwicklung vom Folk der siebziger Jahre zur heutigen Weltmusik geändert hat, ist die Stilistik. Moderne Klänge aus Rockinstrumentarium und Laptop gehören mittlerweile selbstverständlich zu einer möglichen Interpretation traditioneller Lieder und Melodien. Wobei in Deutschland zu bedauern ist, dass die Lieder aus dem Steinitz nicht an heutige Hörgewohnheiten angepasst worden sind. Wenn man noch eine Gruppe erlebt, die sie spielt, dann tut sie das in einer Adaption der Interpretationen von Folkländer und Zupfgeigenhansel, von Wacholder und Liederjan - also im Sound und Gestus der siebziger Jahre. Was wiederum nicht den Liedern anzulasten ist, sondern der Fantasielosigkeit der Musiker.
Ich springe zu einer anderen Persönlichkeit des vergangenen Jahrhunderts: Theodor Kramer! Der von der braunen Diktatur ins Exil getriebene österreichische Poet hatte immer Angst, vergessen zu werden.
Harald Hahn & David Fuhr, Lob der Verzweiflung - Lieder und Texte zu Gedichten von Theodor Kramer. ibidem, Stuttgart, 2006, ISBN 3-89821-659-4, 66 S, €22,80 (inkl. CD). |
Theodor Kramers Werk hat viele Facetten: das Bild seiner Heimat, die er mit scharfem Blick in immer größeren Kreisen durchwandert hat und die ihm als Vertriebener noch im fernen englischen Exil zum Weinen klar vor Augen stand, unendliche zarte Liebesgedichte und solche von deftiger Direktheit, alle Formen der Beziehung zwischen den Geschlechtern abdeckend. Denen, die ohne Stimme sind, hat er die seine geliehen. Stets fühlte er mit denen, die am Rande leben. Jenen aber, die ihn dafür mißachteten, hielt er stolz entgegen: Ich hoffe sehr, dass ich unter anderem ein Asphaltdichter bin, ein Kohlenrutscherdichter, ein Stundenhoteldichter, ein Fress- und Saufdichter!
In den letzten Jahren hat es mehrere Versuche gegeben, Kramers Werk zu vertonen (-> FW#33). Buch & CD Lob der Verzweiflung dokumentieren das Bühnenprogramm "Verfolgung - Exil - Widerstand und das pralle Leben" von Harald Hahn & David Fuhr. Die beiden Berliner haben zwei Dutzend Kramer-Texte vertont und sparsam und schlicht arrangiert. Im Mittelpunkt steht der politische Kramer, der für und über Verlierer, Arbeitslose und Trinker schrieb. Ein musikalischer Vorläufer der Ken Loach-Filme sozusagen.
In diesen Gedichten tauchen Menschen auf, über die sonst kaum Gedichte geschrieben werden: Metzger, Bäcker, Bauern, Glasbläser, Knechte, Mägde, Säufer, Blinde, Lahme, Bucklige, Huren und viele andere. Kurz: Es sind oft Gedichte für die, die ohne Stimme sind, andere sind gar für die ohne Gräber. Sie handeln von Not, Schmerz, Gewalt, Lust und Rausch, von dem zutiefst Menschlichen in allen seinen Aspekten und von Verfolgung, Angst, Vernichtung.
Das Büchlein enthält die Kramer-Gedichte plus ergänzende Texte von David Fuhr und Harald Hahn, Klaus Peter Möller (Kramer-Festival Burg Waldeck, Pfingsten 2003) Bertram Nickolays Reisebericht zum Geburtsort Kramers, sowie ein Vorwort von Erwin Chvojka. Es erspart allerdings den Konzertbesuch nicht, denn der frisch-agressive Auftritts-Stil lässt sich durch Buch und CD nicht wirklich vermitteln.
Daher sind die Interpretationen von Harald Hahn und David Fuhr (zum Glück) nicht hitparadenverdächtig und sie werden auch nicht jene Musikantenstadl beehren, in dem man vor Gemütlichkeit friert. Das Gegenmodell in Sachen Lebenskultur ist das Kramersche Wirtshaus. (B. Nickolay)
Vergangenes Jahr feierte das KlangWelten-Festival seinen 20. Geburtstag. Das wurde nicht nur mit der alljährlichen Festival-Tour begangen, sondern zudem mit dem opulenten Hör-Buch Klangwelten - 20 Jahre Dialog der Kulturen. Seit 1987 veranstaltet der Pfälzer Harfenist Rüdiger Oppermann, Oberzupfer und Drahtzieher der Harfenszene, die Festival-Tournee unter dem Motto: Der Utopie auf die Beine helfen! Erst vier Jahre lang mit dem Schwerpunkt auf spiritueller traditioneller Musik, dann zehn Jahre lang mit dem Schwerpunkt Harfe und seit 2000 wieder als multi-instrumentales Weltmusikfestival.
Das Buch enthält sechs CDs, auf denen die Höhepunkte aus zwanzig Jahren versammelt sind. 79 bisher unveröffentlichte Live-Mitschnitte: Gesang der Inuit-Frauen, tibetische Klangschalen, mongolische Pferdegeige und Obertongesang, chinesische Mundorgel und afrikanische Kora usw.
Rüdiger Oppermann, Klangwelten - 20 Jahre Dialog der Kulturen. Klangwelten, Baden-Baden, 2006, KW 20030, 215 S, € 79,- (inkl. 6 CDs). |
Mein erster Ausflug in die Grenzregion Kongo/Uganda war direkt von der Bogenharfe Adungu bestimmt. Ich suchte den Stamm der Alur. In der Vorbereitungszeit hatte ich mich natürlich schon in Europa kundig gemacht, wie diese Musik wohl klingt. Ich stieß dabei auf Aufnahmen (und auf Europäer, die dies so gehört hatten), auf denen eine ganz harmonische Dur-Musik zu hören war, die wie ein Mandolinenorchester in einer englischen Provinzkirche klangen. Tatsächlich stellte sich nach einiger Zeit heraus, dass es auch noch eine ganz andere Harfenmusik gibt, die nicht wie ein Kirchenlied klingt: rauer, rhythmischer und in einer anderen Stimmung, die zwischen Dur und Moll schwebt, sehr archaisch. Tatsächlich hatten sich die Musiker an die Europäer angepasst, sie spielten in der Ästhetik der anglikanischen Choräle, weil sie dachten, das gefällt den Weißen besser, und siehe, es gefiel den Weißen besser! Und diese dachten, das wäre echte afrikanische Musik.Oppermann erzählt über seine Erkundungstouren nach Afrika, Asien und Ozeanien. Er gibt Einblick in die reale Lebenssituation der Beteiligten außerhalb des Festivals und er gibt Anekdoten vom Tournee-Geschehen in Deutschland preis.
Auf der Tournee 1987 gab es dann kulturelle Reibungspunkte, die man sich heute kaum noch vorstellen kann: Michael Vetter, der Oberton-Pionier, hielt sich die Ohren zu, wenn die Türken im Bus sangen, er war überzeugt, dass die orientalischen Gesänge sein Gehör schädigen. Der Busfahrer löste das Problem, indem er Rockmusik auflegte mit dem bemerkenswerten Kommentar: das hier ist mein Arbeitsplatz, und ich höre hier, was ich will. Nun hielten sich die Türken die Ohren zu. Oder alle sangen gleichzeitig, aber nicht miteinander, sondern gegeneinander.Besonders schwierig war es, Saw Thaka Wah und sein Trio aus Burma herauszubekommen. Es ging nur mit neuen Pässen, deren Herkunft im Dunkeln blieb. Denn die drei gehören zur Minderheit der Bergbewohner Karen, sie kommen aus einem Gebiet des jahrzehntelangen Bürgerkriegs. Außerdem kamen sie aus einer Situation, in der alles der Politik untergeordnet ist. Sie konnten sich gar nicht vorstellen, dass es bei uns wirklich um die Harfentradition ging, und nicht um den Freiheitskampf. Deshalb schickten sie erst mal Pressefotos mit Kalaschnikows, nicht mit Instrument. Ich hatte sie aber deshalb hierher geholt, weil sie die letzten überlebenden Instrumente der altindischen Bogenharfe spielen, die mit Metallsaiten bespannte Karen-Harfe T'na mit ihrem bluesigen Stil.
Die Wagogo leben im zentralen Hochland von Tansania. Musik spielt hier eine wesentliche Rolle im Leben. Die Wagogo singen immer zwei- bis fünfstimmig. Noch nie hatte ich ein Volk erlebt, wo so viel gesungen wird, eigentlich den ganzen Tag lang. Und abends trifft man sich im Musikhaus, zum Spielen und Singen. Auch als die Wagogo Queens 2003 schließlich mit uns auf Tournee gingen, sangen sie zu allen Gelegenheiten, nicht nur auf der Bühne, sondern auch hinter der Bühne, im Bus, morgens nach dem Aufwachen und abends zum Abschied. Fast hatte man das Gefühl, sie kreierten die Welt singend. Die besondere Harmonik der Wagogo verleiht dem mehrstimmigen Gesang eine kristalline Schönheit. Interessant auch, wie alle Beteiligten versuchen, die Intonation nach oben zu drücken, innerhalb kurzer Zeit sind alle ein Stück höher, in 10 Minuten steigt das einen ganzen Ton hinauf! Das entspricht ihrer Schönheitsvorstellung. Im Gegensatz dazu sackt der Chorgesang in Deutschland meistens von sich aus immer weiter nach unten.
Oppermann sagt: Es ist keine musikalische Autobiographie. Diese kommt später. Stimmt, es gibt noch viel zu tun. Die nächste KlangWelten-Tour findet im Herbst statt, und hoffentlich noch einmal zwanzig Jahre. Denn mit einem hat er sicherlich recht: Wir Musiker sind schon lange eigentlich die wahren Global Players. Und unsere Globalisierung swingt.
Im Jahr 2001 spielte das Estampie-Duo Stücke wie "La Rotta" und "Cuncti Potens". Die Klangwelten-Versionen waren vermutlich meilenwert entfernt vom Klangideal der Epoche ihres Entstehens.
Nimmt man ein beliebiges Buch über die Renaissance zur Hand (z.B Aston), so erfährt man. dass die Wiedergeburt ursprünglich eine literarische Bewegung war, die sich an den Schriften und Lehren der klassischen Antike orientierte. Die Sicht auf Kunst und Leben veränderte sich in dieser Zeit radikal. Die Kunst sollte den Menschen nicht mehr in die Transzendenz führen wie im Mittelalter, sondern Bestandteil des Lebens sein. Man erfährt insbesondere viel über Malerei, aber über Musik wird nur schlicht festgestellt:
Die abendländische Musik als Komposition polyphoner Strukturen aus verschiedenen Instrumental- oder Singstimmen nahm ihren Anfang in der Renaissance. Damals verbesserte man die mittelalterlichen Musikinstrumente, Orgel, Cembalo und Saiteninstrumente insgesamt. Komponisten nutzten die damit gebotene Möglichkeit, eine komplexere, persönlichere und leidenschaftlichere Musik zu schaffen. Musik war zunächst, von der Kirchenmusik abgesehen, vorwiegend Hausmusik. An den Fürstenhöfen allerdings musizierten bereits Ensembles von Musikern, die schon als Orchester anzusprechen sind.Punkt. Aus. Schluss. Nächstes Kapitel. Im Bereich der Musik gab es natürlich nicht viel an die Antike anzuknüpfen, sondern die Veränderung der sozialen Umwelt sorgte für die Weiterentwicklung mittelalterlicher Musikformen.
Bernhard Morbach, Die Musikwelt der Renaissance - Neu erlebt in Texten, Klängen und Bildern. Bärenreiter, Kassel, 2006, BVK1715, ISBN 3-7618-1715-0 , 257 S, €24,95 (inkl. CD). Margaret Aston, Die Renaissance - Kunst, Kultur und Geschichte. Patmos, Düsseldorf, 2003, ISBN 3-491-96091-6, 368 S. |
Savonarola beschimpfte die Moderne: Das ist ein rechter Krawall. Denn da steht ein Sänger mit einer Stimme wie ein Kalb, die anderen schreien mit ihm wie Hunde um die Wette, und man versteht nicht, was sie singen. Lasst doch die mehrstimmigen Gesänge und singt die gregorianischen Melodien, die die Kirche vorgeschrieben hat.Bildende Kunst und Musik, geistlich und weltlich, werden zu einem zentralen Mittel der fürstlichen Repräsentation bzw. Zurschaustellung von Macht. Das Selbst-Musizieren in Kreisen des Adels und ganz besonders des Stadtbürgertums wurde seit dem frühen 16. Jhd. in vielen europäischen Metropolen geradezu eine Mode, wobei der neu erfundene Notendruck den nötigen Nachschub an Musikalien zu einigermaßen zivilen Preisen gewährleistete. Ein wichtiger Aspekt des bürgerlichen Aufbruchs ist die Aufwertung des Tanzes und der Instrumentalmusik, die Jahrhunderte lang vom kirchlichen Establishment verteufelt worden waren.
Von Heinrich VIII. hingegen heisst es: Nach dem Mahle begann er zu singen und auf allen Musikinstrumenten zu spielen und stellte einige seiner ungewöhnlichen Talente zur Schau. Schließlich tanzte er und vollbrachte dabei wunderbare Dinge sowohl im Tanzen wie im Springen.
Was sich in der Renaissance im Bereich der Melodik, Harmonik und Rhythmik, den Ensembles, Instrumenten und Tänzen geändert hat, kann ich hier nicht diskutieren. (Das würde ja auch den Erwerb dieses Buches unnötig machen.) Die beiliegende CD (Audio + Daten) ermöglicht es zudem, die textlichen Erläuterungen zu einzelnen Werken besser nachzuvollziehen.
Ich möchte hier jedoch Morbachs Gedanken aufgreifen, dass viele der heute wieder populären Renaissance-Melodien auf volksmusikalische Traditionen zurückgreifen. Zum Beispiel das im 16. Jhd. populäre Madrigal mit dem fa-la-la-Refrain; Tanzweisen und -typen wie Jig oder Hornpipe bilden Grundlage von Kompositionen und Variationen. Über den heute immer noch gern gespielten Tanz "Schiarazula Marazula" schrieb der Vikar von Palazzuolo della Stella 1624: Gewisse abergläubische Frauen ziehen in der Pfingstnacht durch das Dorf, um Regen zu erflehen, indem sie ein Lied singen, das mit Schiarazzola Marazzola beginnt, dem sie oft ein falalala hinzufügen.
Im späten 16. Jhd. löst u.a. die Dur-Moll-Tonalität und die Akkord- bzw. Harmoniestruktur die alten Kirchentonarten ab. Es beginnt das Zeitalter des Barocks. Demnächst weiterzulesen in Morbachs letztem Teil der Trilogie alter Musik. Ich schließe mit der Erkenntnis:
Wir können versuchen, uns ein Bild von der Musikwelt der Renaissance zu machen. Aber es ist eine vergangene Welt. Auch wenn wir uns noch so intensiv darum bemühen, die Musik in ihrem historischen Klang wiederzubeleben, das ursprüngliche Musikerleben können wir nicht wieder finden, allein schon weil unsere Ohren durch ständige Musikberieselung und den bisweilen geradezu schmerzenden Techniklärm in unserer Zeit desensibilisiert sind und deswegen, weil wir die Musik späterer Epochen kennen.
T:-)M's Nachtwache FW#32
Englische Titel
Zur englischen FolkWorld |
© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 05/2007
All material published in FolkWorld is © The Author via FolkWorld. Storage for private use is allowed and welcome. Reviews and extracts of up to 200 words may be freely quoted and reproduced, if source and author are acknowledged. For any other reproduction please ask the Editors for permission. Although any external links from FolkWorld are chosen with greatest care, FolkWorld and its editors do not take any responsibility for the content of the linked external websites.