FolkWorld Live Review von Walkin' T:-)M, Juli 2003:

Tortur für Folkmuffel

TFF.Rudolstadt 2003

Schon Kaiserdeutschland wetterte gegen die modernen Tänze. Im thüringischen Halle a.d. Saale wurden die Polizeiwachtmeister in Schiebe- und Wackeltänzen unterwiesen, wohl nach dem Motto: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt! 1930 schlugen die Negertänze und die Schlagzeugmusik dem deutschen Kulturempfinden der Thüringer Nazis ins Gesicht und wurden mit dem Erlass Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum verboten. Ein Reich später giftete Herr Ulbricht, mit der Monotonie des Yeah, Yeah, Yeah und wie das alles heisst, solle man doch Schluss machen.

Es hat alles nichts genützt. An der Saale steppt einmal TFF.Rudolstadt im Jahr der Bär. Während Massenarbeitslosigkeit und Agenda 2010 den kleinen Mann und die kleine Frau in die Arme der rechten Rattenfänger treibt, wird in Rudolstadt das kulturelle Gegenprogramm gepfiffen. Je bunter, desto doller. Und wenn es vielleicht auch die gesamte Toleranz der ein oder anderen Glatze aus der Security-Truppe herausfordern mag.

In Nordhausen - so konnte ich auf der Anreise bemerken - gibt es eine Irische Nacht mit 5 Bands zu 5 Euro, in Rudolstadt 80 Gruppen zu 45 Euro. Was ist da wohl das bessere Verhältnis? Von Qualität mal ganz zu schweigen. Ausgabe TFF Nr. 13 kommt allerdings mit einer Neuheit: Das gute alte Tanz&FolkFest ist passé. Eine neue Corporate Identity musste her - schämt man sich etwa für Tanz und Folk in diesen hippen Weltmusikzeiten? -, es heißt nun TFF.Rudolstadt, mit einem Punkt und ohne Leerzeichen dazwischen. Selbiges bedeutet je nach Lesart The German Ethno Roots Fusion Dance & Music Festival, oder schlicht: Tortur Für Folkmuffel.

Kanada, Berlin und Salsa waren diesjährige Schwerpunkte. Wer es exotischer mag, wie wäre es mit Cyberpiper, Nasenflötenorchester, hölzernes Gelächter und Flaschenverspeisung? Die Chilli Band aus Süditalien etwa möchte eine alte Tradition fortsetzen: Als es noch wenig - oder keine - Ärzte auf den Dörfer gab, da wurden die Musiker zu den Kranken einbestellt und spielten und spielten. Nach 24 Stunden war der Patient gesund - oder tot. Ob es in Rudolstadt nach einer Stunde Konzert Todesfälle gab, entzieht sich allerdings meiner Kenntnis.

Das magische Instrument ist das Stabspiel, sprich: Xylophon, Marimba & Co. Instrumente, die von der Spielweise ein wenig an das gute alte Hackbrett erinnern (-> FW#22, FW#25). Und da haben wir nicht nur Urna, Preisträgerin des Folk&Weltmusikpreises RUTH (-> FW#24), die die asiatische Variante am Konservatorium Shanghai studiert hat.

In Thüringen haben wir höchst geschickte Spieler dieses untergeordneten Instruments gehört, die weit Mehr und Angenehmeres darauf leisten, als man erwarten sollte, heisst es 1840 in Schillings Universal-Lexicon der Tonkunst. Ein Jahrhundert zuvor ist ein gewisser Georg Gebel (1709-52) Blowzabella Fürstlich Rudolstädtischer Konzert- und Kapellmeister, ein Schüler des legendären Pantaleon Hebestreit, sein Vater Erfinder eines Viertelton-Claviers. Gebel verfasste u.a. Konzerte für das sog. Pantaleon, ein überdimensionales Hackbrett mit 180-200 Saiten und 3-4-chörigem Bezug. Ob das bekannt war, als anno 1996 das Hackbrett magisches Instrument gewesen ist.

Wenn man von großen Namen ausgeht, ist sicherlich an erster Stelle die englische Bordunband Blowzabella erwähnenswert. Das 7köpfige Folkorchester, ft. u.a. Akkordeonist Andy Cutting (-> FW#10, FW#16, FW#22) und Drehleierspieler Nigel Eaton (-> FW#12), hat sich eigentlich 1990 aufgelöst, aber dieses Jahr noch einmal zu fünf Konzerten, eines davon in Rudolstadt, zusammengefunden, um das 25jährige Bestehen zu feiern.

Die Gruppe wurde 1978 von Instrumentenbaustudenten des Londoner College of Furniture gegründet und kreierten mit Drehleier und Dudelsack, Fiedel und Saxophon, rhythmisch unterstützt von Bass und Schlagzeug, ihren speziellen Wall of Sound, Drone-basierte Tanzmusik, die im Laufe der Jahre immer mehr in Richtung Jazz und Rock driftete. Die Einflüsse sind immer eher aus der kontinentaleuropäischen Tradition gewesen, als der eigenen Englischen, dazu kommt ein signifikantes Repertoire selbstkomponierter Melodien. Bourrées, Gavotte, Schottische - obwohl Kunstmusik spielt hier weniger eine Konzertband denn eine Tanzband. Und vor der Bühne im Innenhof des Schlosses dreht sich flott der Reigen.

May the Drone of my Bag never hum... Als die Bandmitglieder einst die Archive nach Sackpfeifenstücken durchkämmten, stießen sie auch auf eine gewisse Melodie:

Blowzabella, me bouncing Doxie, come let's trudge it to Kirkham Fair.
There's stout liquor enough to fox me, and young Cullies to buy thy ware.
Was dem einen ein leichtes Mädchen aus dem 17. Jhd. ist, ist dem anderen ein Liedchen über Ambrozijn mittelalterlichen Sextourismus von Frankreich nach Flandern. Die Rede ist von Ambrozijn (-> FW#7, FW#8, FW#15).

Immer wieder gut, die Götterspeise aus Flamen. Mitte der 90er Jahre gehörte das Quartett zum Triumvirat - die anderen beiden Bands waren Fluxus (-> FW#8, FW#20) und Laïs (-> FW#8, FW#14, FW#18) -, die die belgische Folkszene aufgemischt haben. Wouter Vandenabeele (Fiedel), Wim Claeys (Akkordeon) und Tom Theuns (Gitarre) spielen Tänze und Lieder, basierend auf traditioneller flämischer Musik, aber mit vielen Einflüssen anderer Traditionen, Jazz und Weltmusik. Das kann ganz gerade Folkmusik sein, aber sich auch immer wieder in komplexen Strukturen verlieren. Eine Mischung aus traditionellem Folk und einer Avantgarde-Attitude, jedenfalls keine Museumsmusik, die schn lange nicht mehr die Jugend anspricht. Nach dem Motto: Folk ist nicht das Ziel, sondern der Weg, Flandern auf einer Reise durch Nord- und Südeuropa.

Sänger Ludo van Deau interpretiert chansonhafte traditionelle Lieder, nicht nur auf Flämisch und Französisch, sondern als Zugabe auch noch auf Spanisch. Hier outet sich der Julio Flamens. Nur der TFF-Moderator sollte noch ein wenig üben: Es ist nicht das aktuelle Album, das ausverkauft und vergriffen ist, sondern das Vorgängerwerk. Eine Ansage, die Ambrozijn ein paar CD-Verkäufe gekostet hat.

In Flandern also Sextourismus, nun, im kühleren Skandinavien reitet die werte Gemahlin, nachdem sie ihren Gatten gemeuchelt hat, auf einem Schwein zum Pfarrer, um Vergebung zu Halvorsen & Bruvoll erheischen. Eine alltägliche Erscheinung in Norwegen erklären Jon Anders Halvorsen und Tore Bruvoll.

Ein kleiner Exkurs gefällig? 1886 erfindet Sondre Norheim aus Morgedal die Seilzugbindung und damit das Skifahren im Telemark-Stil. Lange Zeit vernachlässigt ist der Telemark-Schwung heute wieder stark im Kommen. Aber nicht nur der, auch die Volkskultur des gleichnamigen Landstriches in Südnorwegen, der sich in den Skagerrak vorstreckt, erlebt einen Aufschwung.

Die Tradition, aus der Jon Anders Halvorsen schöpft, ist der archaische, unbegleitete Gesang der alten Sänger, eine Quelle traditioneller und teils sogar mittelalterlicher Balladen. Zu dem traditionellen Gesangsstil gehört, dass einige Skalen nicht temperiert sind: Magische Zwischentöne aus Norwegen!

Für ein Publikum, das großteils die Texte nicht verstehen kann, bringt Gitarrist Tore Bruvoll Farbe ins Spiel. Sein inniges wie innovatives Gitarrenspiel katapultiert Jon Anders' Vortrag in die Moderne. So gleitet Tore im selben Stück vom Stil der nordischen Zither Langeleik in den Mississippi-Blues. Dahinein mixt er häufig elektronische Hall-Effekte, die die moll-lastigen Melodien in die Weite der Fjorde, respektive des Heineparks und der Stadtkirche, hinausschallen lassen. Ein Duo, von dem man hoffentlich noch viel hören wird.

Die Lieder aus der Telemark mit ihren schönen, oftmals melancholischen Melodien, erinnern mich manchmal an irische Balladen, aber den Zusammenhang zwischen Skandinavien und den Britischen Inseln über die Nordsee hinweg haben ja schon andere aufgezeigt (-> FW#21). Zu dem Auftritt des Duos passt auch Herders Definition des Volksliedes als das, was alt, wahr, schön und gut ist.

Selbiger Johann Gottfried Herder (1744-1803) ist vor exakt 200 Jahren im nahen Weimar verstorben und hat vor 230 Jahren den Terminus Technicus Volkslied Uli Klan & Jürgen B. Wolff geprägt: ein Lied mit dem Charakter der Ursprünglichkeit, das einer Unterschicht, einer bestimmten Ethnie. Herder übersetzte nicht nur zahlreiche Balladen aus anderen zeitgenössischen europäischen Quellen, er ließ u.a. Herrn Goethe im Elsass Lieder sammeln. Der musste schon damals die Erfahrung machen, das die jungen Leute nur Schlager sangen und allein bei den ältesten Mütterchen alte Lieder zu finden waren.

Im Landestheater erinnern Barbara Boock vom Deutschen Volksliedarchiv in Freiburg als Erzählerin und Uli Klan (Drehleier, Fiedel), Jochen Wiegandt (Mandoline -> FW#17) und Jürgen B. Wolff (Gitarre, Mandoline -> FW#5, FW#15) als Lustige Musikanten an Herder und sein gesammeltes Liedgut. Und so erklingen "Ännchen von Tharau", "Das Lied vom Herrn von Falkenstein", "Wenn ich ein Vöglein wär" und "Der Mond ist aufgegangen" noch einmal. Alles Lieder, die auch gar nicht so schlecht sind, wenn man sie vernünftig interpretiert.

200 Jahre nach Herders Ableben lebt in Rudolstadt und anderswo das Volkslied und der Volkstanz, nur - wie ich beiläufig aufschnappen durfte: Das ist keine Volksmusik, das ist eher alternativ...

P.S.: Nächstes Jahr gibt es Griechenland und die Zither.

Die TFFs der vergangenen Jahre: 2002a, 2002b 2001a, 2001b, 2001c, 2000a, 2000b, 2000c, 2000d, 1999a, 1999b.


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 10/03

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