FolkWorld #75 07/2021
© Stefanie Marcus / Traumton Records

Blütezeit der Idiotie

Heinz Ratz und Strom & Wasser blickten 2020 auf bewegte 20 Jahre Bandbestehen, ihr 13. Album "Mann aus Stein" erschien im Corona-Stillstand und ohne Release-Konzerte. Ein zu einer mobilen Bühne umgebauter Mercedes-Pritschen-Oldtimer mit fest installierter Ton- und Lichttechnik und externer Stromversorgung - das Liedermacher-Überlebens-Mobil LÜMMEL - war im Herbst 2020 startklar, kam aber nicht mehr wirklich zum Einsatz. Am 18.06. erscheint nun das 14. Album von Strom & Wasser - "Blütezeit der Idiotie" - als klare Stellungnahme zum aktuellen Zeitgeschehen. Erste Konzerte sind wieder möglich und die Sommer-Konzerttournee mit dem LÜMMEL nimmt von Tag zu Tag mehr Gestalt an.

Strom & Wasser

Heinz Ratz: Text, Bass & Gesang; Burkard Ruppaner: Drums; Luca Seitz: Hybrid-Drums, Bass; Ingo Hassenstein: Gitarre; Ruben Röh: Gitarre; Gast: Tobi Müller: Gitarr; Thomas Göhringer: Drums; Basti Bruchmann: Drums; Beate Wein: Gesang

Strom & Wasser "Blütezeit der Idiotie", Traumton, 2021

Schon der Titel lässt es ahnen: auch das neue Album von Strom & Wasser reflektiert das Zeitgeschehen. Immerhin zählt der Kopf der Band, Heinz Ratz, seit vielen Jahren zu den politisch besonders wachen und konsequenten Künstlern der Republik. Unvergessen sind seine Konzerte mit Musikerinnen und Musikern aus Flüchtlingsheimen (2012-2014) oder sein körperlicher Einsatz für die Umwelt, der ihn 2009 im Rahmen einer Tour buchstäblich durch Deutschlands Gewässer schwimmen ließ. Ehe das Corona-Virus alle Aufmerksamkeit auf sich zog, engagierte sich der mehrfach mit Preisen ausgezeichnete Künstler vor allem gegen den wachsenden Rechtsnationalismus. Zu diesem Zweck gründete Ratz 2016 mit Konstantin Wecker das „Büro für Offensivkultur“, unter anderem zur Unterstützung soziokultureller Zentren.

Kein Wunder also, dass Blütezeit der Idiotie stark von den Begleiterscheinungen der Pandemie geprägt ist, die zumindest Teile der Gesellschaft auf eine noch etwas schiefere Bahn gebracht hat. „Obwohl ich gut gelaunt an die Arbeit ging, wurden die Texte sehr dicht. Sie fangen eine Düsternis auf, die ich als vorherrschende Stimmung wahrnehme“, erklärt der weitgereiste Autor und widerborstige „Radikalpoet“. Eher überraschend wirkt hingegen der neue, entschlossen auf Stromgitarren fokussierte Band-Sound. Gleißende Funk-Phrasen, prägnante Linien und vereinzelte Blues-Anlehnungen, harsche Riffs und zerrende Heavy-Akkorde formen kantige Klanglandschaften, die als schroffe Klippen aus der Spotify-Ebene ragen. Befeuert werden die oft mehrspurigen Gitarreneinsätze von pulsierendem E-Bass und agilem bis eruptivem Schlagzeug.

Heinz Ratz (Strom & Wasser)

Artist Video Strom & Wasser
@ FROG


www.strom-wasser.de

Wie ein Leuchtfeuer über der Brandung erhebt sich Heinz Ratz' unverkennbare Raustimme. Oft nimmt er eine erzählerische Haltung ein, häufig verpasst er seinen brisanten Zeilen rhythmische Struktur, manchmal wird der Sprechgesang zum Rap. Selbst in ruhigeren Momenten scheint bereits der nächste Ausbruch des Sängers zu lauern. Mit emotionalem Furor steigert Ratz Nachdruck und Tempo, sein Ausdruck wechselt nahtlos von rau zu böse, kulminiert in scharfen Fragen zum Zeitgeschehen (Experten) oder herausgestoßenen Abrechnungen. Angriffslustig wettert er gegen Verschwörungsmystiker und Kurzdenker (Blütezeit), Umweltverschmutzung unterschiedlichster Art (Müll). Oder plädiert für unangepassten Eigensinn wie in der mit Reggae-Groove unterlegten Baumschulballade.

Andererseits klingt Ratz im metaphorischen Kater Goldschein geradezu zärtlich und landet mit Dunkle Liebe einen wahren Geniestreich der absichtsvollen Kontraste. Hüpfende Beats, Synthi-Sounds und Vocoder-Melismen lassen Drum & Bass-Ästhetik anklingen, dazu raunt Ratz als moderner Minnesänger lyrische Worte. Dass er seinen anarchischen Humor noch nicht verloren hat, zeigt der Mann aus Kiel in der saftigen, mit spektakulären Vokaleskapaden gespickten Karikatur Sylter Strand, beim potentiellen Hit Dickmann sowie in den beiden spaßigen Songs, die Anfang und Ende des Albums markieren.

Zuweilen erinnert die Kombination von ansteckender Funk-Rhythmik, hartem Rock und heftigen Vocals an die besten Zeiten amerikanischer Bands wie Faith No More, Red Hot Chili Peppers, NoMeansNo und Primus. Gleichzeitig profilieren sich Strom & Wasser mit ihrer speziellen Form des subversiven Agit-Rock als die wahren Erben der Scherben. Geplant war das alles nicht. „Eigentlich hatte ich noch Texte auf Englisch in der Schublade, die während einer Island-Tour mit dem Reykjavik-Projekt entstanden sind“, erzählt Heinz Ratz. Doch dann reifte der Plan, „nochmal eine richtige Rockplatte zu machen.“ Wesentlich sei, führt er weiter aus, jede Produktion etwas anders zu gestalten, um sich nicht selbst zu kopieren. So übergab er diesmal den Bass komplett in die Hände von Luca Seitz und konzentrierte sich ganz aufs energiegeladene Singen. Später fügte er noch einige Synthesizer- und Elektrovignetten hinzu. „Es war mir wichtig, in bestimmten Bereichen neue Wege zu gehen. Nicht nur durch Sounds, sondern auch mittels krummer Takte und vielen Wechseln innerhalb der Songs.“ Enorme Wirkung entfaltete zudem die Umkehrung eines lange bewährten Ablaufs. Bislang hatte Ratz stets erst die Texte verfasst, dann wurde dazu passend die Musik kreiert. „Diesmal haben wir zunächst hemmungslos gespielt und im weiteren Verlauf der Produktion das entstandene 'Chaos' gebändigt“, sagt Ratz und grinst sichtlich zufrieden.

Liedermacher-Überlebens-Mobil LÜMMEL

Als Grundlage für die gemeinsame Entwicklung der Musik brachte Ratz Bass- und Gesangslinien mit, im nächsten Schritt wurden die Beats kreiert, gefolgt von unterschiedlichen Klangfarben. Wie gewohnt entstanden die neuen Songs tatsächlich erst während der Produktion und wurden nicht vorher schon auf der Bühne ausprobiert. „Als nächstes werden wir schauen, wie wir sie live umsetzen und wie sie unser Publikum berühren“, wagt Ratz einen Blick in die weiterhin ungewisse Konzertzukunft. Im Frühjahr 2020 kaufte er – Crowdfunding sei Dank – angesichts des ersten Lockdowns einen Mercedes-Pritschenwagen von 1981 und baute ihn zur mobilen Bühne, genannt „Lümmel“, um. „Wir dachten, wir halten damit einfach vor großen Häusern und die Leute können aus ihren Fenstern rausschauen, um unsere Konzerte zu sehen“, erklärt der einfallsreiche Aktivist. „Leider hat der Umbau länger gedauert als gedacht, so dass wir damit erst ab September 2020 unterwegs sein konnten.“ Manche Standort-Idee scheiterte am zuständigen Ordnungsamt, dennoch gab es einige Konzerte in nördlichen Hälfte des Landes, oft mit regionalen Bands als Gäste. Im Frühjahr und Sommer 2021 sind weitere „Lümmel“-Konzerte geplant.

Ein Grundmotiv, das Heinz Ratz seit langem umtreibt, ist die „Lieblosigkeit und Verhärtung der Gesellschaft“, gepaart mit der Sorge um die Zukunft der nächsten Generation. Die Forderung nach einem sozialeren und rücksichtsvollerem Umgang miteinander durchzieht auch Blütezeit der Idiotie. „Manches sieht man über die Jahre in Details neu und findet andere Antworten auf alte Fragen“, sagt Heinz Ratz, „aber natürlich bewegen mich viele Dinge über einen langen Zeitraum, solange sie sich nicht ändern.“

Die Gegenwart empfinde er als dermaßen surreal, dass sie den Albumtitel mehr als rechtfertige, sagt Ratz. Das Gleiche gilt für die skurrile Zeichnung, die das Cover ziert. Sie lässt sich immerhin als utopische Möglichkeit lesen, dass die Natur erfolgreich mit der zerstörerischen Maschine ringt. Blütezeit der Idiotie vermittelt ein gehöriges Maß an Courage, Widerstand gegen die großen Bedrohungen der Menschheit (Nationalismus, Chauvinismus, Umweltzerstörung, Hass) zu leisten. Heinz Ratz erlaubt sich aber auch derbe Späße, ironischen Witz und melancholische Gedanken an die Liebe. So profiliert er sich, zusammen mit seiner Band Strom & Wasser, erneut als einer der engagiertesten, ehrlichsten und überzeugendsten Persönlichkeiten der deutschsprachigen Rockszene.



Photo Credits: (1)-(3) Strom & Wasser (unknown/website).


FolkWorld Homepage German Content English Content Editorial & Commentary News & Gossip Letters to the Editors CD & DVD Reviews Book Reviews Folk for Kidz Folk & Roots Online Guide - Archives & External Links Search FolkWorld About Contact Privacy Policy


FolkWorld - Home of European Music
FolkWorld Homepage
Layout & Idea of FolkWorld © The Mollis - Editors of FolkWorld