Albin Brun & Kristina Brunner "Midnang"
Eigenverlag, 2020
Als ausgesprochen wohltuend möchte ich die Musik bezeichnen, die mir die
CD "Midnang" beschert. Die beiden Schweizer Musiker Albin Brun und
Kristina Brunner spielen zunächst beide die Schwyzerörgeli. Dabei
handelt es sich um ein diatonisches Akkordeon, das vor allem in der
schweizerischen Volksmusik verwendet wird. Zudem ist Kristina Brunner
eine ausgezeichnete Cellistin, wie sie an mehreren Positionen dieser CD
unter Beweis stellt. Albin Brun fügt mit dem Sopransaxophon ein weiteres
Instrument hinzu, das nicht sehr typisch ist für die Folklore der
Schweiz. Das Duo entwickelt im gemeinsamen Spiel eine eigene
Klangpoesie, die schlicht ist und doch grandios. Virtuos spielen sie
sich die Sequenzen zu, jonglieren mit Harmonien und Melodien, fangen
Ideen und Träume ein und kleiden sie in ein farbenfrohes Gewand aus
Noten und Tönen. Dies ausschließlich zu zweit mit diatonischen
Akkordeons plus Cello und Saxophon zu bewerkstelligen, zeugt von einer
Virtuosität zweier Künstler, die ihres Gleichen sucht.
© Karsten Rube
Elisabeth Cutler "Silence is Rising"
TASAL, 2019
Oft sind es die leisen Momente, die wahrhaftiger klingen, als das laute
Tönen. "Silence is Rising" benennt die Sängerin und Gitarristin
Elisabeth Cutler ihr aktuelles Album. Ein Album, das optimistisch in
musikalischen Wellen schaukelt, wie ein glückliches Boot. Die Musikerin
lebt mittlerweile in Rom, nachdem sie für eine Weile in Nashville
agierte. Sie weiß um die Verwundbarkeit, der man im Leben ausgesetzt
ist, den Veränderungen, die man gewollt und ungewollt erfährt. So sind
ihre Lieder keine leichtfertigen Liebeserklärungen an das Leben, sondern
leidenschaftliche - im deutlichsten Sinne des Wortes. Die Lieder klingen
ehrlich, erfahren und sind doch weit davon entfernt schmerzlich und
düster zu klingen. Das ausgereifte Werk setzt dabei auf eine dezente
Instrumentierung. Frau Cutler selbst spielt die Akustikgitarre, Leander
Reininghaus die elektrische. Produzent Filippo de Laura greift in die
Steel Guitar und Andy Bartolucci bedient die Drums. Ein
Streichinstrument vervollständigt das Ensemble bei einigen Songs, die
sich dezent an der Linie zwischen Songwriterfolk, akustischem Pop und
feinfühligen Jazz bewegen. "Silence is Rising" besitzt die Art von
leisem, umarmenden Charme, der im lärmenden Egoismus der Gegenwart
leider kaum mehr wahrnehmbar ist.
© Karsten Rube
Esbe "Saqqara"
New Cat Music, 2020
Wie so viele Menschen, war auch die britische Musikerin Esbe während des
Corona-Lockdowns in ihrem Londoner Domizil unter Verschluss. Als
Alleinunterhalterin konnte sie sich in ihrem Tonstudio mit
Reiseerinnerungen und historisch inspirierten Synthesizergeräuschen in
Trance orgeln. Herausgekommen ist das nunmehr fünfte Album, von Esbe.
Diesmal träumt sie sich an die Nekropole von "Saqqara", einem gewaltigen
altägyptischen Wüstenfriedhof südlich von Kairo. Auch dieses Album kann
mich nicht wirklich in eine schwer nachzuvollziehende historische Kultur
versetzen. Zu wenig ist die gleichförmige Melodiewalze geeignet, im Kopf
Geschichten zu erzeugen. Tracks, wie "Qqwaalie Dance" und "Qqwaali
Siesta" besitzen den Charme einer elektronischen Begleitung zum
Bauchtanz. Lediglich mit "Paint the Moon" und „Bedouin Prince“ gelingt
es ihr, aus dem Wüstensand hervorzukrabbeln und mit einem Hauch New Age
Pop und elektrokeltischen Ansätzen vage das selbst angelegte Korsett zu
lockern.
© Karsten Rube
Folk Group Merema "Kezeren Koiht"
CPL-Music, 2020
Die Folkloregruppe Merema stammt aus Saransk in der Region Mordowien,
einer Provinz, die links der Wolga liegt. Dort spricht eine Minderheit
der Bevölkerung noch die Sprache Ersjanisch oder Ersa-Mordwinisch. Die
Sprache gehört zur verstreuten Sprachgruppe der finnougrischen Sprachen,
zu der auch Karelisch, Ungarisch, Estnisch gehören, sowie eine ganze
Gruppe Sprachen von kleineren Völkern in Russland. Der Trend, solche
Sprachen behördlicherseits zu unterbinden, lässt in den letzten Jahren
etwas nach und kleinere Sprachverbände können nun auch in Russland
wieder Versuche unternehmen, ihre alte Sprache wiederzubeleben. Das
Ensemble Merema unternimmt solch einen Versuch mit ihrer Musik. In
polyphonem Gesang tragen die vier Sängerinnen Lieder aus dem Leben der
mordwinischen Menschen vor. Die klassischen Themen aus dem Zusammenhalt
von Dorfbevölkerungen im fernen Russland kommen zum Vorschein, die dann
doch nicht so fern sind und auch in jeder anderen Region von Bedeutung
sind, wo Menschen zusammenleben. Da wird von der Arbeit gesungen, von
Gastfreundschaft, von Armut und von Liebe, die alle Probleme übersteht.
Das Album ist zum Teil auch ein Forschungsprojekt, dass sich mit Leben
und Sprache der historischen Region beschäftigt und dabei nicht
unmittelbar den aktuellen kulturellen Tagesablauf in der ehemaligen
autonomen Sowjetrepublik widerspiegelt.
© Karsten Rube
Georg Clementi "Zeitlieder 3"
SowieSound, 2017
Der Schweizer Georg Clementi schlüpft in den Songs seiner dritten
Zeitlieder-CD wieder in die Gedanken- und Ausdruckswelt verschiedenster
Protagonisten. Als Schauspieler und Chansonnier weiß er, wie das geht.
Ein Flüchtling, der Zugvögeln hinterherschaut, ein Mann der sich nicht
traut ein Kompliment zu machen, um nicht als Machoschwein zu gelten,
eine Liebeserklärung an die Essgewohnheiten seiner Geliebten, das sind
ein paar der Eckpunkte seiner Lieder. Diese besitzen dabei eine feine
Sinnlichkeit, die gekonnt mit Ironie jongliert und gelegentlich gewollt
aus dem Ruder läuft, wie in "Fairtrade Kaffee" auffällig mitzuerleben
ist. Musikalisch ausgereift agiert Clementi mit seinen beiden
Begleitmusikern Sigrid Gerlach am Akkordeon und Tom Reif, der alles
bespielt, was ihn unter die virtuosen Finger gerät. Das Album ist eine
gelungene Bestandsaufnahme der Realität mit dem Blick eines Träumers.
© Karsten Rube
Julvisor "Vinternatt"
Eigenverlag, 2019
Weihnachtsfolklore aus Skandinavien wird auf dem Album "Vinternatt" von
fünf Musikern aus Dresden feierlich zum Leben erweckt. Skandinavische
Weihnachten, das ist ein letzter Traum, von einer heilen Welt. Eine
einsame Hütte, viel Schnee und jede Menge Holz, das man mit leichtem
Klimaschlechtgewissen im Kamin zu Feuer aufgehen lässt. Eine Ruhe, wie
im Lockdown, zumal man ohnehin kaum rauskommt, weil der Schnee die
Wohnungstür blockiert. Die Weihnachtstraditionen in Schweden und
Norwegen, denen die Band folgt, besitzen allerdings mehr, als massenhaft
Glögg. Davon zeugen die Lieder, die von verschiedenen Bräuchen
berichten, von skurrilen, wie feierlichen. Die Musiker lullen uns
keineswegs mit Weihnachtskitsch zu. Die Arrangements sind mitreißend,
mit Akkordeon, Saxophon, Drehleier und Flügelhorn begleitet. Auch wenn
es pandemiebedingt wohl in diesem Jahr ein recht kontaktarmes
Weihnachten sein wird, so macht dieses Album zumindest musikalisch
wieder etwas Lust auf den Jahreswechsel.
© Karsten Rube
Kristine Heebøll "Pernambuk"
Go' Danish Folk Music, 2020
Die dänische Geigerin Kristine Heebøll bezeichnet ihr Album "Pernambuk"
als eine Entdeckungsreise in 11 Kapiteln. Inspiriert vom Namen des
Holzes, der ihren Geigenbogen ausmacht, dem harten Holz des stark
gefährdeten brasilianischen Rotholzbaumes, dem Pernambuc-Holz, beginnt
sie ihre musikalische Wanderung. Sie führt sie und ihren Begleiter Timo
Alakotila durch Gedankenwelten und Erinnerungen, die sie in
inspirierende Melodien füllen. Geige und Klavier harmonieren dabei, als
wären sie ein jahrelang eingespieltes Team. Dieses kammerfolkloristische
Werk, zeigt, wie wandlungsfähig und experimentierfreudig die
skandinavische Folkmusik ist.
© Karsten Rube
Lakvar "Sabotage and Tradition"
Lakvarmusic, 2020
Die ungarisch-bulgarische Sängerin Hajnalka Pèter traf auf den
georgischen Gitarristen Zura Dzagnidze. Beide sind in ihrer Virtuosität
einmalig. Zusammen gründeten sie das osteuropäische Musikprojekt Lakvar.
Das Album "Sabotage und Tradition" bündelt die Kraft der Folklore
Osteuropas und die Energie des Jazz. Heraus gekommen ist ein ungemein
spannendes und mitreißendes Album. Die facettenreiche Stimme der
Sängerin wirkt manchmal angreifend, keifend, dann wieder zerbrechlich
und von vereinnahmender Freundlichkeit. Sie findet dabei Unterstützung
durch den ungarischen Jazzbassisten Péter Papesch, vom
bulgarisch-türkischen Schlagzeuger Tayfun Ates, dem deutschen
Jazzviolinisten Florian Vogel, sowie vom italienischen Schlagzeuger
Santino Scavelli und dem litauischen Akkordeonspieler Aleksejs
Maslakovs. Die Titel sind mal rockig, jazzorientiert, aber auch
traditionell folkloristisch und abwechslungsreich. Ein Album, das die
Kultur der Länder zwischen Balkan und Nahem Osten auf farbenfrohen Weise
im Kopf zum Klingen bringt.
© Karsten Rube
Lincoln Briney "Homeward Bound - The Seasons of Simon & Garfunkel"
MUZAK, 2016
Es ist das dritte Studioalbum des amerikanischen Musikers Lincoln
Briney. Briney, eigentlich im Jazz zu Hause, huldigt auf dem Album
"Homeward Bound" seinen Jugendidolen Simon & Garfunkel. Mehrere Songs
Simons wählte er aus, die meisten aus den sechziger Jahren. Dass er
dabei auf weniger bekannte Songs zurückgreift, macht dieses Album
spannender,als manch andere Produktion von Coverversionen. Sanft
arrangiert er die Songs mit Satzgesängen. Briney, der mit Bobby McFerrin
und Janis Siegel von Manhattan Transfer gearbeitet hat, weiß, wie man
Stimmen harmonisch klingen lässt. Mit Bossa Nova Anklängen versetzt und
einer sentimentalen Grundstimmung im Gepäck badet er die Melodien Simon
& Garfunkels in sanftem Abendlicht.
© Karsten Rube
Lorraine Jordan "Send my Soul"
Hazellville Music, 2019
Lorraine Jordan ist Irin, wurde in Wales geboren und ging später nach
Schottland. Da steckt viel Keltisches in der Musikerin. Und das ist in
den Songs ihres fünften Studioalbums "Send my Soul" durchaus zu hören.
Lorraine Jordan bedient allerdings nicht die immer wiederkehrenden
Klangmuster keltischer Traditionals, sondern schreibt ihre eigenen
Songs. Damit reiht sie sich in die große keltische Songwriterinnenlinie
ein, die Sängerinnen, wie Mary Black, Karen Matheson und Karan Casey
vorgegeben haben. Eine ganze Phalanx begnadeter Musiker begleitet die
Künstlerin auf diesem Album. Den Schwerpunkt der Arrangements legt die
auf die Songwriterstücke. Ihre Arbeit am Planet-Women-Project brachte
sie nach Australien und Neuseeland. Von diesen Reisen brachte sie einige
Eindrücke mit nach Haus, die an den passenden Stellen ins Album
einfließen. "Send my Soul" ist ein entspanntes und zugleich spannendes
Album von bester seelenvoller keltischer Songwriterqualität.
© Karsten Rube
Motus Laevus "Y"
Felmay, 2020
Motus Laevus ist ein World-Jazz-Projekt aus Italien, gegründet von
renommierten Mitgliedern verschiedener Bands aus diesen Sektoren. Das
Album "Y" ist ein Schmelztiegel aus Stilen und kulturellen Elementen.
Harmonisch fließen Melodien aus slowenischen Volksliedern,
nordafrikanischen Tänzen und zeitgenössischem Jazz ineinander. Der Titel
"Y" erscheint minimal und ist doch ein inhaltsvolles Symbol. Manchen
dient es als grafische Darstellung des Menschen, anderen als rituelles
Symbol, zudem besitzt es vielfältige Bedeutungen in der Wissenschaft.
Minimal ist auch die Besetzung des Trios Motus Laevus und deren
musikalische Grundelemente. Trotzdem kommt in deren Kompositionen und
dem Spiel der Musiker eine Vielfalt an Ausdrucksmöglichkeiten zu Stande,
die dieses Album zu einem außergewöhnlich kraftvollen Werk reifen lassen.
© Karsten Rube
Menace D'Eclaircie "Finish Your Patates and Take Your Converses"
Klam Records, 2019
Bei der ziemlich eigenwilligen Kapelle Menace D'Eclaircie handelt es
sich um fünf Brüder, die - laut Legende - auf einer abgelegenen Insel
vor der Küste der Bretagne aufgewachsen sind. Angeblich hatten sie nicht
mal ein Radio, um die aktuellen Hits zu hören. Nur die Instrumente ihrer
Väter und Großväter. Was liegt also näher, als eine Rockband zu gründen.
Mit E-Gitarre als Grundmuster, ergänzt durch Akkordeon und
Krummhörnchen, Saxophon und Tuba, servieren sie auf ihrer CD "Finish
Your Patates and Take Your Converses" zeitlose Melodien im Stile von
reparaturbedürftigen Walzern, Boogies mit keltischem Einschlag und
Tangos aus dem Elsass. Sehr energiegeladen und nicht ganz ernst zu nehmen.
© Karsten Rube
Mulo Francel "Crossing Life Lines"
Fine Music, 2020
Der musikalische Weltenbummler Mulo Francel hat bereits in den
entlegensten Ecken der Welt gespielt und mit seinem Saxophon
musikalische Verbindungen geknüpft, die so bisher nicht stattgefunden
hatten. Grenzen gibt es bei ihm nicht, schon gar nicht kulturell. Mit
seinem aktuellen Album "Crossing Livelines" hat er erneut Brücken
geschlagen. Diesmal zwischen Länder und Völker, die sich vor 75 Jahren
aus einem von Hass und Zerstörung geschlagenen Europa zurück ins Leben
mühten. Die Frage, wie verbunden sind sich heute die Nachfahren von
Verfolgten und Verfolger, Vertreibern und Vertriebenen, Besatzer und
Besetzte beschäftigte ihn. Seine Art, eine Antwort zu finden ist die
Musikalische. So bringt das Album Musiker und Kompositionen zusammen,
die in einem vereinten Europa zu einem gemeinsamen Frieden gefunden haben.
Francel suchte Menschen, die bereits eine grenzüberwindende Biografie
besitzen. Wie zum Beispiel Diknu Schneeberger. Der Wiener Gitarrist, der
Sinti-Wurzeln besitzt. Menschen, und Melodien, die historisch verbunden
sind in slawischen und germanischen Einflüssen, einer böhmischen, wie
sudetendeutschen Vergangenheit, jüdischen, wie christlichen
Bekenntnissen. Die ausgewählten Lieder spiegeln die kulturelle Breite
Europas wunderbar wieder. Hier trifft Chopin auf amerikanischen Jazz,
Tanzmelodien aus den Cafés zwischen Budapest und Prag auf jüdische Musik
aus Schlesien und Smetanas Moldau auf Empfindungen aus dem Kaukasus.
Alles ohne Berührungsängste, harmonisch arrangiert, aufs feinste
instrumentiert. Es ist eine friedliche und freundschaftlich
Weltverbundenheit, die Mulo Francel und seine Mitstreiter auf diesem
Album pflegen, die leider auch heute nicht selbstverständlich ist.
© Karsten Rube
Scarlett O' "... Ob du mich lieb hast?"
Electrocadero, 2019
Fontane ist Brandenburgs Lieblingsdichter. Kaum einer hat seine
Heimatregion auf solch liebevolle und schelmischen Weise gehuldigt, wie
der Theodor. Sein manchmal sehr hinterhältiger Witz bleibt häufig dem
heutigen Leser verborgen. Zu andersartig ist heute das Tempo der
geschriebenen Worte. Wie bei den meisten Dichtern und Autoren benötigt
der kreative Geist eine Muse. Theodor Fontanes Muse war zweifelsohne
seine Frau Emilie. Und genau dieser für ihre Zeit sehr emanzipierten
Frau widmet die Interpretin Scarlett O' mit ihrem Gesangs- und
Erzählabend "... Ob Du mich lieb hast?" im Fontanejubiläumsjahr eine
stimmungsvolle Huldigung. Mit ihrer prägnanten Stimme berichtet sie aus
dem nicht immer leichten Leben der Dichtersfrau. Von ihrer schweren
Kindheit, bis zu der Zeit, in der sie duldsam und doch führend Fontanes
Gefährtin war, die gemeinsamen Kinder großzog und nebenbei seine
Manuskripte las, korrigierte und ins Reine schrieb. Dies erzählt
Scarlett O‘ manchmal in schlichter Prosa und manchmal poetisch wie
musikalisch verfeinert. Das Album zum Programm ist ein gelungener Blick
ins Leben des Dichters, ohne dabei ausschließlich auf den Dichter selbst
zu blicken. Im Wirken seiner Gattin wird sein Leben ausreichend
beleuchtet und das Leben seiner Frau Emilie umfassend geehrt.
© Karsten Rube
Sebastian Krämer "Liebeslieder an deine Tante"
Reptiphon (Broken Silence), 2020
Wirklich Mut macht diese CD beim ersten Hören nicht. Krämers
"Liebeslieder an Deine Tante" ist trotzdem ein Meisterwerk der
hinterhältigen Lyrik und der musikalischen Feinfühligkeit. Krämer
streckt keinen Zeigefinger in die Luft oder ermahnt den Hörer ein
besserer Mensch zu werden. Man bemerkt bei ihm eher ein zaghaftes
Schulterzucken. "Menschen sind halt so", scheint er zu sagen. "Man muss
sie ja nicht mögen." Und doch, neben aller Melancholie, die man in den
Stücken hört oder ahnt, schwingen liebevolle Momente auf, wie besonders
im Text des Songs "Kein Liebeslied für Dich" oder bei "Mit dazu" zu
Hören ist.
Der in Berlin lebende Chansonnier besitzt einen berührend altmodischen
morbiden Charme. Neben seiner pointierten Klavierbegleitung lässt er
kammermusikalische Perlen erklingen. Es sind wunderschöne
Streicherarrangements, die seine Songs untermalen. Dafür zeichnen das
Streichquartett Bowhème und die Sonnenunter-Gang verantwortlich. Nahezu
klassisch kommt uns Krämer im "Neuen Reiselied". Hier glaubt man fast,
Mozart hätte Heinrich Heine vertont. Krämers Tochter Hedwig kommt
ebenfalls zum Zuge. "Frau Zielinski und der Finsterling" wäre ein
wunderschönes Kinderlied, wäre der Text nicht eine Analyse einer
klinisch depressiven Grundschullehrerin aus der Sicht einer
Heranwachsenden.
Krämers Lieder sind selbst in den bizarren Momenten, an den Stellen, an
denen andere Liederdichter in die Resignation abgleiten, so harmonisch,
dass man in einen verhaltenen Freudentaumel verfällt und dabei wieder
Hoffnung schöpft. Und sei es nur, weil Krämer einem das Gefühl gibt,
dass die deutsche Sprache immer noch ihre schönen Seiten hat.
© Karsten Rube
Singadjo "Tango bis zuletzt"
Jigit! Records, 2019
Neun Köpfe zählt die Kölner Band Singadjo - davon einer weiblich. Was
der Band sonst noch an Diversität fehlt, versuchen sie, musikalisch
wettzumachen. Dass die Musik straßentauglich sein soll, ist nicht zu
überhören. Ihre Mischung aus Balkanbrass und Folklore (und einem Tango)
versucht die Sehnsucht nach der Vielfältigkeit der großen weiten Welt zu
wecken. Ihre Instrumente beherrschen die Musiker bravourös. Der Gesang
jedoch bleibt blass. Die Texte möchten gern die bissige Lyrik
gewichtiger Liedermacher besitzen. Doch mehr als nur ein Titel gefällt
sich in Fäkalpoesie. Dem Album, das sich als "kritisch, aber mit Witz
fürs Detail" und mit "wortakrobatischem Tiefgang" anpreist, mangelt es
vor allem an ironischer Selbstreflexion - sieht man vom Titel
"Ethnopluralist" mal ab. Singajos Album "Tango bis zuletzt" wirkt
textlich, wie musikalisch wie der Anblick einer Jeans mit aufgerissenen
Knien. Überraschungsarm und ziemlich beliebig.
© Karsten Rube
Sväng "Plays Tango"
Galileo Music, 2018
Der Unterschied zwischen finnischem und argentinischen Tango besteht in
der Melancholie. In Argentinien ist man hoffnungsvoll und
leidenschaftlich. Der finnische Tango ist ebenfalls leidenschaftlich,
allerdings ist er auch von einer Melancholie gesättigt, die schwer und
unheilbar wirkt. Tanzbar ist er trotzdem. Das Quartett Sväng spielt auf
ihrem aktuellen Album Tangos aus den beiden Ländern, die die Erfindung
des Musikstils für sich deklarieren. Und das auf die denkbar
ungewöhnlichste Weise. Alle vier Musiker sind virtuose Meister auf der
Mundharmonika. Und so hören wir auf der CD "Play Tango" elf Tangos, die
mit großer Leidenschaft ausschließlich auf Mundharmonikas vorgetragen
werden. Bemerkenswert ist die Klangvielfalt, mit der die
Interpretationen ausfallen. Bandoneon, Schlagzeug, Klavier, all das,
womit man den Tango herkömmlich in Verbindung bringt, fehlen auf dem
Album, fehlen dem Hörer jedoch nicht. Der Vorteil der Instrumentierung
liegt auf der Hand. Engagiert man die vier Musiker für einen Tanzabend,
benötigen sie nur eine kleine Ecke und stehen den euphorischen Tänzern
nicht im Weg.
© Karsten Rube
Ugagn "Vengjeslag"
Heilo, 2017
Norwegens zerklüftete Landschaft bringt es hervor, das viele Regionen
nur schwer zugänglich sind. Über Jahrhunderte blieben Dörfer, Täler, in
Fjordausläufern entstandene Siedlungen weitgehend abgeschieden und
unbehelligt. Entsprechend entwickelten sich regional eigenständige
Kulturen. Im Setesdal, einem wasser- und bergreichen Landstrich im Süden
Norwegens angesiedelt ist die Folkband Ugagn. Auf ihrem Album
"Vengjeslag" haben sie ein paar Melodien aus dieser Region
zusammengetragen. Tänze, Lieder aus der Zeit des 19. Jahrhunderts sind
zu hören. Gitarren, Mandoline, Kontrabass, Percussion begleiten den
einfühlsamen Gesang von Sigrid Bjørgulvsdotter Berg. Kirsten Bråten
Berg, die Mutter von Sigrid und einehervorragende Folksängerinnen
Norwegens ist ebenfalls auf diesem ruhigen Album zu hören.
© Karsten Rube
Vimma "Meri ja avaruus"
Eclipse Music, 2019
Kurz und prägnant ist das Debütalbum "Meri ja avaruus" des finnischen
Folk-Pop-Ensembles Vimma. Die Damen und Herren aus Helsinki verbinden
gekonnt nordische Folklore mit progressivem Rock und lassen dabei eine
deutliche Klassikerfahrung durchscheinen. Die moderne Poesie in ihren
Liedern widmet sich aktuellen Themen, vor allem der Umwelt- und der
Klimaproblematik. Das musikalisch gezeichnete Bild Vimmas wechselt dabei
immer wieder absichtsvoll von beruhigenden Klängen zu hektischem Krach.
© Karsten Rube
Roland Neuwirth & radio.string.quartet "Erd'"
Preiser Records, 2019
Einst erneuerte Roland Neuwirth[58] mit seiner Kapelle "Die
Extremschrammeln" die österreichische Volksmusik. Nach über vierzig
Jahren war dann Schluss. Doch ein wahrer Musiker geht nicht in Rente und
hängt das Instrument und die Musik an den Nagel. Für Neuwirth begann
eine Erneuerung. Und so spielte er mit dem Radio.String.Quartet ein
Stück eigenwilliger jazzbetonter Kammermusik ein. "Erd" heißt das Album.
Textlich knallt er dem Hörer bodenständige Poesie vor den Hut. Man muss
sie nur aus dem Dialekt heraushören.
Saftig, ungehobelt, kantig lässt er den Hörer an seiner alles andere als
geläuterten Lebensphilosophie teilhaben. Die brillanten Arrangements des
Streicherquartetts tragen Neuwirth dabei auf eine künstlerische Höhe,
die ihm mit den Extremschrammeln verwehrt blieb. "Erd" ist großes Ohrenkino.
© Karsten Rube
Rafael & Energia Dominicana "Enamrarse en la playa"
ARC Music, 2017
"Enamoras en la Playa", das ist der Soundtrack, der Lust auf blaues
Wasser und einen sauberen Karibikstrand macht. Musik für eine
ausgelassene Sommerliebe. Also derzeit realitätsferne Erinnerung. Wer
mag schon bei 35 Grad mit Mund-Nase Schutz kontaktverbotener Weise über
angeschwemmten Plastikmüll spazieren gehen. Aber man wird ja wohl noch
Träumen dürfen. Rafael & die Energia Dominicana unterstützen dies mit
einer CD voller ausgelassener Merengues, Bachatas, Salsas und anderen
hüftschädigenden Bewegungsformen. Rafael Arias heißt der Musiker, der
sich hinter dem Pseudonym Rafael verbirgt. Er wohnt seit einiger Zeit in
Montreal, eine Stadt, die nicht gerade für ihre tropischen Sommernächte
bekannt ist. Wohl deshalb legt er sich so ins Zeug und produziert seine
Musik mit der Würze einer Chillischote. Pikant, scharf, feurig und stark
schweißtreibend.
© Karsten Rube
Hubert von Goisern "Zeiten & Zeichen"
Capriola/Blanko Music, 2020
Hubert von Goiserns neues Album "Zeiten & Zeichen" ist geprägt von einer
Vielfalt, die man dem Österreicher nicht immer Nachsagen konnte. Doch im
Laufe seiner bereits lange währenden musikalischen Reise, haben sich
Erfahrungen und Erkenntnisse angesammelt, Ideen und Träume verfangen,
die nun in einem Destillat ihren künstlerischen Ausdruck finden. Das
beginnt kräftig mit einem Lied über den im KZ ermordeten Librettisten
Fritz Löhner-Beda. "Freunde" ist eine berührende Geschichte über
Freundschaft und deren Verrat. Operette vermengt Goisern hier mit Rap
und so treffen neben dem Volksmusikexperten auch der Rapper Dame und der
Tenor Andreas Schager zusammen. Später auf dem Album wechselt Goisern zu
Elektro-Oriental, macht einen Latinpopsong, in dem er über Eisbären
singt und greift auch tief in die Schmalzkiste, wie in "Grönlandhai" und
"Novemberpferde". Seinen Witz hat er nicht verloren, wie er zuletzt mit
dem von Kindern begleiteten Lied "Tierische Polka" beweist. Das Album
"Zeichen & Zeiten" zeigt Hubert von Goisern in Bestform.
© Karsten Rube
Oumou Sangaré "Acoustic"
Nø Førmat!, 2020
Als Oumou Sangaré ihre erste selbst aufgenommene Kassette auf den Markt
brachte, glaubte wohl kaum einer, dass die Frau aus Mali knapp 30 Jahre
später eine der wichtigsten Musikerinnen des afrikanischen Kontinents
sein würde. Das Album "Mogoya" stellte für sie alles auf dem Kopf. Von
ihren traditionellen Wurzeln sah sie sich spätestens, als Beyoncé sie
sampelte, weiter entfernt denn je. Popkultur war nicht das, was die
einstige Wasserverkäuferin aus den Straßen Bamakos mit dem ausgeprägten
politischen Bewusstsein für sich akzeptieren wollte. 2020 nahm sie Teile
des Albums "Mogoya" erneut auf. Diesmal in einer Akustik-Version, die
sich gänzlich auf die traditionelle Vortragsweise ihrer Heimatregion
Wassoulou besann. Die neun Songs beschreiben die gesellschaftlichen
Missstände in Mali, die grassierenden Vorurteile, der polygamisch
geprägte Umgang mit den Frauen. Die Kämpferin setzt ihre Stimme ein,
klar und frei. Die Band agiert ebenso. In zwei Tagen wurde das Album
"Acoustic" größtenteils live und ohne großen technischen Überbau
eingespielt. Die Schlichtheit der Songs sind die große Stärke des
Albums. Musik von überwältigender Ehrlichkeit.
© Karsten Rube
Trio Tekke "Strovilos"
Riverboat Records, 2020
Trio Tekke serviert mit dem Album "Strovilos" eine geschmackvolle
Portion Neorempetiko, gewürzt mit einer guten Prise Rock. Verantwortlich
für diese anregende CD ist Antonis Antoniou, der auch federführend bei
der Band Monsieur Doumani ist. Antoniou ist momentan der vielleicht
umtriebigste Künstler der zypriotischen Folkmusik. Der Unterton der
Songs bleibt in der Melancholie des Rembetiko verwurzelt. Doch die
rockigen und jazzigen Elemente, die die Musiker in die Kompositionen
einfließenlassen, geben den Songs einen wütenden Anstrich.
© Karsten Rube
Polkageist "Rückwärts durch die Geisterbahn"
Eastblok Music, 2019
Die CD "Rückwärts durch die Geisterbahn" haben die Polkageister 2019
aufgenommen. Dieses Album mit den mitreißenden Liedern, lässt auch im
völlig veränderten 2020 nichts an Aktualität zu wünschen übrig.
Politisch ambitioniert, menschlich und sehnsuchtsvoll polkern und punken
sich die Berliner Musiker durch eine Stadt, die auch im Lockdown nicht
zur Ruhe kommt. Sie thematisieren die Neue Rechte, die mittlerweile auch
in den öffentlichen Medien ihre Plattform bekommt. Sie singen über
Flüchtlinge und flüchten sich selbst auf den Humboldthain, um das Fehlen
von Vernunft zu beklagen. Die Gruppe Polkageist entstammt der
Weltoffenheit Berlins. Sie spiegelt die Vielfalt, der in dieser Stadt
frei agierenden Kulturen. Sie verbindet Balkanbrass, mit Punk und Polka.
Die Musiker treten lautstark für Klimaschutz und mehr menschliches
Miteinander ein und vergessen dabei nicht, die Leute zum Tanzen
aufzufordern. Und gehören damit zu einer Kultur, die auch in Zeiten, in
der man Kultur als nicht systemrelevant, für verzichtbar oder gar für
überflüssig hält, nicht untergehen wird.
© Karsten Rube