Andy F. "Morbus Google"
Beste Sonne, 2019
Millionen von Internetbenutzern leiden unter Morbus Google. Wann immer
ihnen eine Körperreaktion verdächtig vorkommt, wird das Internet
befragt, unter welcher unheilbar originellen Krankheit man leidet. Wer
dann zum Arzt geht, kann diesem gleich die Diagnose und die
Heilungschancen soufflieren. Freuen sich die Fachkräfte sehr drüber.
Morbus Google ist ein Zeitphänomen, bei dem man sich mit Halbwahrheiten
und gesammelten Fehlinterpretierungen ein Leben zurechtschustert, das
nur die schlechten Seiten für einen bereithält. Ein Thema, dem sich der
Schweizer Liedermacher Andy F. auf seinem zweiten Album widmet. Aber
auch den anderen großen zeitgenössischen Themen, die uns alle
beschäftigen, widmet sich der Züricher in Mundart. So geht's dem
Bachelor im Privatfernsehen ebenso ans Gemächt, wie den Papas, die als
Paparazzi Fotos ihrer Kinder im Internet veröffentlichen. Zu all diesen
digitalen Befindlichkeiten der Gegenwart poltert seine Band angenehm
analog und weckt damit ungewollt oder gewollt so etwas wie Nostalgie.
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The Bulgarian Voices - Angelite "Heritage"
Jaro Medien, 2019
Seit über 30 Jahren faszinieren die Stimmen des bulgarischen
Frauenchores - Angelite die Ohren der Welt. Die Polyphonie des
Balkanraumes findet in den Gesängen dieser Stimmen ihre wahren
Meisterinnen. Das Album "Heritage", das Jaro-Medien 2019
veröffentlichte, bringt viele Lieder aus der langen Tradition des
Bulgarischen Liedes wieder zu Gehör. Aber auch neuere Arrangements
finden sich auf diesem Album, das unter der neuen Leitung der Dirigentin
Katya Barulova entstand.
© Karsten Rube
Earlybird Stringband "...the walls are in your mind"
Voices of Wonder Records, 2019
Die von Einwanderern entwickelte Bluegrass- und Countrymusik besitzt
eine amerikanische Authentizität, dass man diesen Sound
fälschlicherweise als uramerikanisch bezeichnet. Doch es ist nicht der
Standort und auch nicht deren Herkunft, die darüber entscheiden, welche
Musik man mag, sondern das Herz. Musik ist nichts, was sich regional
eingrenzen lassen sollte. Und so hören wir denn ein ganz vorzügliches
Bluegrass-Album der Earlybird Stringband aus Norwegen. Passenderweise
trägt es den Titel: "...the walls are in your mind".
Es ist bereits das vierte Album der Gruppe aus Oslo, seit ihrem Debüt im
Jahr 2010. Die Songs werden getragen von gelungenen Harmonien, die der
Banjo-Spieler und Gitarrist Hans Martin Austestad arrangiert hat. Meist
sind es Eigenkompositionen, die den klassischen Countrymustern folgen.
Mit Banjo, Fiddle, Steelguitar und klaren Gesangsstrukturen gewebt,
klingen alle Songs wie bekannte und gern gehörte Klassiker. Zu den
eigenen Liedern gesellen sich drei Coverversionen, wobei "Amazing" die
überraschendste Wahl ist, handelt es sich dabei doch um einen
Aerosmithtitel. Was man allerdings auch beim zweiten Hören eher ahnt,
als erkennt. "...the walls are in your mind" ist ein kurzes Album mit
gut gelaunter Bluegrassmusik, die ansteckend wirkt.
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Emmi Kujanpää "Nani"
Nordic Notes, 2019
Als die finnische Sängerin und Kantelespielerin Emmi Kujanpää in
Bulgarien weilte, nahm in ihr die Idee einer Zusammenarbeit mit dem
bulgarischen Frauenchor der Mystère de Voix Bulgares Gestalt an. Sie
suchte sich aus dem jüngeren Kader des weltberühmten Ensembles einige
Stimmen heraus und produzierte das Album "Nani". Die Naturverbundenheit
der reinen Stimmen des Frauenchors und die ebenfalls
traditionsverbundenen Gesänge Finnlands passen hervorragend zueinander.
Das Album trägt sich mit der weiblichen Sicht der Welt, beleuchtet in
stimmlich wandelfreudigen Variation. Den wichtigen Themen verleiht sie
musikalisch Ausdruck, wie Freude, Leid und Sehnsucht, sowie der
Schönheit der Liebe. Und dann auch der Kehrseite aller Leidenschaft, dem
Schmerz, die Einsamkeit und Metoo-Erfahrungen. Musikalisch ein
transeuropäisches Glanzstück.
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Julia Schüler & Evin Küçükali "Katiju"
Eigenverlag, 2018
Die Gitarristin und Musiklehrerin Julia Schüler verfolgt mehrere
weltmusikalische Projekte. So folgt sie einerseits mit dem Ensemble
Madeia den brasilianischen Kulturen, widmet sich mit Katiju allerdings
mehr der orientalischen Musik. Sie spielt selbst die Klassische Gitarre
und überlässt der Sängerin Evin Küçükali weitgehend die türkischen und
kurdischen Gesangspassagen. Kontrapunkte setzen die beiden Frauen, wenn
sie plötzlich Lieder von Baden Powell und Vinicius de Moraes
interpretieren und die orientalische Melancholie mit der brasilianischen
Saudade vertauschen. Das Duo, das sich 2016 auf der Dresdener
Musikhochschule fand, entführt den Hörer mit leisen Tönen und
sentimentalen Liedern in zwei Kulturen, die gegensätzlicher scheinen,
als sie es sind.
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Kronos Quartet & Masha & Marjan Vahdat "Placeless"
Kirkelig Kulturverksted, 2019
Das Kronos Quartet beschreitet immer wieder gern Wege, die die Klassik
mit Formen von Weltmusik und traditionellen Klängen verbindet.
Auf dem aktuellen Album "Placeless" haben sich die vier amerikanischen
Streicher mit den iranischen Sängerinnen Masha und Marjan Vahdat
zusammen getan und persische Lyrik klassisch vertont.
Der Dichter Rumi ist die universelle Leitfigur der persischen Dichtung.
Immer wieder finden sich Vertonungen seiner Gedichte und Gesänge in den
aktuellen Produktionen von Weltmusik und esoterischer Beklangräucherung.
Glücklicherweise sind die beiden Sängerinnen und auch das Quartett auf
diesem wunderschönen Album weit vom Gedanken entfernt, ein Yogastudio zu
beschallen. "Placeless" ist vielmehr eine kammermusikalische
Offenbarung, die sich der Grenzenlosigkeit von Musik hingibt, die sich
dagegen wehrt, örtlich oder regional vereinnahmt zu werden. Die
Liebeslyrik eines Rumi, die Auflehnung gegen die Scheinheiligkeit, wie
sie im Text des iranischen Dichters Hafez zum Tragen kommt, das
aufrichtige Gedicht der Filmemacherin Forough Farrokhzad und die Texte
von Atabak Elyasi sind vielleicht Ausdruck regionaler Momente. In der
Interpretation des Kronos Quartets und mit der Ausdrucksstärke von Masha
und Marjan Vahdat erreichen sie jedoch das Herz des aufmerksamen Zuhörers.
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Lamia Bedioui & Solis Barki "Fin’amor"
Eigenverlag, 2019
Lamia Bedioui ist derzeit wohl die interessanteste Stimme des
Mittelmeerraumes. Die aus Tunesien stammende Sängerin lebt in
Griechenland. Ihre kulturelle Heimat kennt aber keine Grenzen. Die Suche
nach dem Ideal der Kunst des mediterranen Raumes steht auch beim
aktuellen Album "Fin'amor", dass sie mit Solis Barki aufgenommen hat,
ganz im Vordergrund. Die Musik verbindet sephardische Traditionen mit
denen aus der Balkanregion. Klänge aus Palästina gehören ebenso zum
Programm, wie Kompositionen aus Algerien und Frankreich. Die
weltmusikalische Ergänzung gibt es schließlich mit Klangbildern aus
Lappland, was zugegeben den mediterranen Einflussbereich etwas
überspannt. "Fin'amor" lehnt sich bewusst an die Ausdrucksformen der
Troubadoure Occitaniens an, in denen die Suche nach Ideal und Paradies
ewig währt.
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Massilia Sound System "Mix Tape"
Manivette Records, 2014/2019
Marseille ist Frankreichs Stadt mit der vielfältigsten kulturellen
Durchmischung. Deutlich macht es die Band, die wie kaum eine andere die
nicht immer komplikationsfreie Weltoffenheit der Stadt repräsentiert.
Massilla Sound System gießt seit 30 Jahren die Stile ihrer Heimatstadt
in einen Trog und lässt diese auf gut geheiztem Feuer garen. "Mix Tape"
verkostet nun Songs aus den Jahren 2014 bis 2019. Der für die Band
typische Reggae und der Rap, der sich in den letzten Jahren
dazugesellte, findet mit dem DJ Kayalik einen Experten für stimmige
Abmischungen. Massilla Sound System haben auch nach 30 Jahren noch lange
nicht ihre Würze verloren.
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Mile Twelve "Onwards"
Dolores Del Taurus Records, 2017
Mile Twelve ist eine junge, sehr agile Bluegrassband aus Boston, die
gerade mit ihrer CD "Onwards" für Aufmerksamkeit sorgt. Herausragende
Musikalität und eine gehörige Menge Spaß an der Musik hat die fünf
Musiker zu einem dieser Geheimtipps gemacht, die man einerseits allen
empfehlen, andererseits auch gern für sich behalten möchte. Wenn sie
richtig aufs Tempo drücken, kann man den Spielern kaum folgen, weil sie
wie ein Tornado übers Land fegen. Aber auch die etwas getrageneren
Countrysongs besitzen eine eigene emotionale Stimmung. "Onwards" besteht
hauptsächlich aus Eigenkompositionen, die sich eng am Strickmuster des
amerikanischen Bluegrass orientieren. Alles mitreißende Songs, sowie ein
paar abenteuerliche Instrumentalstücke.
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Otava Yo "Любишь ли ты?" (Liebst Du?)
ARC Music, 2019
Russisches Brauchtum in Liedgut gegossen, das klingt ein bisschen nach
Mütterchen Russland und Vater Don, nach Märchen in der Taiga. Otava Yo,
eine Gruppe aus dem quirligen St. Petersburg gehen genau mit diesem
Klischee erfolgreich hausieren. Vielstimmige Vokalharmonien russischer
Frauen verknüpft mit Dudelsäcken, Zither, Trommeln und Geigen bilden die
Grundlage für das neue Album der Band, das übersetzt soviel wie "Liebst
Du?", bedeutet. Neun traditionelle Volkslieder, die vom ländlichen Leben
erzählen, von Bräuchen und Gepflogenheiten, vom Handwerk und von der
Familie, haben die Musiker ausgewählt. So geht es mal fröhlich zu Gange,
doch scheint auch die russische Schwermut immer wieder durch die
Melodien. Die jungen St. Petersburger Musiker besitzen genau die
Mischung aus moderner Lebensfreude und Respekt vor den Traditionen, die
das Brauchtum am Leben erhält, ohne altbacken zu wirken. Otava Yo's
Musik grüßt mit einem freundlichen "From Russia with Love".
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Paula Harris "Speakeasy"
Blu Gruv Music, 2019
Frauen im Jazz und im Blues sind genauso unterrepräsentiert, wie in
anderen Bereichen der Gesellschaft, so sagt zumindest Eva Klesse,
ihrerseits deutschlandweit erste Instrumentalprofessorin für Jazz.
Inzwischen rücken sie nach und fallen vielleicht deshalb auf, weil sich,
unterrepräsentiert, wie sie nun mal sind, eher Qualität durchsetzt und
für Aufmerksamkeit sorgt. Paula Harris fällt da besonders auf. Die
Sängerin besitzt eine enorm kräftige aber auch sehr warme Stimme. Ihre
Songs auf dem Album "Speakeasy" sind häufig von ihr getextet und
behandeln das Thema Nummer eins im weiblichen Jazz: die Gefahr und die
Verlockung, die Liebe mit sich bringt und der Schmerz, wenn es mal
wieder nur eine Illusion war. Begleitet wird Harris vom meisterhaften
Pianisten und Arrangeur Nate Ginsberg, der die meisten Songs auf diesem
bluesig, jazzigen Album komponiert hat. Ein paar Klassiker hat Harris
auf dem Album auch im Gepäck, wie "Is you or is you ain't my Baby" von
Louis Jordan und "I love you more than you'll ever know" von Donny
Hathaway. "Speakeasy" ist ein wunderbares Album für die Zeit kurz nach
Mitternacht.
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Rising Appalachia "Leylines"
Eigenverlag, 2019
Zwar sitzen die Wurzeln der beiden Schwestern Chloe und Lea Smith tief
in den Appalachen, jenem Gebirgszug, der den Osten der USA von Süden
nach Norden durchzieht und Wanderer, wie Aussteiger gleichermaßen zum
Träumen bringt. Das Leben der Einwohner selbst, ist oft aber alles
andere als traumhaft. Trotzdem finden Rising Appalachian in den Songs
ihres Albums viele freundliche Töne. Sie setzen zunächst auf Folk und
Bluegrass, doch weht auch durch ihre Musik der Wind der Ferne. Als
erfolgreiche Reisende lassen sie einige frische Töne in ihre gut
gelaunte CD einfließen und verwenden neben dem klassischen
Countryinstrumentarium, wie Gitarre und Banjo auch Cello und
afrikanische Trommeln.
Das Album "Leylines" ist bereits das siebente Studioalbum der Band
Rising Appalachian. Den Musikern gelingt es auf ganz harmonische Weise,
fremde Kulturen und Heimatverbundenheit innerhalb einer glückseligen
knappen Stunde zu verbinden.
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Romper "Sifting through the Rubble"
Eigenverlag, 2012
"Die Trümmer durchsieben" übersetzt man das Album der amerikanischen
Indieband Romper. Paul Freeman als Kopf der Gruppe hat diese CD seiner
alternativ agierenden Band bereits 2012 produziert. Doch noch immer
geistert diese Neopunkplatte in meinem Kopf herum. Freeman gräbt darin
Fundstücke längst vergilbter Musikströmungen aus den Trümmern der
Jahrzehnte. Splitter von Grunge, Indie, Elektropop und Metal zieren
seine zurückhaltenden Arrangements. Die Songs sind weder frei von
politischen Statements, noch von Satire, besitzen aber leider keine
schlagkräftigen Aufrufe zur Rebbelion. Stattdessen wirkt die Stimmung
des Albums im Gesamteindruck resigniert.
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Schmidbauer, Pollina und Kälberer "Süden 2"
Jazzhaus Records, 2019
"Süden 2" ist ein gemeinsames Projekt der Musiker Werner Schmidbauer,
Pippo Pollina und Martin Kälberer. Schon vor Jahren hatten die drei
Profis mit "Süden" ihre Gemeinsamkeiten erkundet und musikalisch
aufgearbeitet. Nun ist mit "Süden 2" ein Neustart dieses Projektes
erschienen. Diese anmutige Mischung aus Pop, Folk und Canzone besteht
aus sehr persönlichen Momenten, aus Ideen vom Aufbruch in ein neues
Leben und von Bestandsaufnahmen des bisherigen. Die Sehnsucht nach der
erträumten Leichtigkeit des Seins im Süden klingt dabei stets durch. Die
Lieder strahlen eine Melancholie aus, die allerdings von Hoffnung
durchzogen ist. Auch wenn sie vom Winter singen, träumen sie doch vom
Frühling.
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Sonny Axell "Kick Back"
Azur Music Production, 2016
Hört man das Album "Kick Back" des ambitionierten Soulmans Sonny Axell,
weiß man sofort, dass das nur aus einer amerikanischen Soulschmiede
kommen kann. Spätestens beim Lesen des Booklets muss man sich eines
Besseren belehren lassen. Der Musiker stammt aus St. Etienne in
Frankreich. Seinen musikalischen Stil nennt er Funky Contemporary Jazz.
Seine mitreißenden Arrangements sind funklastig, laut, rhythmisch betont
und schäumen vor Energie beinahe über. Satte Bläsersätze und pointierte
Gitarrenriffs prallen auf eine gefühlvolle Stimme, die auch mal in eine
wunderbar sentimentale Gemütslage gleiten kann, wie er mit dem Song
"Empty Faces" beweist. "Kick Back" ist fröhlicher Überschwang mit viel
Gefühl.
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VocaMe "Cathedrals"
Note1Music, 2018
Mit geistlicher Musik aus der Hochgotik verführt uns das Ensemble VocaMe auf ihrem Album "Cathedrals". Die Gesänge der vier Stimmwunder, die
sich unter dem Direktorat des Multiinstrumentalisten Michael Popp
zusammengefunden hat, bringen dem Hörer das Gefühl nahe, sich in einer
der hohen Kathedralenräume wieder zu finden und einer gesungenen Messe
beizuwohnen. Die Stimmhöhen beschränken sich im Ensemble ausschließlich
auf Sopran und Mezzosopran. Im Klangspektrum der Kathedrale hallen die
Lieder durch große offene Räume. Laute, Drehleier und die persische
Kastenzither Santur veredeln die harmonischen Gesänge. "Cathedrals" ist
eine einstündige Klangreise in die Zeit des Mittelalters.
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Melisande "Les Myriades"
Borealis Records, 2019
In Quebec hält man Traditionen ein wenig anders als in Europa am Leben.
Die Einwanderungskultur des einzigen frankophonen Bundeslandes Kanadas
ist äußerst reichhaltig und selbst im Vergleich zum größten
Einwanderungsland der Welt, den U.S.A., einzigartig. So lebt vor allem
das keltische Erbe der Einwanderer aus Westeuropa in Quebecs
traditioneller Musik fort. Doch gern verbinden die Musiker diese mit
modernen Stilmitteln. Melisande, ein kreatives Ehepaar bestehend aus
Sängerin Mélisande Gélinas-Fauteux und dem Soundspezialisten Alexandre
de Grosbois-Garand, hat sich für ihr musikalisches Experiment
bretonische und quebecoise Volkslieder vorgenommen und diese durch den
Elektromixer geschreddert. Electrotrad nennen die beiden ihr Ergebnis
folgerichtig. Die Mischung der Zutaten ist jedoch ausgewogen genug,
Folkfreunden und Dancehouseenthusiasten gleichermaßen Spaß zu bereiten.
Melisandes Gesang folgt den Mustern der franko-keltischen Harmonien
konsequent, bedient aber ebenso die Attitüden des französischen Pops.
Die traditionellen Elemente treten durch Maultrommel und Flöte gut
hervor und werden durch den Gastgeiger David Boulanger (De Temps Antan)
verfeinert. Ganz harmonisch schwimmt diese Mischung auf einem sauber
gesamplten Bett aus Electrobeats und Soundprogrammierungen, die
Alexandre "Moulin" de Groibois-Garand als künstlerischer Kopf des
Produktes angerichtet hat.
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Kaja "Origo"
Kakafon Records, 2019
Die schwedische Gruppe Kaja veröffentlicht mit ihrem vierten Album
“Origo” ein Werk kammermusikalischer Folklore mit cineastischem
Hörgefühl. Eigentlich von Klezmer und osteuropäischer Musik
beeinflusst, hat sich das Trio nun vermehrt der Klangästhetik
Nordeuropas gewidmet und eine unterschwellig köchelnde Leidenschaft
für Jazz und Tango mit in die Melange einfließen lassen. “Origo”
schwelgt in langen fließenden Bildern, lässt musikalisch Dynamik mit
dramaturgischer Präzision anschwellen, reflektiert im wonnigen
Wechsel Leben und Tod, Leidenschaft und Leid mit zügellosem Tango und
schwindeligem Walzer. Die atemberaubenden Klanglandschaften werden
von der fünfsaitigen Violine Livet Nords, dem Akkordeon von Camilla
Aström und dem Bass Daniel Wejdins getragen.
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Cristina Branco "Branco"
O-Tone Music (Edel), 2018
Dass Portugal im europäischen Kontext etwas anders tickt, als der Rest des Kontinents, lässt sich an mehreren Eigenheiten erkennen. Die Portugiesen haben sich vollständig vom europäischen Rettungsschirm befreit, der nach den Finanzkrisen das Land lähmte, sie besitzen keine nennenswerte rechtsorientierte politische Strömung, die das Land spaltet und Portugals Musik ist eigenwillig genug, um mit einer emotionalen Schnulze den Eurovisionscontest zu knacken.
Portugal besitzt viele hervorragende Musiker und nicht alle machen Fado. Das junge Portugal, das irgendwie das Gefühl vermittelt, im Aufbruch zu sein, wenn auch noch mit unklarer Orientierung, bringt Künstler hervor, die ihre musikalischen Markierungssteine setzen. Cristina Branco gehört bereits seit Jahren zu den Künstlerinnen, die den Fado genauso souverän beherrschen, wie das Chanson. Sie hat sich für das als Trilogie angelegte Projekt mit Liedern portugiesischer Allstars von zahlreichen Künstlern Songs schreiben lassen. Mit "Menina" begann dieses Projekt. "Branco" ist die gelungene Fortführung. Cristina Brancos Interpretationen sind jazzorientiert, finden ihre deutliche Leitlinie jedoch im Neofado. Das Timbre ihrer Stimme schwingt sich in sanfte Höhen hinauf, leicht und verletzlich klingend und stürzt sich ebenso freimütig in auslotbare Tiefen. Melancholische Momente werden auf der Platte gestreift, fröhlichere herausgehoben. Die lusophone Sentimentalität bleibt gewahrt, ohne ins Leiden abzudriften. Die portugiesische Gitarre würzt die Luft mit der hellen, freundlichen Verspieltheit, die ihr so eigen ist. Cristina Branco verzaubert. Erneut.
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Nicola Conte & Spiritual Galaxy "Let Your Light Shine On"
MPS/Edel Germany GmbH, 2018
Nicola Conte auf ein Genre festzulegen, wäre ein Fehler. Der Musiker aus Bari bedient keine Stile, sondern interagiert mit diesen. Nicht erwartungsgemäß zu klingen treibt sein musikalisches Schaffen an. Hat er sich noch vor einiger Zeit mit den brasilianischen Einflüssen auf die Musik beschäftigt und Easy Listening mit Bossa und Clubsounds kombiniert, sucht er seinen Ansatz auf dem Album "Let your Light shine on" im Afrobeat. Klangmuster aus Funk- und Soul, Bläsersätze aus Afrojazz bestimmen den Sound dieses Meisterwerkes. Percussive und spirituelle Elemente des Afrobeats finden sich in den Songs. Und doch ist es kein Weltmusikalbum. Es ist eher ein verwirrend schönes Dancealbum mit starken Jazzambitionen und einer Basisinspiration durch Melodien des afrikanischen Kontinents. Die Band Spiritual Galaxy lässt mit pointierten und harmonisch arbeitenden Bläsersektionen und treibender Perkussion den Geist von Fela Kuti wach werden. Die Gitarre Contes bleibt zurückhaltend, aber themenbestimmend. Die Stimmen der vier Sängerinnen wirken mal beschwörend, mal betörend. Nicola Conte gelingt es dabei, allen musikalischen Klischees aus dem Weg zu gehen. Er jongliert gekonnt mit den Stilelementen und kreiert damit ein eigenes sehr spirituelles Klanguniversum.
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Elvis Costello "Look Now"
Concord Records, 2018
Für das Album "Look Now" wärmte Elvis Costello seine alte Freundschaft mit der Komponistenlegende Burt Bacharach auf. Beide hatten 1998 für das Album "Painted by Memory" einen Grammy gewonnen. Der Einfluss Bacharachs veranlasst Costello, die Rumpelgitarre stehen zu lassen und etwas mehr Gefühl zu zeigen. Das ist mit "Look Now" hervorragend gelungen. Leicht und doch rockig spielt er sich durch 16 Songs, die nach Britpop der besseren Sorte klingen, manchmal mit der orchestralen Erzählfreude der Beatles zur Hälfte ihrer Glanzzeit. 15 der Songs sind radioleichte Popsongs, einige mit Ohrwurmpotenzial. Nur den Ausflug in die französische Sprache den er auf die Bonus-CD gepresst hat, wirkt holprig und missglückt.
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Mayra Andrade "Manga"
Columbia, 2019
Der Name Mayra Andrade steht heute für die Musik der Kapverden so deutlich, wie einst der Cesaria Evoras. Doch während die Evora die traditionelle Linie der Kapverden bediente und die nostalgische Note der Inseln repräsentiert, war Mayra Andrade von Anfang an eine Erneuerin. Mit ihren weltläufigen Wurzeln, die sie von Kuba, über den Senegal, nach Frankreich und Deutschland schließlich wieder in ihre Heimat führten, bündelt sie breite Strömungen der Musik beidseits des Äquators. "Manga" birgt erneut Überraschungen. Die geläufigen folkloristischen Klänge ihrer Heimatinseln bereichert sie mit brasilianischen Klängen, Andenimpressionen, Elektronik und Reggae. Pop und Persönlichkeit finden ungeniert zusammen, Tradition und Moderne und das alles in der für sie typischen sprachlichen Vielfalt und ihrer unverwechselbaren Stimme aus kreolischem Samt.
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Club des Belugas "Strange Things on the Sunny Side"
Chin-Chin Records, 2019
Die Musik des deutschen Dancefloorjazzprojekts Club des Belugas einfach nur als Cool zu bezeichnen, würde der Sache nicht gerecht werden. Auf ihrem nunmehr elftem Album beweisen die Soundtüftler um Maxim Illion und Kitty the Bill, was für ausgezeichnete Musiker und Arrangeure an den Songkreationen beteiligt sind. Der Clubjazz, den man auf "Strange Things on the sunny Side" zu hören bekommt, ist stellenweise impulsiv bis ungezügelt, wie „Quapa“ gleich am Anfang klar zeigt. Der Song "Crazy Lazy Friday Afternoon" wirkt hingegen ziemlich lasziv. Brillante Bläsersätze und eine ausgeflippte Querflöte unterstreichen hier eine gewollt schwüle Atmosphäre. Das Gefühl, glückselig durch die Nacht zu tanzen, vermittelt Iain Mackenzie mit seinem Lied "There's Nothing but you", während der Song, "Running Life" gesungen von Ashley Slater, den aufdringlichen Schmelz eines Brusthaartoupets mit Goldkettchen besitzt. Sehr schön zu hören ist auf dem Album auch, wie sich der Wunsch der Sängerin Maya Fadeeva, sich in den Pool der Clubinterpreten einzupassen, erfüllt hat. Zwei Songs mit der charismatischen Stimme Mayas kann man auf der CD hören. Mit wie wenig Mitteln die Musiker eine zum Hinschmelzen cineastische Stimmung zaubern können, beweist der Schlusssong "La Taillade". Streicher, hintergründige Bläser, eine gleichmäßige Rhythmussektion und eine indische Trommel beschwören vereinnahmende Bilder von einem endlosen Horizont über blauem Wasser herauf. Die Covergestaltung ist erneut eine Augenweide, die Musik eine Ohrenweide. Für mich die bisher reifste CD vom Club des Belugas. Enorm unterhaltsame Brillanz.
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Le Vent du Nord "Territoires"
Borealis Records, 2019
Das Album "Territoires" ist feinster musikalischer Geschichtsunterricht. Le Vent du Nord aus Quebec, die im Moment wetterfestesten Vertreter der frankokanadischen Musikszene reisen in die Vergangenheit ihrer Heimat, singen von Not und Revolution, aber auch von Fabelwesen und allerhand Sehnsüchten. Die aufgekratzte Drehleier von Drehleierteufelchen Nicolas Boulerice, die wilden Fiddeln und das Akkordeon der Brunetbrüder sowie der typische Tapdance, der den Rhythmus der Songs antreibt, reißen den Hörer vom ersten Ton mit.
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Chiara Civello "Eclipse"
Kwaidan Records, 2018
Tony Bennett bezeichnete die Italienerin Chiara Civello als eine der besten Jazzsängerinnen ihrer Generation. Doch ihre Interpretationen eigener und vor allem klassischer Songs des zwanzigsten Jahrhunderts gehen weit über den Jazz hinaus. "Eclipse" verbindet ein paar der Regionen, zu denen sich Civello hingezogen fühlt. Sie lebte in Paris, den U.S.A., natürlich in Italien und immer wieder arbeitete sie mit brasilianischen Musikern zusammen. Man konnte sie vor zwei Jahren mit Gilberto Gil bei dessen Europastippvisite auf der Bühne erleben. Diese Vielfalt hört sich harmonisch an. Und so singt sie leichten Herzens "Sambarilove" und schweren Herzens "Parole, Parole". Italienischer Schlager klingt in der leicht jazzigen Interpretation von Chiara Civello plötzlich nach wunderbarer Musik, voller Schmelz und Sehnsucht und großen Augenblicken der Liebe und wirken dabei überzeugend frei vom klebrigen Kitsch, der den meisten Liedern der italienischer Gefühlssause mit Hitpotential anhaftet.
© Karsten Rube