FolkWorld #70 11/2019
© Karsten Rube

Alles kann anders sein

Tobias Thiele gibt den Liedermacher und ist dabei überraschend hinterhältig.

Auf dem ganzen Album, das den Namen: “Alles kann anders sein” trägt, meint man, den Mahner und Betroffenheitslyriker zu vernehmen. Dabei scheint tatsächlich alles anders zu sein. Thiele gießt in seine Lieder das volle Desaster der Gegenwart und lässt sie klingen, als würde ihm eine Gruppe Spätpupertisten in einem Umwelt- und Friedenscamp zu Füßen sitzen und ernst dreinblickend zu ihm aufsehen. Er trifft die richtigen Töne. Sein veritables Gitarrenspiel besitzt eine in Liedermacherkreisen seltene Exzellenz und es ist ja bekannt, dass nur wahre Meister sich in Satire üben sollten.

Tobias Thiele

Artist Video
www.tobias-thiele.com

Thiele singt, dass alle was ändern wollen, es aber so schwerfällt, sich selbst zu verändern. Ein wunderbarer Ansatz, den er auch gleich selbst bestätigt, in dem er äußert: “Wir lassen alle Waffen liegen …”. Er scheint glücklicherweise ein Feind der physischen Gewalt zu sein und verlegt sich auf die psychische. Er weiß, die Feder ist mächtiger als das Schwert. Und die Feder kann richtig schmerzen, besonders wenn Tobias Thiele, dieser Jan Böhmermann des Liedermachens, mit jener Feder bewusst und konsequent das Versmaß verstümmelt und Reime hervorbringt, die er geschickt gegen die nächstbeste Wand lenkt. Dem Namen “Snowden” das Wort “verboten” als Reimpartner zu vermitteln, gelingt nicht einmal in Regionen mit mitteldeutscher Konsonantenschwäche.

Das Lied “Komm”, aus dem dieses Beispiel stammt, gehört zu den herausragenden Agitpropsongs dieses Albums. Basierend auf einer Schachbrettmetapher nimmt er sich hier alle relevanten Zeitgeistprobleme mit hohem Wiederkäuungswert zur Brust, wie: Digitale Überwachung, Waffen, Plastemüll, Armut, Hunger, Lüge und chancenverpassend verstreichende Zeit und beendet dieses Lied mit rutschiger Doppeldeutigkeit: “Hier in dieser Welt regieren die Diebe, doch ich glaub immer noch an ‘ne Alternative.”

Auch andere kleine Textmodelationen lassen mich verzückt aufschrecken, wie vor einem Knetemännchen aus dem Kindergarten (lieb gemeint, aber schrecklich anzusehen), wie folgende Zeilen in dem Lied “Spaziergang” verdeutlichen:

Tobias Thiele

“… So weit weg, da kommst du her. 
Wo du hin willst, da will ich nicht mehr.” 

Und kurze Zeit später:

“Frag’ nicht wohin, wo lang,
Irgendwo kommen wir schon an, 
Wohin führt uns unser Spaziergang?”

Die gekonnte Verhohnepipelung des Liedermachens lässt der gut getarnte Satiriker Thiele im Lied “Der Singer-Songwriter” auffliegen, in dem er unter anderem singt: “… man hofft nach jedem Vers, das wär’s.”

Als Freund dezent verwirrender Ironie dachte ich mir schon nach zwei Songs des Albums: “Das kann er jetzt nicht Ernst meinen …”, und merkte schnell, hier steckt ein Schalk im Sänger. Aber ich kann mich auch irren - denn alles kann anders sein - und ich verkenne Thieles Ernsthaftigkeit. In diesem Fall: Entschuldigen Sie bitte, dass ich lachte.



Photo Credits: (1)-(2) Tobias Thiele (unknown/website).


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