FolkWorld #65 03/2018
© Karsten Rube

Dampfablassen mit Hiss

Wikipedia nennt unter dem Unterpunkt: wichtigste Vertreter der Polka Ernst Mosch und Stefan Hiss in einem gedruckten Atemzug. Der eine ein Vertriebener, der andere ein Getriebener. Während der eine seiner alten, verlorenen Heimat nachtrauerte, ist der andere gern weg, meistens unterwegs um, laut Liedtext: “bloß nicht in der Heimat begraben zu werden.” Die weite Welt da draußen hat es Stefan Hiss schon immer angetan. Er spielte in Texas und Mexiko, Rudolstadt und demnächst in Spenge-Bardüttingdorf. Zahllose Reisen haben Stefan Hiss und seine Band geprägt. Das aktuelle achte Album, das die Gruppe Hiss nun veröffentlicht hat, heißt “Südsee, Sehnsucht & Skorbut”, und ist ein wahres Potpourri der gediegenen Reiseunterhaltung. Diesmal dringt der Blick durch das ausgezogene Fernrohr über die Weiten der Sieben Weltmeere. Seemannsgarn von der akkurat getexteten Art geben sie zum Besten, eingepackt in Melodien, die den gewohnten Polkapfad manchmal verlassen, um auf den feuchten und sandigen Dünenwegen von Reggae, Cumbia und Shanty zu spazieren. “Südsee, Sehnsucht & Skorbut” lässt Fernweh aufkommen und das nicht nur, weil die Texte, denen wieder wunderbar der Spagat zwischen banal und absurd gelingt, von Seefahrerklischees und Abenteurerromantik nur so schäumen. Der “Rum” wird besungen, “Die Christliche Seefahrt”, und Freddy Quinns “Die Gitarre und das Meer” fehlt auch nicht. Dazwischen amüsiert sich die Kapelle bei “Sibirischer Liebe” und reist mit hohem Tempo von “Sansibar nach Santa Fé”. Musikalisch fährt die Gruppe wieder alle Geschütze auf, die man an Bord des Unterhaltungsdampfers Hiss klarmachen kann. Da ist die wandelbare Gitarre von Thomas Grollmus, der den Klang der Hawaiigitarre hervorzubringen vermag, aber auch Reggaeriffs und Westernstyle. Volker Schuh am Bass und der Perkussionist Bernd Öhlenschlägel geben eine bezaubernde Rhythmusgruppe ab, die melancholische Stimmungen ebenso dezent zu untermalen versteht, wie den treibenden Latinsound in der Cumbia “Si no me quieres no me engañes”. Michael Roth ergänzt die Songs mit seinem Mundharmonikaspiel, das zwar gern bluesorientiert ist, doch ohne Probleme in jedem Stile glänzen kann. Stefan Hiss singt mit rotzig frecher Stimme. Er gehört außerdem zu den exzellenten Musikern, die immer so tun, als wäre das Akkordeon nur ein Begleitinstrument zum Gesang. Tatsächlich bringt er virtuos alle Facetten des Instrumentes zum Klingen, fast beiläufig und doch mit hoher Präzision. Hiss’ Album “Südsee, Sehnsucht & Skorbut” ist vollgepackt mit süffisanter Sentimentalität und sonnigem Schalk. Ein echter Hiss. (Karsten Rube)

Artist Video
Hiss "Südsee, Sehnsucht & Skorbut", Eigenverlag, 2018

Hiss im Maschinenhaus der Kulturfabrik im Prenzlauer Berg/Berlin am 16. Februar 2018.

Mitte des 19. Jahrhunderts unternahm der menschliche Geist einen enormen Sprung nach vorn. Er erfand zahllose technische Gerätschaften, die ihm erfolgversprechende Möglichkeiten bescherten, den Nachbarn vom eigenen Größenwahn zu überzeugen. Er erfand Fahrzeuge, die den Menschen schneller von A nach B brachten, zum Beispiel auf großen Dampfschiffen von Europa nach Amerika. Kurz - es war die Zeit der Siegeszüge, die bekanntlich nur dann vorankommen, wenn genügend Verlierer auf der Strecke bleiben.

Hiss

Artist Video Hiss @ FROG

www.hiss.net

Zwei gewaltige Erfindungen haben sich damals auf den Weg gemacht, der Welt Unheil und Segen gleichermaßen aufzubürden: die Dampfmaschine und die Polka. Die Dampfmaschine, die als Antrieb für Züge, Dampfschiffe und zahllose Produktionsmaschinen ein neues Lebenstempo diktierte, wurde im Rhythmus der Polka adaptiert, kaum dass diese ihre böhmische Heimat Richtung Neue Welt verließ.

Hopsend, vorwärtsdrängend tanzten die Menschen im selben Takt, wie die dampfbetriebenen Kolben schlugen und ratterten. Alles im 2/4 Takt, der gleichmäßig dynamisch wirkt, weil jeder schwere Schlag gleich schwer ist. Dem Marsch nicht unähnlich, nur nichts so humorlos. Die Polka ist damit eindeutig die Musik der Dampfmaschinen - Steampolk - und genauso präsentierte sie sich auch, als Stefan Hiss und seine Gruppe im Maschinenhaus der Kulturbrauerei im Berliner Prenzlauer Berg am 16. Februar 2018 auftrat.

Dynamisch und mit treibenden Rhythmen präsentierte der Hans Dampf der Polka sein neues und doch wohlbekanntes Programm auf der Basis weiser Weltsichten, entstanden durch erlittene Qualen, geläutert durch Krisen und zu strahlendem Glanz gebracht durch das beständige Schmirgeln des Sandpapiers des Lebens. Mit lehrreichen Erläuterungen, gesprochenen wie gesungenen, versuchte er den anwesenden Polkahooligans die Polka als Rettungsring für Notfälle in allen Lebensbereichen, aber besonders auf hoher See nahezulegen.

Das Programm, das die zahllosen Reisen der Gruppe Hiss in alle Winkel der Welt offenbarte, besaß diesmal deutlich nautischen Charakter. “Südsee, Sehnsucht und Skorbut” heißt das neue Album, das sich im Reisegepäck der Musiker befand. Die christliche Seefahrt, in Segeltuch und Dampf gehüllt, die unendlichen Weiten der Meere und die unendlichen Weiten der Taiga spielten gleichermaßen eine Rolle, wie Seemannsgarn und bewusstseinserheiternde Getränke. Als unangefochtener Polkakönig weiß Stefan Hiss geschickt selbst Nautik und karibisches Flair in seine Musik einzuflechten. Die Polka ist schließlich der Shanty der Landratten, der Hafentango des Dreiseitenhofbauern, die getanzte Sehnsucht des Nichtschwimmers.

Da sangen alle Hauptstädter an diesem Abend mit, laut und nicht immer richtig, wenn aus und vor des Meisters Brust die Reisesehnsucht in treibendem Akkordeontakt und wie immer mit leicht dreckiger Stimme herausbrach und Bilder von Sansibar, Seefahrern, Rum und Leidenschaft entstanden und von sibirischer Kälte sowie ewiger, zumindest bis zum nächsten Morgen dauernder Liebe die Rede war. Erklärte Polkaköniginnen, 1,50 in der Höhe, aber mit einem Drehradius von geschätzt sieben Metern schlugen verzückt um sich, mutmaßliche Veganer sangen schwärmerisch den Genussmittel verherrlichenden Text von “Zeugen des Verfalls” mit. Luftgitarrenvirtuosen kopierten den Stil des Polkagitarristen Thomas Grollmus während seiner exzellenten Solomomente. Andere versuchten, die elegante Mimik des Bassisten Volker Schuh zu lesen.

Der Boden der alten Industriehalle vibrierte bei Speedpolka, federte bei Reggaepolk und schwankte beim gemeinsamen Schunkeln, das sich wie ein satirischer Protest gegen die industrielle Herstellung von Volksmusik ausnahm. Und natürlich verdrückte sich manch jung gebliebener Gast eine Träne während der Hommage an Österreichs größten Seefahrer Freddy Quinn.

Man hat die Gruppe Hiss in den letzten Jahren immer wieder versucht, mit großartigen Preisen und gerechtfertigten Würdigungen zur Ordnung zu rufen. Die Anmut der Jugend dahin, den Anforderungen der gesellschaftlichen Anständigkeit und Korrektheit nur widerwillig oder gar nicht nachkommend, ziehen die fünf Musiker trotzdem unbeirrt durch die Welt, um unter Zuhilfenahme ungebrochener Spielfreude Menschen mit unterschiedlichsten Lebensplanungen unterhaltsam klarzumachen, dass das Leben viel mehr Dampf besitzt, als ein hipper Selbstgeiselungstrend zu unterdrücken vermag. Dafür gebührt ihnen Dank und Anerkennung.



Photo Credits: (1) "Südsee, Sehnsucht & Skorbut" (unknown/website); Hiss @ Maschinenhaus der Kulturfabrik im Prenzlauer Berg, Berlin, 16. Februar 2018 (by Karsten Rube).


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