FolkWorld Ausgabe 42 07/2010

FolkWorld CD Kritiken

Soledad "In Concert"
Label:
ENJA-Records; 2010; 13 Tracks; 62:44 min
Siehe auch die englischsprachige
Rezension in dieser FW-Ausgabe
An Astor Piazzolla, dem Gottvater des Tango Nuevo, versuchen sich Tango-Interpreten immer wieder. Es ist in etwa so, als würden die Anhänger von Religionen ihre jeweiligen Religionsstifter zitieren. Mit großer Ehrfurcht, ja fast mit Angst wagen sich einige Tango-Anhänger an die Stücke Piazzollas. Und ich habe schon einige ehrliche Anhänger des Tango Nuevo scheitern sehen müssen. Nicht so die Musiker von Soledad, einem Ensemble aus Brüssel, das seit Mitte der neunziger Jahre mit dem Ziel auf die Bühne geht, Piazzolla nicht abgöttisch zu verehren, sondern zu interpretieren. Mit Bandoneon, Violine, Klavier, Gitarre und Kontrabass sind sie für den Tango-Nuevo klassisch aufgestellt. Sie vertiefen sich energisch in den Tango-Nuevo, lassen Piazzollas Werke akzentuiert und passioniert lebendig wirken. "Oblivion" eines der Meisterwerke Piazzollas ist eine Komposition geschaffen für eine nach oben offene Messskala interpretierter und gefühlter Leidenschaft.
Soledads Version auf dieser Live-CD ist darauf ein emotionales Erdbeben. Soledad sind über das Stadium der Piazzolla-Verehrung längst hinaus. Sie leben den Tango-Nuevo dort weiter, wo Piazzolla ihn an seinem Lebensende leider verlassen musste. Doch auch Kompositionen anderer Musiker, auch solcher, die nicht als typische Tango-Nuevo ausgewiesen sind, wie Igor Stravinski und Egberto Gismonti verwandeln sie mit viel Esprit zu musikalischen Feuerwerkskörpern, die aufsteigen, leuchten und nicht verpuffen. Manche sind dabei von einer strahlenden, wenn auch schwermütigen Schönheit. Hier fällt die Gismonti-Komposition "Memória e Fado" auf. Da liegt die Schwermut bereits im Titel. Bei Soledad treffen jazzige Nuancen gekonnt auf Kammermusik. Manch experimentelle Spiellaune ist hier durchaus auch eine originelle. Und schließlich wagen sie es neben den Kompositionen der Meister eigene Werke aufzuführen, die denen der "Großen" in nichts nachstehen. Gleich der erste Titel des Albums "Moon Mist" stammt vom Akkordeonisten der Band Manu Comté. Dieser Titel besitzt die in Aufregung versetzte Stimmung eines Abends in Buenos Aires.
Melancholisch und doch von einer fast gewalttätigen Leidenschaft. "Tio", eine Komposition des Pianisten Alexander Gurning ist ein sehr schwärmerischer moderner Tango, mit weinender Geige und etwas nebulös wirkendem Klavierspiel. "Geai" ist wieder eine Komposition von Manu Comté. Das ist mal ein richtig heutiger Tango-Nuevo. Sollten manche der wunderbaren Piazzolla-Kompositionen manchmal so nostalgisch klingen, wie verfallene schäbige Altstadtgassen riechen, so ist "Geai" die olfaktorische Entsprechung eines Parfüm gesättigten Abschieds an einem nieseligen, die Hitze einer durchliebten Nacht kühlenden Morgens am Rande einer noch schlafenden Avenida.
Soledads auf CD gebannter Live-Akt ist etwas, was es so gar nicht geben dürfte: gebrannte Leidenschaft.
www.soledad.be
Karsten Rube


Acho Estoly "Buenosaurios"
Label:
Galileo Music; 2010; 16 Tracks; 45:47 min
Acho Estol stellt mit seiner zweiten Tango-CD "Buenosaurios" eine moderne Version des ewig jungen Tango Argentino vor.
Der Tango Argentino ist eine Lebenseinstellung und kein steifbeiniger Tanz. In die Jahre gekommen, ist er jedoch nie gealtert. Trotz Hip-Hop und Technowellen bleibt der Tango die moderne Musik der Argentinier von Buenos Aires, wandelt sich, passt sich an und bleibt doch er selbst. Unter den ganz jungen Leuten mag der Tango nicht übermäßig populär sein, doch wie Acho Estol am eigenen Geist bemerkte: "... spätestens mit dreißig packt er dich ...". Dass Estol mit Rock angefangen hat, schimmert immer noch durch. Aber Tango verträgt es ruppig angefasst, zerpflückt und ausgezogen zu werden. Auch mit verzerrten E-Gitarren kann man nicht verhindern, dass der Tango seine schmutzige Leidenschaft zeigt. Die wimmernde Geige und das Bandoneon sorgen schon dafür, dass die weiche Seele und das wild klopfende Herz dieser Musik nicht zu überhören sind. Es ist Acho Estol mit "Buenosaurios" sehr gut gelungen argentinische Gegenwartsmusik zwischen Rock, Avantgarde und Klischee anzusiedeln, ohne einer der Richtungen zu verfallen. Am Ende ist "Buenosaurios" trotz aller verwendeten Stilmittel eine reine Tangoplatte, denn Tango ist, wie oben erwähnt eine Lebenseinstellung und nicht nur ein Tanz.
www.myspace.com/achoestol
Karsten Rube


Grupo Fantasma "El Existential"
Label: NAT GEO MUSIC; 2010; 13 Tracks; 48:34 min
Wenn man schon keinen Sommer vorm Balkon bekommt, so holt man ihn sich ins Haus. Was ist da wirksamer als heiße Musik, sommerliche Musik, Latin Music. Zweifelsohne heizt die amerikanische Latin-Crossover-Gruppe Fantasma genügend ein, damit man diesen beleidigend kalten Frühling des Jahres 2010 ein wenig vergessen kann. "El Existential" ist ein fetziger musikalischer Überflieger, der einmal den ganzen tanzbaren Latinsound zusammen sammelt und mit Jazz und rockigen Tönen vermengt. Doch auch das große Tanzsaalambiente können sie gekonnt beschwören. Salsa, Cumbia, Merengue mit großem Bläsersatz und fetten Congarhythmen.
Die Band stammt aus dem Süden der USA. Da lassen sich auch die schleppenden Gitarren nicht überhören, die so typisch sind für den Sound der mexikanisch-US-amerikanischen Grenzregion. "Montañozo" ist zum Beispiel so ein Sound, der mit Gitarre und E-Orgel untermalt ein wenig nach Sperrgebiet am Rio Grande klingt. Aber am liebsten tummeln sie sich stilistisch im Andenken an Tito Puente oder liefern eine astreine Cumbia. Damit noch nicht genug hört man auf "El Existential" auch bewegungsfördernden Funk. Auch hier ist die Bläsersektion besonders hervorzuheben.
Ja, es wird einem richtig heiß beim Hören von "El Existential".
www.grupofantasma.com
Karsten Rube


Trio Ivoire "Across the Oceans"
Label:
ENJA-Records; 2009; 12 Tracks; 52:37 min
Der Pianist Hans Lüdemann ließ sich vor über zehn Jahren vom Balafonspieler Aly Keita inspirieren. Sie schwammen mental auf derselben Welle und so wurde ein musikalisches Projekt daraus, das sich bis heute stetig weiterentwickelt hat. Das Trio Ivoire ist so deutlich ein Crossover-Ensemble, wie man zu dritt nur sein kann. Zum deutschen Pianisten Lüdemann und dem Balafonspieler von der Cote Ivoire gesellt sich der indische Perkussionist Chander Sardjoe und als Gast ergänzt die Sängerin Chiwoniso aus Zimbabwe das Trion. Das Ergebnis aus Weltmusik und Jazz ist World-Jazz. Das Balafon ist die Urmutter aller Xylo- und Vibrafone. Aly Keita beherrscht es nicht nur meisterlich, sondern hat es weiterentwickelt, um es westlichen Hörgewohnheiten anzupassen.
"Across the Oceans" ist ein musikalisches Wechselbad aus Träumerei, schwingenden Rhythmen und exotischen Improvisationen. Westafrikanische Tradition tritt dabei deutlich in den Vordergrund, noch vor dem westlich geprägten Pianojazz von Hans Lüdemann. Die afrikanischen Einflüsse überragen Dank Keitas Balafon und Chiwonisos Stimme mit perlender Leichtigkeit. Es ist eine abenteuerliche Hör-Reise entlang der afrikanischen Westküste, die man gern öfter auf sich nimmt.
www.myspace.com/trioivoire
Karsten Rube


Matou Noir "Matou Noir"
Label: Eigenverlag; 2009; 16 Tracks; 66:59 min
Matou Noir ist ein Geheimtipp aus Freiburg und Umgebung, eine bunte Truppe, die ihre musikalischen Neigungen meist in wilden Jamsessions ausleben. Irgendwann war es Zeit, auf CD zu zeigen, was man so drauf hat.
Ihr vorliegender erster Silberling ist gefüllt mit Klassikern des Unterhaltungsjazz, der traditionellen Tanzmusik und des Tango aus dem ganzen letzten Jahrhundert. Hin und wieder werden die Standards untermischt von ein paar Eigenkompositionen. So beginnt die CD mit dem Gershwinsong "Summertime", den Matou Noir nach langsamem Einstand auf ein Tempo bringt, als wäre das Lied für einen Sänger auf einem durchgegangen Gaul geschrieben worden. Dieser Rhythmuswechsel lässt sich öfter auf der CD finden. Cole Porters "My Heart Belongs to Daddy" ist eine witzige Interpretation geworden, "Besame mucho" nicht. Hier stört ein gewisser hart im Vordergrund zu vernehmender Anschlag am Schlagzeug, der eher nach technischer Störung klingt. Was in diesem Lied allerdings besonders weh tut, ist die anstrengende Stimme der Sängerin, die hier mit verknödelter Kopfstimme nervtötend sägt. Vielleicht mag der Gesang von der Frau in diesem Fall als ironische Überhöhung gemeint sein, um diesem Allerweltsschlager den endgültigen Garaus zu machen. Aber muss das wirklich so brutal sein?
Der Musik der Band ist anzumerken, dass sie für Live-Veranstaltungen gemacht ist. Ich kann mir gut vorstellen, dass Matou Noir in Klubs und auf Tanzveranstaltungen ordentlich für Stimmung sorgen. Von CD ist ihre Musik leider eher stimmungsarm. Aber es muss ja nicht jedes CD-Debüt gleich mit dem Prädikat "Aufsehen erregend" versehen werden.
www.matou-noir.de
Karsten Rube


Ana Moura "Leva-me Aos Fados"
Label: Universal Music; 2009; 15 Tracks; 50:40 min
Als ich vor einiger Zeit bei einem heute leider nicht mehr existenten portugiesischen Restaurant am Prenzlauer Berg mit dem Besitzer schwafelte, konnte er sich kaum lassen vor lauter Freude. Er war Tags vorher bei einem Konzert von Ana Moura im Berliner Admiralspalast gewesen. Ich hatte das Konzert leider verpasst. Bei aller Liebe zum Fado war Ana Moura für ihn die einzige authentische Sängerin der Gegenwart, die Fado sang. Nun anders, als alle anderen Fadistas. Viele andere, Marisa und Misia erwähnte er, hielt er für Kunstfiguren, die nur im Ausland bekannt sind. Nun befindet sich der Wirt selbst seit Jahren im Ausland und seine Meinung ist sicher eine von vielen. Ana Moura ist allerdings als Fadista wirklich eine eigene Kategorie. Ihre Fados sind weit weniger schmerzverzehrte Kunstlieder - hier muss Mariza mal wieder als Gegenbeispiel herhalten - als dass sie wunderschöne, sentimentale Liebeslieder sind. Auf ihrer nun bereits vierten CD "Leva-me Aos Fados" wird das ganz besonders deutlich. Verträumt aber nicht lebensfremd sind ihre Interpretationen der meist von Jorge Fernando für sie geschriebenen Lieder. Ana Moura bricht nicht mit der Tradition des Fado, sie erweitert ihn um einige Nuancen. "Águas Passadas" ist der Saudade, der etwas einengenden Melancholie des Fado verpflichtet. "Rumo ao Sul" dagegen spiegelt die weit geöffnete Seele, die Sehnsucht nach dem Aufbruch wieder. Unter den fünfzehn durchweg wunderschönen Liedern ist "Rumo ao sul" das für mich schönste. Am Ende der CD begibt sie sich sogar überzeugend in die Folklore. "Não é um Fado Normal" ("Das ist kein normaler Fado") beginnt mit mittelalterlichem Krummhörnchen und Männerchor. Hier hat sie sich die gestandenen Musiker der Gaiteiros de Lisboa zur Hilfe geholt. Ana Moura ist keine der üblichen Fadosängerinnen. Darin muss ich dem Wirt uneingeschränkt recht geben.
www.anamoura.net
Karsten Rube


Uusikuu "Babylonia"
Label:
Humpa Records; 2010; 14 Tracks; 50:10 min
Laura Ryhänen ist die Stimme des finnisch-deutsch-britischen Ensembles Uusikuu und sie klingt wie die nordosteuropäische Antwort auf Teresa Salgueiro - der einstigen Stimme von Madredeus. Ich weiß, den Vergleich mit dem portugiesischen Schwermut hatte ich schon bei der Rezension der ersten CD von Uusikuu "Hotelli Untola" (folkworld38) gebracht. Aber auch die zweite CD ist von solch einer reizenden Schwermut durchzogen, dass sich die Ähnlichkeit der beiden Kulturen, wenigstens auf diese Gefühlsregung bezogen, schlecht retuschieren lässt. Jedes Völkchen pflegt seinen Blues, wie auch immer man ihn nennt. Uusikuu bleibt auch beim zweiten Album ihrem Konzept treu, den finnischen Tango mit Salonmusik zu kreuzen. "Babylonia" ist eine romantische Platte. Die Geschichten der komplett in finnisch vorgetragenen Lieder sind im Booklet schön bebildert und beschrieben, sodass man einige Gründe für die vielen melancholischen Momente gut nachlesen und nachvollziehen kann. Ob es die Erinnerung an einen Strand am Ladogasee ist (der heute nicht mehr zu Finnland gehört), oder die Geschichte von der Kapitänswitwe, die am Strand bis in alle Ewigkeit auf ihren Mann wartet, von Flaschenpost ist die Rede, von abgekühlter Liebe und den dunklen Schwingen der Nacht. Alle die schönen Themen eben, mit denen sich der Finne die lange Nordnacht versüßt. Das alles ist überaus schön arrangiert. Es verleitet den Hörer schnell zur Einladung an die Süße: "Wollen wir Zusammentanzen". Selten hörten sich düstere Gemütstimmungen so erfrischend an.
www.uusikuu.com
Karsten Rube


Die Wilden Weyber "Die Wilden Weyber wirbeln wieder"
Label:
Auris-Subtilis; 2009; 19 Tracks; 64:32 min
Der Name ist Programm. Die Wilden Weyber wirbeln europäisches Liedgut auf, wie man herabgefallene und zu unrecht vergessene Blätter aufwirbelt, wenn man durch den Herbst geht: absichtsvoll und voller Lust. Und wie es bunt wirbelt, was die Wilden Weyber da aufstöbern. Wieder ist kein alter Schänkenschlager der Renaissance, kein bretonisches Tanzlied, keine französische Wanderweise vor den musikalisch, wie sprachlich sehr vielseitigen sächsischen Frauenzimmern sicher. Nicht immer ist alles was sie vortragen von eitler Fröhlichkeit, so wie das mittelalterliche Leben, das sie mit Spiel- und Interpretationsfreude nachstellen dereinst wohl auch kein permanentes Zuckerschlecken war. Ihren Liedern hört man den Spaß an, mit dem sie sich in die Aufarbeitung der Volksweisen aus aller Herren Länder wagten. Ein edles Ansinnen, das auf diesem Silberling wohl gelungen ist und mich dazu verleitet, die Wilden Weyber und musizierenden Frauenzimmer mit viel Respekt als Damen bezeichnen zu wollen.
www.die-wilden-weyber.de
Karsten Rube


Anne Hills "Points of View"
Label:
Appleseed Recordings; 2009; 13 Tracks; 49:59 min
Die Stimme von Anne Hills kann schnell gefangen nehmen. Angenehm unaufdringlich singt die Frau aus Pennsylvania ihre Songs auf "Points of View", Songs, die fast alle von ihr selbst geschrieben wurden. Mit kleinem Ensemble, das aus ihr Anne Hill an der Gitarre und am Banjo, einem leicht depressiv klingenden Klavier, einem immer wieder samten streichenden Cello besteht und von bedacht eingesetzten Drums ergänzt wird, bewegt sie sich ganz in der Tradition der ostamerikanischen Liedermacher. Dank der Instrumentierung kann sie aber den Standard der reinen Folksängerin hinter sich lassen. Sie schmeichelt sich mit ihren sentimentalen Songs, die gängigem Allerweltsliedgut entsprechen, so schnell ins Ohr des Hörers, wie einst Carol King. Einfach aber wirkungsvoll.
www.annehills.com
Karsten Rube


Lutz Keller "Immer Weiter"
Label: Eigenverlag; 2010; 14 Tracks; 52:37
Als ich vor knapp fünf Jahren das erste Mal von Lutz Keller hörte, blieb ein angenehmes Gefühl zurück, ein Gefühl einem Musiker gelauscht zu haben, der kompromisslos seinen eigenen musikalischen Weg beschreitet. Doch hielt es nicht sehr lange an, das Gefühl. Zu zeitbezogen, zu temporär erschien mir seine Musik. Lutz Keller ist seinem Weg um einige Jahre weiter gefolgt, immer weiter. Erlebnisse und Erfahrungen aus seinem Leben hat er in seine musikalische Ausdrucksweise verwoben. Sein virtuoses Können auf der akustischen Gitarre, das damals bereits bewundernswert war, ist um einiges professioneller geworden und seine Kompositionen vielgestaltig und wandlungsreich. Mal klingt er melancholisch verträumt, dann wieder energisch und blueslastig. Einige Lieder wirken entschlossen, manch andere Spielerei scheint gedankenverloren. Man will sich beim Hören der Lieder einfach nur zurücklehnen und seinen eigenen Gedanken folgen, die sich Titel für Titel weiter entspannen und zu Nichtigkeiten verfusseln. Ein gelungenes Akustik-Album, das diesmal vielleicht etwas länger im Kopf bleibt. Mit der Zeit scheint seine Musik zeitloser zu werden.
www.lutz-keller.de
Karsten Rube


Carmen Souza "Protegid"
Label:
Galileo Music; 2010; 12 Tracks; 56:30 min
Carmen Souza gehört zu einer ganzen Reihe hervorragender Künstlerinnen der Kapverden. Dieses kleine gerade mal 15 Inseln umfassende Archipel scheint musikalisch sehr fruchtbar zu sein, denn jeder Musiker und jede Musikerin, die ich bisher von den Inseln hören durfte, besaß ein eigenes unverkennbares Profil. Keine Allerweltsmusiksuppe, die dort gebraut wird, sondern bester World-Jazz. Carmen Souza sticht unter den ohnehin schon eigenständigen Künstlern noch heraus. Der unverkennbare Inselsound lässt sich bei ihr nur im Hintergrund erkennen, dafür treffen kontinentalafrikanische Rhythmen auf jazzige Polyfonie, Bläsersätze fügen eine Latinonote hinzu und Carmen Souzas ungewöhnliche Stimme bindet die Zutaten zu eigenwilligen, aber immer eigenwillig schönen Songs zusammen. In der Art der Stimmmodulation erinnert sie an die portugiesische Sängerin Maria João. Ihre Interpretation des Cesaria Evora Klassikers "Sodade" gehört zu den jazzlastigsten Versionen des Weltmusik-Hits, die ich bisher gehört habe. Wieder einmal eine sehr schöne Atlantik-Perle, die Galileo-Musik da von den Inseln über und unter dem Wind gefunden hat.
www.myspace.com/carmensouza
Karsten Rube


Corazón Quartett "Wasser, Licht und Zeit"
Label: Fluxx-Records; 2009; 10 Tracks; 60:00 min
Das Münchner Corazón Quartett treibt auf den Rhythmen des gemäßigten Flamencos, umspült von feinem Jazz und umweht von einer lyrischen Aura, die beim ersten Mal Hören beinahe etwas kitschig anmutet. Leicht sieht man sich bei Sonnenuntergängen an regenfreier Küste wieder. Dieses Bild mag irgendwo als beruhigender Faktor bestehen bleiben, wenn man die CD bereits öfter gehört hat. Doch etwas wird anders, beim öfteren Hören und dann beim Genießen. Denn nichts weniger tut man später, wenn man sich schließlich vom ersten sperrigen Kennenlernen des Gesangs von Mariette Radtke erholt hat und anfängt den lyrischen und stimmlichen Höhenflügen der Sängerin zu verfallen.
Gesanglich ist Mariette Radtke eine hingebungsvolle junge Frau, die den leichten jazzigen Kompositionen einen starken Widerpart verpasst. Ein Widerpart, der sich anstrengt, die Harmonie des Ensembles auf die Probe zu stellen. Besonders "Schöne Zeit" ist ein Titel, der das Album zu sprengen droht. Das Spiel der Gitarre fängt aber diese Beinahe-Disharmonie gekonnt ab. Es ist eine CD, für die man sich Zeit nehmen sollte. Es ist gut investierte Zeit, wie ich finde.
"Sich hinzugeben ist nicht leicht, doch dann ist es gut", singt Mariette Radtke und das darf auch getrost als Überschrift für die Musik des Corazón Quartetts verwendet werden.
www.corazon-quartett.de
Karsten Rube


Eleven Hundred Springs "Country Jam"
Label: PaloDuro Records; 2008; 12 Tracks; 38:07 min
Warum sich diese Kapelle "Elfhundert Frühlinge" nennt, ist mir nicht ganz klar, aber der Name ihrer CD "Country Jam" trifft es ziemlich genau. Diese Country-CD ist wie eine Rumtopf-Marmelade. Süß, fruchtig und voller Überraschungen. Sie fängt wie eine gemäßigte Schmuse-Country-CD an, legt dann aber mit Hilly-Billy-Klängen nach. Auch einen guten alten Tanzschuppen-Walzer bekommen sie irgendwie hin. Richtig zur Sache geht es bei dieser Land-Marmelade jedoch immer dann, wenn sie ihre Gitarren dazu bringen Rockabilly zu spielen. Hier wird es extrem tanzbar und schwungvoll. Der "V-8-Ford Boogie" passt auf jede Swing-Royal-Tanzveranstaltung. "I'll be there for you" ist dann allerdings wieder so eine saftselige Country-Schmonzette, die jede rehäugige Landschönheit zum Schmelzen bringt. Eleven Hundred Springs macht authentische texanische Musik. Musik für Tanzschuppen, in denen auch mal das Traditions-Dirndl der bajuwarischen Heimatliga getragen wird, wie auf der Website der Musiker zu erfahren ist. Klassische Musik, wie sie vor Ort und voller Spaß zum Tanz auffordert.
www.1100springs.com
Karsten Rube


Los Santos "Blue in Hawaii"
Label: Eigenverlag; 2009; 15 Tracks; 46:38 min
Sie gucken so traurig und trist von ihrem CD-Cover, wie man nur gucken kann, wenn man unter hawaiianischen Palmen und der ewig brutzelnden Sonne stehen muss. "Blue in Hawaii" sind sie und haben den Blues. Glaubt man auf den ersten Blick. Aber nein, reingelegt haben sie einen. Stefan Hiss, umtriebiges Akkordeonunikum und raues Urgestein der deutschen Welt-und Folkszene verpackt in seinem sonnig anmutenden neuen Album "Blue in Hawaii" alle Klischees des Western-, Hawaiian- und Mexicalistils mit perfektem musikalischen Augenzwinkern, dass es eine wahre Freude ist mitzuschunkeln. Stefan Hiss, der hauptsächlich unter eigenem Namen auftritt, lässt sich gelegentlich zu musikalischen Projekten hinreißen, die mit den harten Polkas deutscher Zunge nur wenig gemeinsam haben. Seine Liebe gilt dann dem spanischen und amerikanischen Lied, das der einsame Reiter bisweilen zur Aufhellung seiner Stimmung benötigt. Das aktuelle Projekt firmiert unter dem Namen Los Santos und besteht außer aus dem allerheiligen Stefan, noch aus den Heiligen Winfried Wohlbold, der die Steelgitarre gleichermaßen hawaiianisch, wie westernmäßig heulen lässt, Bernd Öhlenschläger, der die Drums verprügelt, Lucia Schlör, deren Stimme die Herzen der einsam weinenden harten Jungs rührt und Elvis Brettschneider, dessen Gitarre auch keinen Musikliebhaber kalt lässt.
Und so lassen die Heiligen in ihren Liedern keine Sehnsucht unausgesprochen, keine Wut unaufgebraust und keine ewige Liebe unbetrogen. Manchmal mit zum Verdursten minimalen musikalischen Mitteln, manchmal mit dem wilden Aufbrausen der Rockabilly-Ärä. aber immer mit enormem Spaß. Unter den allesamt tollen Songs liegen mir besonders der Titelsong "Blue in Hawaii" und der "Rag Mop" am Herzen.
Ja, Los Santos machen saucoole Shanties für raubeinige, weichherzige Landratten.
www.los-santos.eu
Karsten Rube


Freshlyground "Radio Africa"
Label: Sony Music; 2010; 11 Tracks; 41:54 min
Siehe auch den Live-
Bericht in dieser Ausgabe
Jo-Ann Strauß war mal Miss Südafrika. Bei der Zusammenfassung des Eröffnungskonzertes zur Fußball-WM 2010 in Soweto, die das ZDF für das deutsche Publikum ausstrahlte und bei der sie als Co-Moderatorin neben Thomas Gottschalk stand, antwortete sie auf die Frage, was eigentlich die Musik in Südafrika ausmacht. "... ich glaube es gibt keine typische afrikanische Musik ..." sagte sie. Das brachte selbst den Mainstreamsurfer Gottschalk etwas aus dem Konzept, denn schließlich hatte er gerade Hugh Masekela, Angelique Kidjo sowie Amadou und Mariam sehen dürfen. Die Ex-schönheitskönigin sprach noch ganz kurz von den Parlotones und Freshlyground. Während die Parlotones typischen Britpop spielen, sind Freshlyground jedoch kaum eine Band, die man als untypisch für die afrikanische Musik bezeichnen könnte. Im Gegenteil. Gerade ihr neues Album "Radio Afrika" ist ein typisches Beispiel dafür, wie man mit afrikanischer Musik den Zeitgeschmack treffen kann, ohne sich den von der Industrie reglementierten musikalischen Geschmacksvorgaben zu beugen. Auf "Radio Afrika" verbinden sich die besten Elemente des Pop mit den besten Elementen afrikanischer Musik. Die Lieder sind allesamt schnell im Ohr und zum Mitsingen geeignet.
Man will sie immer wieder hören. Tanzen muss man dabei ohnehin. Die typische Art in Afrika die Gitarre einzusetzen, die der Mosambikaner Julio Sigauque mit spielerischer Leichtigkeit zelebriert, die Rhythmen, die zwischen Ska, Soul und Zulu pendeln, der Gesang von Zolani Mahola, der Satzgesang der Bandmitglieder und die Bläsereinsätze erkennt jeder, der über die amerikanischen Top 20 hinaushört, eindeutig als typisch afrikanisch. "Moto" der Eröffnungssong steigt bereits mit dem Gesang der quirligen Zolani ein, während aus der Gitarre fröhliche bezaubernde Klangperlenschnüre herauspurzeln. "Fire is low" ist ein richtiger auf Hit ausgerichteter Song. Ähnlich wie ihr "Doo-Bee-Doo" aus dem Jahr 2006 und "Ma Cherie" vom vorhergehenden Album. Doch auch "Fire is low" spielt wunderbar mit afrikanischen Musikelementen, wie unschwer an den Bläsersequenzen und dem Einsatz der Kalimba zu erkennen ist. Mit "Chicken to change" nehmen sie sich einem der vielen tragischen Themen in der afrikanischen Politik an. Hier geht es um Robert Mubabe - einst Revolutionär und Volksheld, heute Tyrann und immer noch Simbabwes Präsident. Auch dieses Lied funktioniert in der ausgelassenen Tanzstimmung südafrikanischer Musik. Und "Waliphalal'igazi" setzt mit dunklem Satzgesang im Stil afrikanischer Zulu-Chöre, wie Ladysmith Black Mabazo, einen gelungenen Schlusspunkt. "Radio Africa" trägt den Kontinent nicht nur im Namen, sondern ist ein poppiges, erfrischendes afrikanisches Tanzalbum.
Vielleicht sollte sich die Ex-Schönheit Jo-Ann Strauß auch mal ein bisschen mit der Musik ihres Herkunftslandes auseinandersetzen.
www.freshlyground.com
Karsten Rube


Netsayi "Monkey's Wedding"
Label:
World Connection; 2009; 12 Tracks; 45:58 min
Netsayi ist eine Künstlerin, bei der sich beim ersten Hören sämtliche Standardformulierungen im Stile von: "Klingt wie ..." diskret verkrümeln. Die Sängerin aus Simbabwe, die seit einiger Zeit in England lebt und arbeitet, begegnet einem mit einer eigenwilligen, ausdrucksstarken Stimme und Songs voller Leidenschaft. Songs, die von den Schmerzen handeln, die Liebende erleiden und Songs über das Leben von Heranwachsenden unter den Lebensbedingungen in Simbabwe. Hier macht sie deutlich, dass so schwer das Leben in Simbabwe auch sein mag, Teenager weltweit dieselben Probleme mit sich herumschleppen. Die engagierten Songs setzen sich auf vielfältige Weise mit den Lebensverhältnissen in Simbabwe auseinander, aber auch mit der Sichtweise, mit der ihr Land weltweit betrachtet wird und die sie nicht immer teilt. Sehr gelungen sind die beiden Songs "Queremos saber" - eine Coverversion des bekannten Titels von Gilberto Gil und das schwermütige "Jacarandas" am Ende der CD. Der Opener "Punch Drunk" besitzt den einfühlsamen Sound eines langsam, aber unaufhaltsam startenden Dauerohrwurms. Ein starkes Album, das unbedingt Beachtung finden sollte.
www.netsayi.com
Karsten Rube


The Chieftains ft. Ry Cooder "San Patricio"
Label: Blackrock Records; 2010; 19 Tracks; 61:50 min
Manche Musiker werden alt aber nicht müde. Die Chieftains sind die uneingeschränkten Häuptlinge der Folkmusik und das bereits seit knapp 50 Jahren. Dass ihnen in dieser langen Zeit nie die Songs und die Ideen ausgegangen sind, verdanken sie dem unermüdlichen Pioniergeist Paddy Moloneys. Er beschränkte sich nicht auf das irische Kneipenlied, sondern forschte in der Welt herum, fand keltische Wurzeln an den entlegensten Stellen und produzierte CDs mit Musikern auf der ganzen Welt. Immer wieder spielte er mit den Chieftains hervorragende CDs ein. 1996 erschien die CD "Santiago" auf der er den Bogen von Santiago de Compostella in Galizien in Spanien bis nach Santiago de Cuba schlug. 2010 erschien nun ein Album, das diesen Bogen aufnahm und die mexikanische Geschichte auf keltische Spuren abklopft. Diese fanden sich bei irisch-amerikanischen Soldaten, die einst aus der amerikanischen Armee desertierten und sich auf die mexikanische Seite schlugen.
Die meisten desertierten, weil sie als Katholiken nicht gegen ein katholisches Land kämpfen wollten und in der amerikanischen Armee häufig wegen ihres Glaubens diskriminiert wurden. Das Bataillon benannten sie nach dem irischen Nationalheiligen St. Patrick. In "The March to Battle" erzählt Liam Neeson diese Geschichte. Neunzehn großartige Songs über das Battallón de San Patricio haben die Chieftains zusammen getragen und mit der Verstärkung zahlreicher Gastmusiker eingespielt. Die wunderbare Linda Ronstadt singt in ihrer unverwechselbaren Tex-Mex-Art. Ry Cooder stöhnt über The Sands of Mexico". Die derzeit aktivste mexikanische Musikerin Lila Downs ist ebenso vertreten, wie die Clannad-Sängerin Moya Brennan und der Galizier Carlos Nuñez. Außerdem finden sich einige interessante Folklore-Bands aus Mexiko und den USA auf dem Album. So die Mariachi Santa Fe de Jesus Guzman und die Banda de Gaita de Battallón de San Patricio. Diese Pipes and Drum Formation hat sich dem Erbe des San Patricio Batallions verschrieben und machen mit ihren Dudelsäcken und Trommeln gehörig Dampf.
Es ist wohl eines der ungewöhnlichsten Alben der an ungewöhnlichen Alben nicht armen Diskografie der Chieftains. Ein großes Konzeptalbum, das den sicher nicht unumstrittenen Helden der irischen Auswanderergeschichte ein fulminantes Denkmal setzt.
www.thechieftains.com
Karsten Rube


The Wichita "Songlines"
Label:
LindoRecords; 2010; 13 Tracks; 37:47 min
Der Österreicher Jürgen Plank kann bereits auf zahlreiche Veröffentlichungen verweisen. So hat er sich im Ersten Wiener Heimorgelorchester besonders dem Klangerlebnis elektronischer Heimorgeln verschrieben.
Auf der CD "Songlines" die er unter dem Projektnamen The Wichita veröffentlicht, widmet er sich dem alternativen Countryfolk. Die dreizehn Lieder, die er unter minimalistischen Bedingungen mit einer Gitarre, einer Mundharmonika, etwas E-Orgelgepiepse, seinem Gesang und einer weiblichen Begleitstimme eingespielt hat, zeigen, dass man manchmal nicht die großen Bands und Orchester benötigt, um musikalische Qualität zu erzeugen. Die Songs klingen zwar alle ähnlich und sind simpel gestrickt. Trotzdem sind es allesamt sehr unterhaltsame Countrysongs, die sich schnell nachspielen lassen, wenn man denn will. Ein guter Grundstock für Abende am Feuer, mit oder ohne eigene Gitarre. Simpel und schön.
www.myspace.com/thewichita
Karsten Rube


Carlos Nuñez "Alborada do Brasil"
Label: Baja Musica; 2009; 13 Tracks; 46:24 min
Neues über Carlos Nuñez zu schreiben fällt immer leicht, denn der galizische Gaitaspieler hat sich in den Jahren nie auf den Pfaden der heimatlichen Volkskunst ausgeruht. Häufig arbeitete er mit Künstlern an Projekten, die Stil- und Genre übergreifend unterschiedliche musikalische Weltsichten verband. Jetzt ist er nach Brasilien gereist und fand dort Musiker, die es nicht ungewöhnlich fanden, brasilianische Rhythmen mit keltischen Flöten- und Dudelsacktönen zu kreuzen. Nuñez verlässt sich dabei nicht allein auf die Kraft der traditionellen Instrumente. Brasilien ist ein modernes Land. Die musikalischen Einflüsse kommen von überall her. Elektronische Rhythmusbegleitung zu Flöte und Sambatrommel mag ungewohnt klingen, es passt aber hervorragend zusammen. Ebenso die Musiker, mit denen Carlos Nuñez zusammenarbeitete. Neben der Stammkapelle, die Carlos Nuñez gern und oft begleitete, den Chieftains fanden sich die brasilianische Sängerin Adriana Calcahotto, der auch in Deutschland bekannte Sänger Lenine, sowie der brasilianische Superstar Carlinhos Brown ein, um dieses kulturübergreifende Album einzuspielen. "Alborada do Brasil" ist ein sehr tropisches Album, dem weder die südländische Ausgelassenheit noch die Melancholie fehlt, die Brasilianern ebenso eigen ist, wie den Galiziern im Nordwesten Spaniens.
www.carlos-nunez.com
Karsten Rube


Markscheider Kunst "Utopia"
Label:
Eastblok Music; 2010; 12 Tracks; 44:18 min
Schön ist so eine Sommerplatte mit Samba, Reggae, Afrobeats und Ska. Da spielt die Sprache, in der die Musiker agieren nur beiläufig eine Rolle, denn schließlich will man tanzen und keine Texte analysieren. So gewöhnt man sich auch sehr schnell daran, dass all die sommerlichen Tanzrhythmen auf "Utopia" mit russischem Gesang begleitet werden. Die Musiker kommen allesamt aus St. Petersburg. Dort ist der Sommer nicht sehr lang. Was kein Grund ist, karibische Musik und andere sonnige Klänge zu verdrängen. Im Gegenteil. Wenn es mit der Sonne am Himmel nicht weit her ist, holt man sie sich ins Ohr.
Markscheider Kunst mischen seit einigen Jahren live die europäischen Tanzsäle auf. Wer unterkühlt am Veranstaltungsort ankommt, geht verschwitzt wieder hinaus. Die explosive Mischung aus Cumbia, Latin, Ska, Afrobeat und Rumba, der ein leichter Hauch russischer Melancholie beescht ist, funktioniert nun endlich auch auf CD ganz ordentlich. Zwölf Tracks aus dem chaotischen Musikschaffen der St. Petersburger Vermessungsingenieure hat das Berliner Label Eastblok-Music ausgewählt und auf CD gebrannt. Wer es nicht in die Russendisko schafft, kann sich nun also auch zu Hause austoben. Was dabei die Lautstärke und die Nachbarn angeht? Keine Sorge, die kommen schon vorbei.
www.mkunst.ru
Karsten Rube


Rupert Wates "Joe's Cafe"
Label: Bite Music LTD; 2010; 15 Tracks; 61:59 min
"Welcome to Joe's Cafe" so begrüßt der Songwriter in seinem ersten Song den Hörer. Es ist eine freundliche Einladung, der man gern folgt und die man auch nicht bereut. 14 wahre Geschichten werden in seinem Café erzählt, wie die über das Aufwachsen auf einer Farm. Erinnerungen an einen Tag in New York im Schnee werden wiedergegeben. Ein Stand-up Comedian stellt sich vor und eine sehr schöne Geschichte erzählt von einem alten Mann in den Bergen, der einem Platoon US-Soldaten, das im Zweiten Weltkrieg durch sein Land zog Quartier bot, Tee machte und sie dann weiter ziehen ließ. Die Geschichten werden alle sehr gut gelaunt erzählt. Rupert Wates spielt Gitarre und hat die Songs geschrieben. Gesungen werden sie von einer ganzen Anzahl Gästen in diesem imaginären Café. Gelegentlich setzt eine Violine musikalische Akzente, die gewollt nach Caféhausmusik klingen. So kommt man an manchen Stellen leicht ins Schunkeln. Allerdings vereitelt manche Ballade und ein Blues im Verlauf der CD, dass das zu Gewohnheit wird. Der Besuch in "Joe's Cafe" lohnt sich.
www.rupertwates.com
Karsten Rube


Binder & Krieglstein "New Weird Austria"
Label:
Essay Recordings; 2010; 12 Tracks; 41:42 min
Der Österreicher Rainer Binder-Krieglstein suggeriert mit seinem Künstlernamen Binder & Krieglstein mehr als eine Person zu sein. Beim Hören seiner CD "New Weird Austria" bemerkt man auch, dass mehr als eine Person in seiner Brust leben. Die eine ist der Volksmusik verbunden, die andere ist ein ausgemachter Punk. Beides verbindet er so unorthodox, wie nur möglich. Und hier scheint nichts unmöglich zu sein. Elektronische Beats fusseln nur so über die Tonspur, während das Wörtchen "Radkette" in Dauerschleife gesprochen wird. Geigen fiedeln, Klarinetten trödeln und elektronische Spielereien mischen die volkstümlichen Weisen auf, während Mieze Medusa dazu rappt. Mieze Medusa ist nur eine der zahlreichen Gäste auf dieser wilden punkigen Krieglstein-CD. Didi Bruckmayr zählt auf englisch ein paar Internetseiten auf, während im Hintergrund eine Blaskapelle seziert wird. Am Ende der CD vertritt sich noch ein steirischer Jägerchor zu stampfenden Bassrhythmen die Beine. Dazu gibt es Glockengeläut, ein elektronisches Schlagzeug und eine verstimmte Westerngeige. Alle diese Elemente spielen ganz prächtig miteinander, wenn sie auch nie den Anspruch erheben harmonisch klingen zu wollen. Aber das ist im Punk auch nicht üblich. "New Weird Austria" ist ein gewöhnungsbedürftiges Album, an das man sich nicht gewöhnen möchte. Es ist schrill, verschroben, eigentlich eine musikalische Frechheit, macht aber ziemlichen Spaß.
binderundkrieglstein.net
Karsten Rube


Tri Muzike "Pause"
Label:
Felmay; 2010; 8 Tracks; 41:03 min
Manchmal halte ich ein unscheinbar wirkendes Album in der Hand mit ebenso unscheinbarem Titel. Die Erwartung ist vorsichtshalber relativ neutral bis gering. Dann erklingen die ersten Töne und ich bekomme den Mund nicht mehr zu. So geschehen bei dem Album "Pause" des italienischen Ensembles Tri Muzike. Die sechs Musiker aus Bergamo greifen auf ein selbst erschaffenes Repertoire zurück, das sich vom Balkaneinfluss der Vorgängeralben entfernt. Statt dessen lassen sie deutlich jazzlastige Arrangements zu, in denen traditionelle Elemente ein tragfähiges Fundament bilden. Einem einfachen leisen Lied ("Lima sorda") setzen Tri Muzike die unbeschwerte Stimmung eines Tanzes am Nachmittag hinzu. An anderer Stelle lässt sich eine aufgeregte Sehnsucht erahnen, wie in "Mon Capel".
Hier hört man eine virtuose Kombination aller Instrumente von der Gitarre, über das Akkordeon und den Bläsern sowie der klaren Stimme Paola Lombardos. Tri Muzike greifen auf musikalische Stilzitate zurück, wenn es passt. Dem traditionellen Lied "Samra", das mit arabischem Gesang beginnt, wird ein Mariachi Bläsersatz hinzugefügt, um dann mit einem stilvollen Gitarrensolo in die Nähe des Flamenco zu rücken.
Tri Muzike vermengen die Stile nicht, sie kreieren komplett neue. So entsteht wunderbarer italienischer Folk-Jazz, wie ich ihn bis dahin noch nicht kannte und nun nicht mehr missen möchte.
www.trimuzike.it
Karsten Rube


Sarah Mac Dougall "Across the Atlantic"
Label: Eigenverlag; 2009; 13 Tracks; 37:37 min
Die gebürtige Schwedin Sarah Mac Dougall ist vor einigen Jahren nach Kanada ausgewandert. Dort fühlt sie sich mit ihrer Musik eher zu Hause. Nachdem sie eine ganze Zeit als Live-Künstlerin durch die Gegend zog, veröffentlichte sie 2009 mit "Across the Atlantic" ihr Debütalbum. Mac Dougalls Songs ordnen sich am besten der Kategorie Alternativer Country zu. Das durchgängig gut arrangierte Album beinhaltet vor allem seichte Countryballaden. Allerdings traut sie sich hin und wieder auch mal, nicht nur im Trüben zu fischen, sondern ins Westernfach zu wechseln. "Cry Wolf" ist so ein schönes Beispiel. Entsprechend dem alten Blues-Brother-Spruch: "Wir spielen hier beides, Country und Western ..." ist das Album recht abwechslungsreich geworden. "Hundred Dollar Bills" wartet zudem mit ein paar pampigen Bläsern auf. "Biggest Mistake" wandelt in der musikalischen Begleitung fast auf Bluegrass-Pfaden. Auch wenn es auf den letzten drei Songs etwas an Schwung verliert, ist "Across the Atlantic" ein Debüt-Album, das sich nicht weit hinter Willie Nelsons Klassikern verstecken muss.
www.sarahmacdougall.com
Karsten Rube


Rainald Grebe "Die Besten Lieder meines Lebens - Live im Admiralspalast" [DVD Video]
Label: Armada Film/ Versöhnungsrecords; 2010; 29 Tracks; 183 min
"Das war ein schöner Abend im Admiralspalast..." lautet das Resümee Rainald Grebes, wenn er sinnierend auf den Abend im Berliner Plüschtheater zurückblickt. Eine Einmannshow für Satiriker, erweitert durch Klavier, Lichtmeister und einem Publikum, das ihn gehörig verehrt und zuhört. Zumindest die meisten. Die gelegentliche Einblendung eines älteren Herren im Gorbatschowoutfit, der verständnislos guckt, zeigt, dass es auch ein paar Menschen gibt, die mit Rainald Grebe nichts anfangen können. Und das ist meiner Meinung nach ein eindeutiger Sympathiepunkt für Grebe. Er kann zwar den Admiralspalast füllen, ist aber weit davon entfernt, ein Star zu sein. So kann Grebe, der Satiriker, seine witzigen, manchmal leicht peinlichen, doch häufig schlauen Lieder und Ansprachen vortragen, ohne in die Nähe des schmerzhaften Größenwahns eines Mario Barth gerückt zu werden. Die DVD, die den Mitschnitt eines recht gelungenen Abends beinhaltete, zeigt Grebe in einer guten Form. Ob in seiner Besten, sei mal dahingestellt. Dem Publikum zugewandt erzählt er die Geschichten, die ihm in zehn Jahren musikalischem Frontdienst aus der Feder und dem Mund glitten, berichtet von den Unzulänglichkeiten seiner Mitmenschen. Dabei reißt er die Augen auf, dass man Angst bekommt, sie könnten ihm herauspurzeln. Zu den besten Liedern seines Lebens zählen "Dörte". "Dörte" klingt wie eine Abrechnung mit einer Ex- Freundin, in die er sich offensichtlich mal fehlverliebt hatte. "Brandenburg" zählt auch zu seinen "Besten", meint er. Für fast verstorben hält er das Bundesland. Vielleicht weiß er es nicht besser. "Brandenburg" gehört für mich nicht zu den besten Liedern Grebes. Es hat das Niveau eines vertonten Artikels aus dem "Berliner Kurier". Mit "Bernd" dem Warentester hat er einen sehr treffenden Song über die Qualitätsüberwachungsgesellschaft ins Programm genommen. "Urlaub in Deutschland" ist dann wieder etwas dröge. Auf der Bühne wirkt Grebe selbstsicher. Er kann seine Songs gut an das aufnahmefreudige Publikum weitergeben.
Doch der ewig gleiche Vortragsstil und die nicht immer gut pointierten Texte lassen beim DVD-Schauen nach etwa der halben Laufzeit Langeweile aufkommen. Ich kann mir gut vorstellen, dass Rainald Grebe noch ein paar bessere Songs schreiben wird. Ein paar der besseren, die er geschrieben hat, fehlen auf der DVD. Bleibt zu hoffen, dass der Titel der DVD nur ironisch gemeint ist. Denn wenn das die Besten Lieder seines Lebens waren, was kommt denn dann noch?
www.rainaldgrebe.de
Karsten Rube


Oumar Ndiayte Xosluman "Talibe"
Label:
Coast to Coast/Dakarsound; 2010; 10 Tracks
Viele belebende Impulse bekommt die westliche Welt aus Afrika. Ein wesentlicher ist sicher die Musik. Wenn man sich in der Popmusik umhört, findet man beständig Hinweise darauf, wie sich die kommerzielle Musik bei den afrikanischen Kulturen bedient. Häufig genug, ohne sich dafür zu bedanken. Dass man auch ganz gut zwischen den Welten wandern kann, ohne sich komplett von einer Seite ausnehmen zu lassen, beweist der senegalesische Musiker Oumar Ndiayte Xosluman. Der veröffentlichte gerade sein Debüt-Album auf dem niederländischen Dakar Sound Label. Während er im Senegal bereits als Dauerschleife in den Radiostationen zu hören ist, Filmmusik schrieb und bei Konzerten stürmisch gefeiert wurde, ist er trotz der Popularität afrikanischer Musik in Europa noch weitgehend unbekannt.
Mit dem Album "Les Enfants" versucht er das nun zu ändern. Oumar Ndiayte Xosluman setzt mit seinem Album "Talibé" bewusst auf den Trend westliche Hörgewohnheiten mit ethnisch- traditionellen Rhythmen und Instrumenten zu paaren. Seine Lieder singt er auf Wolof. Seine Stimme erinnert in einigen Passagen an die von Youssou N'Dour. Der Einsatz der Kora neben dem Saxofon ist in dieser Form neu und ungewöhnlich, aber eine durchaus hörenswerte Idee, wie sich im Titelsong des Albums bemerken lässt. Insgesamt ist "Talibé" ein gelungenes Album mit ruhigem westafrikanischem Blues.
www.xosluma.com
Karsten Rube


V/A [Samplers, EPs & Demo-CDs]

The Apples in Stereo "Travellers in Space and Time" (Yep Roc, YEP 2212, 2010): Manchmal wundert man sich ja wirklich, was man so auf den Tisch bekommt. Was soll's: Elektronik-Pop für Humanoide und Cyborgs, die gemeinsam am DVD-Lagerfeuer singen; Electric Light Orchestra für Arme ... Wahrscheinlich für keinen unserer Leser wirklich von Interesse.
www.yeproc.com, www.applesinstereo.com

Chris Everett "A Place to Call Home" (EP, TT0591000, 2010): Vier Titel, um den Ludwigsburger Singer/Songwriter und seinen Pop für Menschen, die den Teenieschuhen entwachsen sind, vorzustellen: ein bißchen Al Stewart, ein bißchen Ryan Adams, sauber und glatt produziert, eingängig und radiotauglich, aber zu intelligent, um massenkompatibel zu sein.
www.chriseverett.de

Vaughan King "Ballad of A Poor Man" (EP, Ophelia Recordings, 2010): Die Ballade des armen Mannes, der mit endloser Zuversicht an seine Sache herangeht. In diesem Fall an vier Lieder, mehr war für das Geld nicht drin. Der englische Singer-Songwriter ist ein erwachsen gewordener Punk, der sich irgendwo zwischen Folk und Psychedelia seine Nische sucht.
www.vaughanking.co.uk

Krissy and the Jackdaws (EP, HOCKEY 003, 2010): Das Trio aus dem englischen Kent um Sänger-Gitarrist Kristofer Harris spielt der Welt überdrüssigen Folk-Rock und Alt-Country mit netten Texten: Why don’t you have a crack at the radio, before you get too old? Wir wissen es nicht. Nach zwei Jahren auf Tour hat man sich endlich dazu entschieden, vier Titel auf eine Silberscheibe zu bannen.
www.hockeyrecords.co.uk, www.myspace.com/krissyandthejackdaws


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 07/2010

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