FolkWorld Fiction von Tom Keller

<< Teil 7 <<   Das Blutgericht                     
Eine Kriminalgeschichte Teil 8

Manchmal kann man wirklich nur noch staunen. Da glaubt man, alles sei klar, und es stellt sich heraus, dass das eigene Wissensgebäude baufälliger ist als der schiefe Turm von Pisa. »Der Name ihres Mannes ist Langemark. Van Aken nannte sie sich erst wieder nach der Trennung.« Langemark. Lange. Langer! »Herr Kamlot, Langer genannt, der wird dabei nicht fehlen.« Jetzt hätte ich natürlich die Angelegenheit den Profis überlassen können. Ich glaube aber, mein mangelndes Vertrauen in die Staatsmacht rührt nicht nur von der Lektüre billiger Krimis her …

XVIII

Sonntag, Gary-Cooper-Zeit. Ich gab Areion die Sporen und ritt stadtauswärts.
    Ich peitschte den Boliden in Interstellar Black Metallic nahe an die einhundert Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit. Er machte seinem Namen alle Ehre. ›Areion‹ – griechisch für besser, kräftiger, mutiger – war der schwarzmähnige Hengst des Herakles gewesen. Nur bin ich kein unsterblicher Held, der sich mit dem Höllenhund Zerberos anlegt. Auch kein unverwundbarer Siegfried, der in Drachenblut gebadet hat.
    Bevor ich in Richtung Chinamann und Fitnesscenter abbog, kam ich an einem Beerdigungsinstitut vorbei. Der ›Festpreis-Bestatter‹ stand in großen Buchstaben im Schaufenster. Das war ungeheuer passend, aber kein besonders gutes Omen. Bestattungsunternehmen sind neben Spielhöllen und Erotikgeschäften eine der wenigen Branchen, die noch boomen.
    Gestorben, gezockt und geschnackselt wird immer.
    Ich überfuhr eine rote Ampel und legte die Strecke in flotten drei Minuten zurück. Medaillenwürdig – sollten Motorrollerrennen einmal olympische Disziplin werden.
    Der Parkplatz vor dem Fitnessstudio war abgesehen von Annas Fortbewegungsmittel und einem topasblauen BMW Z3 leer. An der Straße stand ein ungepflegter Opel. Von der Polizei war weit und breit keine Spur zu entdecken.
    Was vor fünfundzwanzig Jahren ein Karateverein gewesen war, hatte sich zu zweitausend Quadratmetern Work-Out-Fläche gegen jedes Leiden und jede Problemzone entwickelt. Ein Schild, schwarze Schrift auf dottergelbem Grund, klärte über die zahlreichen Freizeitmöglichkeiten auf:

Fitness & Health Center LANGER MARSCH
Fitness-Club des Jahres 1999
Wellness, Beauty & Body Culture
Der Aktiv-Treff für Aerobic, Bodybuilding,
Gymnastik, Stretching, Thairobics, Yoga

Ein Gerüst an dem flachen Gebäude kündete von Umbauarbeiten. Das wurde durch ein handgemaltes Plakat bestätigt: ›Wir bauen für Sie um! Lady-Fitness! Werden Sie bikinifit! Baustellensonderpreise!‹ [Photo by Tom Keller]

Ein Gerüst an dem flachen Gebäude kündete von Umbauarbeiten. Das wurde durch ein handgemaltes Plakat bestätigt: ›Wir bauen für Sie um! Lady-Fitness! Werden Sie bikinifit! Baustellensonderpreise!‹
    Ich hoffte, dass Anna nicht gerade in diesem Augenblick bikinifit gemacht wurde und der Athlet Langemark selber mit dem Weber fertig geworden war. Ich verstaute meinen Helm unter Areions Sitz, nahm eine Taschenlampe und einen Schraubenschlüssel aus dem Fach, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und zog auf in den Kampf.
    Der Vordereingang war verschlossen. Ein Profi hätte jetzt die Tür mit einem Dietrich geknackt oder sie mit seinen fetten Schaftstiefeln eingetreten. Mir fehlen dazu sowohl die Fingerfertigkeit als auch die Kraft. Die Idee, auf dem Baugerüst herumzuklettern, ließ ich gleich wieder fallen. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass ich nicht schwindelfrei bin?
    Ich umrundete das Gebäude. Im Gebäudeumrunden war ich mittlerweile geübt. Ich hatte mich geradezu zu einem Fachmann auf diesem Gebiet entwickelt. Direkt hinter der Anlage lagen feuchte Wiesen, mittendrin ein Regenrückhaltebecken. Der Grund für die Renovierungsarbeiten war klar: das Fitnesscenter war bei dem regnerischen Wetter der letzten Wochen schlichtweg abgesoffen.
    Auf der Rückseite des Gebäudes entdeckte ich eine Betontreppe, die zu einer eisernen Kellertür führte. Ich stieg hinunter und drehte vorsichtig am Knauf. Die Tür war unverschlossen. Der Herrgott war heute mit den Freizeitdetektiven. Warme, feuchte Luft schlug mir entgegen. Die Räumlichkeiten wurden entweder für Orgien genutzt oder es handelte sich um eine Sauna.
    Es war eine Sauna. Und zwar eine Erlebnislandschaft mit Spaßbad, Whirlpool, Sonnenbänken, Trocken- und Dampfsauna.
    Ich glitt geräuschlos in den Korridor. Aus dem Dunkel kam ein dumpfes Klopfen. Knock, knock, knocking on heaven’s door. Eine gedämpfte Stimme rief ›Hallo‹ oder ›Hilfe‹. Es könnte aber auch einfach nur Hasso, Hugo, Hölle oder Hirse gewesen sein. Die Stimme war so schwach, dass ich sie nur mit Mühe hören konnte.
    »Anna«, murmelte ich vor mich hin. Ich wagte nicht, das Oberlicht einzuschalten, und tastete mich den Heizungsrohren folgend einen engen Gang entlang. Meine Fingerspitzen strichen über den rauen Putz der Wände. Schutt knirschte unter meinen Sohlen und meine Füße wirbelten Staub auf. Es roch nach Moder und Pilzbefall. Glücklicherweise leide ich wenigstens nicht an Klaustrophobie. Ich schlich am Pool vorbei. Es war nun vollkommen still. Wie in einer Gruft. Nur nicht so kalt. Warum war es so schwül, wo die ganze Anlage doch gar nicht in Betrieb war?
    Die Batterien der Taschenlampe wurden langsam schwächer. It’s gettin’ dark, too dark to see. Gleichzeitig verließ mich nach und nach der Mut. Plötzlich schepperte es direkt neben mir.
    Ein Knall. Metall auf Beton.
    Ich zuckte zusammen. Meine Taschenlampe beleuchtete notdürftig eine Nische, die von einem Plastikvorhang bedeckt war. Dahinter raschelte es. Mir sträubten sich die Nackenhaare. Trotz der Wärme fröstelte ich. Am liebsten wäre ich einfach weitergegangen. Aber was für eine Kreatur auch immer hinter dem Vorhang stecken mochte, sie konnte mich nicht übersehen haben.
    Ich hätte gern einen dritten Arm gehabt. Ist aber nicht. Ich klemmte mir also die Taschenlampe zwischen die Zähne, so dass ein unruhiger Lichtkegel über die Wand huschte. Dann nahm ich den Schraubenschlüssel fest in die erhobene Rechte und griff mit der Linken nach dem Vorhang.
    Mit einem Ruck riss ich das Plastik zur Seite.
    Die Nische war leer. Fast. In das Licht der Taschenlampe blinzelte eine dicke, fette Ratte, die an einem Käsebrot schnupperte.
    Der pelzige, braungraue Nager war bestimmt zwanzig Zentimeter lang, der nackte Ringelschwanz nicht mit eingerechnet. Daneben lag ein Blecheimer, den das Tier bei der Nahrungssuche umgestoßen hatte. Ein schwacher Fäulnisgeruch stieg auf. Schmale Rattenaugen sahen mich mit der ruhigen Gewissheit an, noch immer da zu sein, wenn die menschliche Rasse schon längst von diesem Planeten abgetreten war. Die struppige Gestalt quiekte und wandte sich wieder ungerührt dem Käse zu.
    Sehr appetitlich. Beinahe wäre mir der Killer lieber gewesen.
    Das Rufen und Klopfen begann von neuem. Knock, knock, knocking. Ich spitzte die Lippen und pfiff unhörbar Dylans Melodie. Diesmal klang die Stimme lauter und kam aus unmittelbarer Nähe.
    Es klopfte nicht an die Himmelspforte, es kam von der hölzernen Saunatür. Ein Schrubber war von außen unter die Klinke geklemmt worden. Ich drehte als erstes das Thermostat von ›Volle Leistung‹ auf Null herunter. Dann startete ich den nächsten Versuch. Ich packte den Schraubenschlüssel, legte die Hand auf den Türgriff, atmete tief ein und riss die Tür auf.
    Fauchend entwich der Wasserdampf aus der Kabine. Mehrere Sekunden lang stand ich in einer heißen Dampfwolke. Eukalyptusöl biss mir in die Augen und verschlug mir den Atem. Nur langsam verzogen sich die Schwaden, so dass ich einen Blick in die Sauna werfen konnte.
    Umrisse schälten sich aus dem Nebel heraus. Es musste Langemark sein, der saft- und kraftlos auf einer Holzpritsche kauerte. Er war gar, der Kopf krebsrot. Seine Augen waren glasig, die Gesichtszüge zerknautscht und aufgedunsen. Sein Goldkettchen hatte eine rote Linie auf Nacken und Oberkörper hinterlassen. Langemark atmete unregelmäßig und glotzte mich stumpf an. Er versuchte mühsam aufzustehen, aber die kraftraumgestählten Muskeln versagten ihm den Dienst. Er knickte ein und fiel lallend zurück auf die Bank.
    Das Muskelpaket würde mir keine große Hilfe sein. Ich befahl ihm, still zu sein und auf mich zu warten. Langemark gehorchte widerstandslos und nickte stumm.
    »Hasta la vista, Baby«, sagte ich. »Ich komme wieder.«
    Ich schloss die Tür und widerstand gerade noch der Versuchung, ihm wieder einzuheizen.
    Völlig entnervt wie ich mittlerweile war, schaltete ich das Deckenlicht ein. Im Untergeschoss flackerten Neonleuchten auf und beleuchteten eine chaotische Szenerie. Ich blinzelte einige Sekunden, bevor ich mich an das grelle Licht gewöhnt hatte. Der Putz bröckelte von den Wänden. Der Fußboden war teilweise aufgerissen worden. Überall lagen Bauschutt, Paletten mit terrakottafarbenen Fliesen, Zementsäcke und achtlos hingeworfene Hämmer und Meißel herum.
    Ich suchte mir einen Weg durch die Baustelle und entdeckte eine Treppe, die ins Erdgeschoss führte. Als ich den Fuß auf die erste Stufe setzte, ertönte ein Schrei.
    Anna!
    Nun gab es für mich kein Halten mehr. Alle Vorsicht über Bord werfend stürzte ich die Treppenstufen hinauf.
    In der geräumigen Empfangshalle war es kühl. Ich registrierte einen Saal für Tanz und Gymnastik, sowie eine Bar mit Milch-Shakes und Powerdrinks. Dann stolperte ich in den lichten Fitnessraum. Es roch nach Schweiß und Gummi. Ein Folterwerkzeug neben dem anderen: Laufbänder, Fahrrad-Ergometer, Hantelbänke. Gerätschaften mit so merkwürdigen Namen wie ›Curl-Pult‹ und ›Latisimus-Station‹. Geräte, um die Kondition zu steigern, Schenkel und Pobacken zu straffen, Fett ab und Muskeln aufzubauen.
    Anna saß mit vor Schreck aufgerissenen Augen auf einer Ruderbank. Sie stieß einen weiteren Schrei aus.
    Zu spät erkannte ich den Unterschied. Der erste Schrei war ein Hilferuf gewesen, der zweite Schrei war eine Warnung. Ich ahnte eine Bewegung hinter mir und wirbelte herum. Aber ich war zu langsam. Eine Hantel krachte in meinen Rücken. Ich stolperte über Trizeps-Seile und stieß mir den Kopf. Dann bohrte sich etwas schmerzhaft in meine Weichteile und mir wurde schummerig vor den Augen. Mein Kopf schien zu explodieren. Es wurde finster. Hätte ich doch nur den Sturzhelm mitgenommen, war mein letzter Gedanke, bevor ich flach auf dem Boden aufschlug.
    That long black cloud is comin’ down. I feel like I’m knockin’ on heaven’s door. [47]

XIX

Liebe Leserinnen und Leser! Wir befinden uns mittlerweile am Ende meiner Geschichte. Ich denke es ist an der Zeit, ein Geständnis abzulegen. Just in diesem Augenblick lasse ich nämlich von einer daunenweichen Wolke die Beine baumeln. Die Sonne lacht. Es ist himmlisch ruhig. Nur ein paar fliegende Fische ziehen seelenruhig ihre Bahnen. Auf der Nebenwolke befindet sich eine vorzüglich ausgestattete Bar. Eine Flasche Glen neben der anderen. Paradiesisch, eine Einladung zu einem ewig währenden ›Glencheck‹. Der betagte Barkeeper mit dem langen, weißen Bart hört mir verständnisvoll zu, während ich ihm die unglaubliche Geschichte meiner letzten fünf Tage erzähle. Herzlich lacht er über den kaltgestellten Zwanziger, den bettlägerigen Feldmann und den strahlenden Barenbrock. Daraus schließe ich, dass ich den Dreien hier nicht begegnen würde. Er grient verschmitzt über die Geschehnisse der Samstagnacht (dirty old man!) und bekundet nachdrückliches Interesse dafür, wie man den Sensenmann trifft, indem einem die Nüsse wie Backkartoffeln am Lagerfeuer aufgespießt werden. Das ist ihm auch noch nicht so häufig untergekommen. Und eines, meine Damen und Herren, kann ich Ihnen nun verkünden. Glauben Sie bloß nicht alles, was man Ihnen erzählt! Es gibt hier weder Harfen, noch Münchner Gepäckträger. Gott sei dank. Allerdings gibt es auf Wolke Nummer Sieben auch keine zweiundsiebzig Jungfrauen.

Es gibt kaum unnütze Erfahrungen im Leben. Gelobt sei die Ehe mit einer Testosteron-Bombe. Oder regelmäßiges Tennisspielen. Oder Rudern. Die stummeligen Ausleger pflügten durch die Luft. Ich wurde in der Kniekehle getroffen.

Scherz beiseite. Der gemeine Angriff von hinten hatte mich nicht umgebracht, nur für eine Nanosekunde außer Gefecht gesetzt. Wie hätte Röers es auch rechtfertigen können, von seinem Drehbuch abzuweichen.
    Verlassen wollte ich mich darauf aber dann doch wieder nicht. Und so stritten zwei ganz und gar nicht für diese Aktivität geschaffene Charaktere verzweifelt darum, die Oberhand über den jeweils anderen zu erlangen. Währenddessen war die einzige Sportskanone im Haus ein Stockwerk tiefer im Dampfbad eingeschlossen. Und ich selbst war auch noch der Depp gewesen, der den Schlüssel weggeworfen hatte. Im übertragenen Sinne.
    Wir rangen wortlos miteinander. Wir hatten kein gemeinsames Thema, über das wir uns unterhalten konnten. Nur hie und da störte ein Keuchen die Sonntagsruhe. In dem schmächtigen Körper von Röers steckten ungeheure Kräfte. Adrenalin und Wut vermögen auch in einer halben Portion gewaltige Energien freizusetzen.
    Doch ich hatte nicht mit Anna gerechnet. Röers auch nicht. Es gibt kaum unnütze Erfahrungen im Leben. Gelobt sei die Ehe mit einer Testosteron-Bombe.
    Oder regelmäßiges Tennisspielen.
    Oder Rudern.
    Wir waren der Ruderbank nähergekommen, auf der Anna saß. Die stummeligen Ausleger pflügten durch die Luft. Ich wurde in der Kniekehle getroffen. Ein stechender Schmerz durchfuhr mein rechtes Bein. Ich gurgelte gequält und fiel zur Seite. Der Ausleger setzte unbeirrt seinen Weg fort und traf Röers direkt vor die Kniescheibe. Er schrie auf und kippte ebenfalls um. Anna warf der eigene Schwung zurück auf den Sitz.
    Während sie wie gelähmt hocken blieb, rappelten Röers und ich uns sofort wieder auf. Mit keuchendem Atem und schmerzenden Kniegelenken standen wir uns gegenüber. Wir umkreisten uns wie zwei Boxer im Ring. Dreizehnte Runde und immer noch kein Ende abzusehen. Röers Gesicht war eingefallen und die Augen dunkel umschattet. Seine Lider zuckten nervös. In den Pupillen spiegelten sich Übermüdung, Hoffnungslosigkeit und Trauer. Ein Feuer, das ihn von innen verzehrte.
    Ich wagte nicht einen Moment, ihn aus meinem Gesichtsfeld zu lassen. Aus den Augenwinkeln heraus sah ich links den Schraubenschlüssel und rechts die Hantel liegen. Aber auch Röers hatte sie entdeckt. Wir kreisten wie die Aasgeier um die Beute. Röers versuchte als erster sein Glück und traf eine Entscheidung. Er stürzte sich auf den Schraubenschlüssel wie der Pfaffe auf den Messdiener. Ich passte ihn ab und wir umfingen uns wie zwei schwule Tanzbären. Wenn du deinen Feind nicht besiegen kannst, umarme ihn, sagt ein altes Sprichwort.
    Es war ein merkwürdiger Tanz. Ich hielt den Mann in Armen, der meinen ungeliebten Arbeitgeber ins Jenseits befördert hatte. Es könnte nicht einmal mit Vorsatz gewesen sein. Nur mit einer wahnsinnigen Wut im Bauch. In neunundneunzig von hundert Fällen wäre es das gewesen. Aber wegen einer Verquickung unglückseliger Umstände in seiner Biographie hatte die Tat bei Röers eine Kettenreaktion in Gang gesetzt. Er hatte sich von Dr. Jekyll in Mr. Hyde verwandelt und sie einen nach dem anderen erledigt: Zwanziger, Feldmann, Barenbrock, Langemark. Die ganze Bagage.
    Während wir beide den Kriminaltango tanzten, fiel mir eine der letzten Strophen des Weberliedes ein. Verfasst vor hundertsechzig Jahren und fünfhundert Kilometer weit entfernt von einem unbekannten Autor als ein Aufschrei gegen Tyrannei und Ausbeutung.

Und hat ja Einer noch den Muth,
Die Wahrheit euch zu sagen,
So kommt's soweit, es kostet Blut,
Und den will man verklagen.
Mein libanesischer Seelenklempner Ali sagt immer: du musst loslassen können. Ich ließ also los.
    Einen kurzen Augenblick stand Werner Benedikt Röers, alias ›der Weber‹, regungslos da. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und stolperte aus meinem Leben.
    Wenn ich Jerry Cotton oder Bruce Willis wäre, würde ich mit einer Kombatrolle hinterherhechten. Ich hätte Röers am Schlawittchen gepackt und vor den Kadi und aufs Schafott geschleift. Aber ich bin's nicht. Ich bin kein Vollstreckungsbeamter, kein Staatsanwalt, kein Richter. Und das ist gut so. [48]

Während eine Tür ins Schloss fiel und die Schritte verklangen, half ich Anna auf die Beine. Sie versuchte, ihre Fassung wiederzugewinnen. Ihr Gesicht war blass und ihre Hände zitterten. All ihr Selbstvertrauen war Unsicherheit und Hilflosigkeit gewichen. Sie warf mir einen Blick zu, in dem eine Mischung aus Dankbarkeit, Enttäuschung und tiefster Verständnislosigkeit lag. Das betraf wohl die verschiedensten Dinge.
    »Wo ist er?«
    »Röers? Keine Sorge, von dannen. Ich bezweifle, dass er sobald wieder auftaucht. Und den Rest besorgen unsere Freunde und Helfer.«
    »Und Martin?«
    »Martin …? Ach so. Im Untergeschoss. Wärmt sich gerade auf.«
    Ich wusste in diesem Augenblick, dass ich nicht nur den Weber verloren hatte.
    Ich könnte jetzt sagen: man muss einsehen, dass manche Menschen einfach nicht füreinander bestimmt sind. Hatte ich mich denn nicht die ganze Zeit gefühlt, als ob ich ohne Fahrerlaubnis zwischen Scylla und Charybdis kreuzte? Ob ich mich nicht entscheiden könnte, auf welcher Klippe ich am liebsten zerschellen möchte? Aber das sind auch nur solche Sprüche.
    Anna stürzte die Treppe ins Untergeschoss hinunter. Ich verließ ohne Eile das Gruselkabinett. Meine Arme und Beine waren schwer wie Blei. Mein gesamter Körper schmerzte. Ich fühlte mich zerschlagen wie Porzellan nach dem Polterabend. Prellungen und Schürfwunden konnten doch nicht der Sinn und Zweck eines Fitness-Studios sein.
    Vor dem Gebäude erschienen nun die ersten Streifenwagen. Im neuen, modisch adretten Blau. Echt schick. Die Fahrzeuge bogen mit heulenden Sirenen auf den Parkplatz ein. Hauptkommissarin Schultze-Döneken und ihr Harry entstiegen einer Blauen Minna und kamen eiligen Schrittes über den Parkplatz gelaufen.
    »Danke, das genügt. Wir erledigen den Rest.«
    »Da bin ich mir sicher, Bella Blocksberg.«
    »Wie?«
    »Ciao, Bella, ciao, Bella, ciao ciao ciao.« [49]
    So ganz hatte ich meinen Adrenalinspiegel noch nicht wieder im Griff. Die Hauptkommissarin schüttelte den Kopf und kehrte mir ohne ein weiteres Wort den Rücken zu. Ich wandte mich ebenfalls ab. Lass die Polizei ihren Job machen. Dafür bezahlen wir sie.
    Uniformierte Beamte sperrten das Gelände mit rot-weißem Absperrband ab. Einige Gaffer hatten sich bereits eingefunden, die hoffnungsvoll grausiger Entdeckungen harrten. Ein Eiswagen hielt auf der anderen Straßenseite. Ein kleines Mädchen drängte sich bettelnd an der Hand seiner Mutter vor den bunten Bus. Hauptkommissarin Schultze-Döneken erteilte ihrem Harry ein paar knappe Anweisungen: Straßen absperren, SEK anfordern, mit Hubschrauber und Hundestaffel das Feuchtgebiet durchkämmen.
    Ich klopfte mir Staub und Mörtel von der Hose. Auch die Anspannung der vergangenen halben Stunde fiel langsam von mir ab und ich gewann meine alte Form zurück. Dennoch konnte ich eine leichte Trauer nicht verhehlen, als Anna und ihr Ex Arm in Arm an mir vorbeihumpelten.
    »Ich muss mich jetzt um Martin kümmern.«
    »Sehe ich ein.« Sah ich natürlich nicht ein. Das Kraftpaket mit dem schlaffen Gastauftritt hatte gar nicht verdient, dass es beinahe ein Opfer des Webers geworden wäre. Und schon gar nicht so eine tolle Frau.
    »Apropos sehen. Sehen wir uns?«
    »Vielleicht«, sagte Anna, während ein Sanitäter den beiden half, in einen Krankenwagen einzusteigen.
    Mit Blaulicht und Martinshorn brauste die Ambulanz davon. Ich hatte keine Ahnung, ob Anna nun ein Stelldichein im Büro oder in einem intimeren Rahmen gemeint hatte. Wie wäre es mit einem netten, gemütlichen Restaurant? Erst jetzt bemerkte ich, dass ich außer einer Tasse Kaffee und zwei Scheiben Toast heute noch nichts zu mir genommen hatte.
    Und diese Gelegenheit nahm ich wahr, um mich dezent aus der Geschichte zu verabschieden.

»Einen einsamen Malz?«, fragte Bediene, als ich mich abends am Tresen der WunderBar niederließ. Aus den Lautsprecherboxen dröhnte laute Rockmusik. Das war jetzt genau das Richtige, denn von Volksmusik hatte ich die Schnauze gestrichen voll. »Einen Doppelten, bitte.«

XX

»Einen einsamen Malz?«, fragte Bediene, als ich mich abends am Tresen der WunderBar niederließ. Den Rest des Tages hatte ich damit zugebracht, meine Wunden zu lecken und mich seelisch auf den bevorstehenden Muskelkater vorzubereiten.
    Paco und Rainer waren über halbleere – beziehungsweise halbvolle – Gläser gebeugt. Rainer redete, Paco schwieg. Aus den Lautsprecherboxen dröhnte laute Rockmusik. Das war jetzt genau das Richtige, denn von Volksmusik hatte ich die Schnauze gestrichen voll. Das Stück klang mit einem bleiernen Akkord aus. Dann spielten die Stones ›Play With Fire‹. »Now you've got some diamonds, but you'd better watch your step, girl«, nörgelte Mick Jagger ins Mikrofon. »So don't play with me 'cause you're playing with fire.« [50] Das brachte mich auf einen Gedanken.
    »Kann ich mal telefonieren?«
    Bediene nickte. »Hilf dir selbst.«
    Ich ging um die Theke herum und suchte dabei nach der Nummer in meiner Jackentasche. Ich tippte die Durchwahl ins Büro ein. Das Freizeichen ertönte. Es klingelte fünfmal, dann knackte es kurz und der Klingelton veränderte sich. Es tutete eine halbe Minute, bis irgendwo ein Hörer abgenommen wurde.
    »Ja, bitte?« Im Hintergrund war die Erkennungsmelodie der Tagesschau zu hören.
    »Hallo, ich bin’s noch mal.«
    »Was ist denn noch? Ich bräuchte wirklich ein wenig Ruhe.«
    »Klar, wer braucht die nicht.« Ich ließ mich nicht beirren. »Das ist ganz schön heftig, diese Geschichte, was? Die Weber, Röers …«
    »Ja, das ist ziemlich traurig.«
    »Eins ist aber schon seltsam. Ich meine, was wäre denn, wenn das alles ganz anders wäre? Röers war der Täter, kein Zweifel. Aber …«
    »Aber was?«
    »Lass mich doch einfach mal rumspinnen. Stellen wir uns vor, da gibt es eine resolute Dame, die ein paar Probleme loswerden will. Problem Nummer 1: der intrigante Stellvertreter, der gerne selbst den Chefsessel eingenommen hätte. Was wäre, wenn dieser so weit geht, dass man nur noch zu Gewalt greifen kann? Problem Nummer 2: der feiste Betriebsrat. Also da blicke ich ehrlich gesagt nicht so wirklich durch. War er so notgeil, dass er nicht nur kaffeebraune Huren antatschte? Problem Nummer 3: der schöne Ratsherr. War er der Grund für die Trennung von Mann und Heim? Hat der Playboy es sich dann aber wieder anders überlegt?«
    »Ich … Du hast gerade selbst gesagt, dass Röers zweifelsohne der Mörder ist.«
    »So ist es. Röers hat die Morde ausgeführt. Oder war er nur ein Handlanger? Handlanger, ha ha!« Ich lachte lustlos, ohne eine Miene zu verziehen. »Entschuldige den schlechten Witz.«
    Ich suchte nach passenden Worten. »Lass mich mal weiterspinnen. Der Zufall kommt in Gestalt von Röers mit seinem Knacks und seinem Hintergrund zu Hilfe und die Probleme lassen sich in einem Aufwasch erledigen. Das war natürlich kein Auftragsmord. Es brauchte nur einen kleinen Kick, um die Dominosteine in Bewegung zu setzen und in die richtige Richtung zu schubsen. Das Schönste daran ist, dass es dafür nie einen Beweis geben wird. Röers wird sich dessen gar nicht bewusst sein. Das perfekte Verbrechen, niemand verdächtigt ein Opfer.«
    »Deine Fantasie möchte ich haben, Tom. Drei Morde auf Umwegen, das glaubt doch kein Mensch.«
    »Das glaubt kein Schwein, gewiss. Das ist so was von unwahrscheinlich. Aber es genügt ja, wenn es eigentlich immer nur ein einziges Problem gab. Und Nummer 2 und Nummer 3 waren nur Kollateralschäden.«
    »Du vergisst Röers vierten Mordversuch.«
    »Ah ja. Das war ein ziemlich riskantes Spiel. Das wäre ja beinahe schief gegangen.«
    »Wie kommst du nur auf solche Hirngespinste?«
    »Ach, weißt du, dein Fräulein Danowski war felsenfest davon überzeugt, dass Zwanziger Röers Entlassung verfügt hatte. Das haben irgendwie alle geglaubt. Auch Röers. Aber die Unterschrift unter den Entlassungspapieren stammte nicht von Zwanziger. Es war deine Signatur. Kein Zweifel.«
    »Natürlich war es meine. Was soll das beweisen? Jetzt verrennst du dich. Wie du eben selbst gesagt hast, du spinnst!«
    »Ja, wahrscheinlich. War auch nur so eine Idee.«
    »Eine blödsinnige Idee.«
    »Ich wollte es wenigstens einmal gesagt haben.«
    »Was hast du vor?«
    »Hm. Einen Glen, denke ich.«
    »Einen was?«
    »Oder zwei, mindestens. Mach’s gut. Und … Anna?«
    »Ja?«
    »Ach nichts. Tschüss!«
    Ich hängte den Hörer ein. Während ich wieder auf dem Barhocker Platz nahm, lauschte ich der Musik. Der Sänger einer mir unbekannten Band brachte seine Lebensphilosophie zu Gehör.

To win just once,
To win just once,
Well, that would be enough. [51]
»Wie war das jetzt mit dem Drink?«, fragte Bediene.
    »Gerne«, antwortete ich. »Sieht man mir jetzt schon an, was ich brauche?«
    »Was?« Sie lächelte. »Ist doch deine übliche Medizin. Oder hat sich da etwas in den letzten zwei Tagen geändert?«
    Ändert sich nicht alles die ganze Zeit? Nein, nicht wirklich. Ich hatte mich nicht geändert. Meine Gewohnheiten hatten sich nicht geändert. Man ändert sich nie. Und wer weiß, wofür das gut ist. Es gibt Menschen, die die Wahrheit suchen. Andere suchen Reichtum und Ruhm. Ich versuche doch nur, über die Runden zu kommen.
    Ich lächelte zurück. Das Wochenende war noch nicht vorbei. Und ich versaue mir nicht die letzten paar Stunden und denke darüber nach, wo ich am Montagmorgen einen neuen Job herbekam.
    Sie wissen ja, das Wochenende ist mir heilig.
    »Einen Doppelten, bitte.« Ich blickte mich um und betrachtete all die Ritter von der traurigen Gestalt. »Die nächste Runde geht an mich.«

<< Teil 7 <<   Ende.  

Fußnoten: Saw Doctors: Der Sänger brachte seine Lebensphilosophie zu Gehör: »To win just once, to win just once, well, that would be enough.« Ich blickte mich um und betrachtete all die Ritter von der traurigen Gestalt. »Die nächste Runde geht an mich.« [Photo by Tom Keller]
[47] Knockin’ on Heaven’s Door. Text und Musik: Bob Dylan, 1973.
[48] Wenn ich Jerry Cotton oder Bruce Willis wäre … In den guten alten Zeiten war der Verbrecher böse und der Gesetzeshüter gut. Und so endete jede Geschichte damit, dass der Mörder seiner gerechten Strafe überantwortet wurde. Mittlerweile ist man da realistischer (zynischer?) geworden. Heutzutage sind die Ermordeten – insbesondere in den Vorabendserien – meist gemeine und niederträchtige Zeitgenossen. Aber so sehr auch der ermittelnde Kommissar die Motive des Täters nachvollziehen kann, er lässt ihn niemals laufen. Gesetz ist Gesetz; Ordnung muss sein; Anarchie droht … Der Staat muss wohl so denken. Ich nicht!
[49] Bella Ciao. Text und Musik: Italien, 19./20. Jhd.
[50] Play With Fire. Text und Musik: Mick Jagger, Brian Jones, Keith Richards, Charlie Watts, Bill Wyman.
[51] To Win Just Once. Text und Musik: Leo Moran, Davy Carton, 1996 (Saw Doctors, s. FW#28, Bild rechts).

Danksagung:
Diese Geschichte ist Fiktion. Wer aber meint, lebende Personen, reale Schauplätze oder tatsächliche Ereignisse wiedererkannt zu haben, der hat … vielleicht an manchen Stellen … recht. Aber macht mich nicht für das Leben verantwortlich. Es ist, wie es ist. Ich danke darum an allererster Stelle all denjenigen, die mir die Einsicht vermittelt haben, dass man den alltäglichen Wahnsinn nur mit Humor ertragen kann. Mein Respekt dem unbekannten Dichter (oder den Dichtern) des Weberliedes. Der schlesische Weberaufstand im Jahre 1844 hat (fast) so stattgefunden, wie ich ihn beschrieben habe. Das ›Blutgericht zu Peterswaldau‹ wurde genau so gesungen, Strophe für Strophe. Besten Dank dem Steinitz-Symposium auf dem Tanz- und Folkfestival in Rudolstadt 2005, welches die Idee für den Plot geliefert hat. Wer sich mehr für Wolfgang Steinitz interessiert, dem sei die Biografie von Annette Leo empfohlen. Außerdem grüße ich Family & Friends (insbesondere meine Testleser Christian, Christian und Mario, die die erste Fassung des Skripts über sich ergehen lassen mussten), Ralf (für medizinischen Beistand), Wolfgang Meyering (Geschichte von der kleinen Maus, Wolfgang hatte allerdings einen kleinen Vogel), Sven Regener (Ausborgen von Kristall-Rainer aus ›Herr Lehmann‹), sowie all die Kolleginnen und Kollegen von der schreibenden Zunft, die die Zeitungsartikel über Feldmanns Karriere und Röers’ Unfall, NATO-Müllers Leserbrief und diverse Barenbrock-Zitate inspiriert haben. You know who you are, ich leider zum Teil nicht mehr. Außerordentlich anregend waren auch das kurz und bündige Büchlein ›Biedermeier‹ von Harald Sterk und Gerhart Hauptmanns Drama ›Die Weber‹. Zuguterletzt einen heißen Dank Petrus und dem feuchten Sommer 2005. Ohne ihn wäre ich jetzt nicht an dem Punkt, den letzten Satz in die Tastatur zu hämmern.

© Tom Keller, 2006



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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 12/2006

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