FolkWorld Fiction von Tom Keller

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Eine Kriminalgeschichte Teil 5

Zwei Tote - wegen des schlesischen Weberaufstands von 1844 und eines Volksliedes: »Unser Mann oder unsere Frau killt nach der Handlungsvorlage des Weberliedes«, fuhr ich fort. »Wir haben es offensichtlich mit einem Psychopathen zu tun, der sich seine Opfer nach einer literarischen Vorlage sucht.« Frau Van Aken schaute mich an, als würde sie dem gefräßigen Plapperkäfer von Traal gegenübersitzen. Ihre Hand fegte ärgerlich über den Tisch und kippte ein Weinglas um. Die blutrote Flüssigkeit ergoss sich über das blütenweiße Tischtuch… Da muss man doch schlechte Träume haben.

XI

Als ich Äonen später ins Leben zurückkehrte, hatte ich einen schalen Geschmack im Mund und meine Zunge klebte am Gaumen. Der Radio-Wecker zeigte 10 Uhr 42. Miles Davis blies ein paar coole Trompetensolos. Ich versuchte, mich auf die Basslinien zu konzentrieren. Nach elf Minuten ›Walkin’‹ schaltete ich aus. Eigentlich gebe ich nichts auf Träume. Wenn ich mich überhaupt an sie erinnern kann, sind sie rätselhaft und unbefriedigend. Aber das hier war etwas völlig anderes. Das Hütchen, das immer noch vor meinem geistigen Auge vorüber zog, war so prosaisch wie ein Traum von fließendem Wasser bei drückender Blase. Hippies Geschichten spukten mir im Kopf herum.
    Die Welt drehte sich um mich, als ich ächzend aus dem Bett fiel. Lag es an der unglücklich gewählten Abfolge von Wein und Aqua Vitae, dass auch mein Magen mitrotierte? Ich kann das nur mit dem unkontrollierten Konsum von Majoran entschuldigen, der in der Zitronensoße gewesen war, und auf den ich allergisch reagiere. Ich verstand mit einem Mal, warum Rainer sein Weizenbier ohne Obst zu sich nahm.
    Ich war dehydriert und leerte erst einmal eine Flasche Mineralwasser. Vielleicht hatte der Schwätzer doch recht mit seiner Trinktheorie. (Aber ich hatte doch gar nicht wenig getrunken.) Ich hatte Schwierigkeiten, die vergangene Nacht zu rekapitulieren. Vage erinnerte ich mich daran, wie Rainer mich zugetextet hatte. Er machte irgendwas mit Computern. (Das speicherte ich ab, könnte ja mal nützlich sein.) »Du, ich bin sogar schon mal in einem Buch und einem Film vorgekommen.« Ja, ja, red du nur.
    Der Postbote meines Vertrauens hatte ein Päckchen mit den von mir im Internet bestellten Hörproben vor die Tür gestellt. Ich hatte ihm in einem langen, harten Kampf eingeimpft, bloß niemals vor Mittag bei mir zu klingeln.
    Immerhin waren drei Tonträger zusammengekommen. [28] Die älteste Aufnahme des Weberliedes stammte von einem gewissen Karl-Heinz Weichert und einer Doppel-LP mit dem Titel ›100 Jahre Deutsches Arbeiterlied‹ aus dem Jahre 1967. Eine kurze Minute. Weichert zupfte eine Gitarre und sang mit viel Pathos eine getragene Melodie. Im Steinitz hieß es, der Text werde nach dem Lied ›Es liegt ein Schloß in Österreich‹ gesungen, das schon im Glogauer Liederbuch von 1480 aufgezeichnet worden war. Die Melodie war schlicht und ergreifend, in diesem Zusammenhang schaurig-schön.
    ›18 aus 48 - Das Beste von der Barrikade‹ hieß eine Sammlung historischer Lieder der Revolution von 1848, die eine Leipziger Folksessionband im Revolutions-Jubeljahr 1998 eingespielt hatte. Das Arrangement begann mit dem quälenden Bordunton einer Drehleier. Dann wurde die Melodie von der gesamten Band aufgenommen: Gitarre, Kontrabass, Flöte, Geige, Perkussion. Eine kratzige Stimme hauchte dem verstaubten Liedgut neues Leben ein.
    Im selben Jahr waren auch Aufnahmen auf CD gepresst worden, die der Düsseldorfer Liedermacher Dieter Süverkrüp bereits 1973 unter dem Titel ›1848 – Lieder der deutschen Revolution‹ eingespielt hatte. Süverkrüp sprach eine kurze Einleitung. Dann folgte eine Art Sprechgesang und rhythmischer Gitarrenschlag, dramatisch untermalt von Trommel, Geige und Trompete. Ein kühles Blechblasinstrument, aber es war nicht die Coolness von Miles Davis.
    Während die Stereoanlage revolutionäre Kampflieder schmetterte, blätterte ich die Zeitung von hinten nach vorne durch. Einen weiteren Mord gab es nicht zu vermelden, stellte ich erleichtert fest. Meine Kopfschmerzen ließen langsam nach, also ließ sich eine Sache nicht länger aufschieben. Wie war noch der Abend mit Anna Van Aken zu Ende gegangen? »Wir können nicht zulassen, dass noch ein weiterer Mord geschieht«, hatte sie eindringlich gesagt, als wir die Sprache wieder gefunden und uns auf der Straße verabschiedet hatten.
    Ein scharfer Wind schlug mir wie eine Ohrfeige ins Gesicht. Die Stadt schlummerte. Vereinzelt fuhr ein Auto vorbei und eine dunkle Gestalt torkelte um eine Ecke. Kein Mond am Himmel, die Sterne waren hinter den Wolken verborgen. Es wäre eine stockfinstere Nacht gewesen, leuchtete nicht der Himmel im Osten orangerot von einem Stahlabstich.
    »Sicher nicht«, antwortete ich. »Das können wir nicht zulassen. Wir sind allerdings nicht hart-aber-herzlich Robert Wagner und Stephanie Powers. Wir sollten die Polizei einschalten.«
    Bei diesem Vorschlag beunruhigte mich aber selbst meine eigene, eher unrühmliche Rolle in diesem Stück. Was würden wohl die Ordnungshüter dazu sagen?
    Sie lehnte sich an ihren silbernen Audi A4 und dachte eine Weile nach. »Nein! Nach einem Volkslied Menschen töten. Vielleicht ist diese Überlegung ja völliger Unsinn. Ich will mich nicht lächerlich machen.«
    Ich auch nicht. Ich war gekränkt, was sie nicht zu bemerken schien.
    »Finden Sie das nächste Opfer!«, kommandierte sie.
    »Und wenn ich auf den Killer treffe?«, fragte ich leicht nervös.
    »Killing me softly with his song, killing me softly«, sang sie, »with his song.« [29] Sie lachte. Hatte sie das wirklich gesungen oder bildete ich mir das nur ein?
    Anna Van Aken gab mir ihre Telefonnummer. Ich kramte in meinen Taschen, fand den Notizzettel, den ich seit zwei Tagen bei mir trug, und notierte die Nummer auf der Rückseite. »Ich bin jederzeit erreichbar«, erklärte sie. »Das ist die direkte Durchwahl in mein Büro. Falls ich nicht dort sein sollte, wird der Anruf auf mein privates Telefon oder auf mein Handy weitergeleitet.«
    So. Das war also mein erster Job für meine neue Chefin, was? Hoferichter ausfindig machen und dann … Ja, was dann? Ihn warnen? Den Bodyguard spielen? Warum überließ ich das Räuberfangen nicht den Gendarmen? Lag da eine Erfolgsprämie für mich drin? Ein höherer Honorarsatz als üblich? Spesen? Oder hatte mich nur eine hübsche Larve eingewickelt?
    Die Standuhr schlug die Viertelstunde, als ich das Telefonbuch aufklappte. Es gab einen Zahnarzt namens Hoferichter im Stadtgebiet. Ich wählte die Nummer.
    »Guten Tag«, meldete sich die emotionslose Stimme einer Arzthelferin. »Hier ist die Praxis Dr. Hoferichter …«
    »Tach auch.«
    »… Leider haben wir im Augenblick wegen Urlaubs geschlossen …«
    »Äh?«
    »… Bei dringenden Fällen wenden Sie sich bitte an die Notrufzentrale oder an unsere Urlaubsvertretung, Praxis Dr. Dr. Ku…«
    »Mist!« Ich würgte die Arzthelferin ab.
    Im Telefonbuch folgte noch ein weiterer interessanter Eintrag. Frau Therese Hofrichter. Nur eine Telefonnummer, keine Straße. Ich wählte erneut.
    »Kein Anschluss unter dieser Nummer. Kein Anschluss …«
    Verflucht. Wie komme ich nur weiter, grübelte ich. Ohne intime Kontakte zur Polizei oder, abgesehen davon dass Samstag war, einer anderen öffentlichen Einrichtung. Natürlich: Kristall-Rainer! [30] Der war doch so ein Computerfreak. Hatte er jedenfalls behauptet. Doch gut, dass er mir vergangene Nacht seine persönlichen Daten aufgedrängt hatte.
    »Ja?«, meldete sich eine schläfrige Stimme. Der hatte vergangene Nacht auch nicht nur Zitrone zu sich genommen.
    »Hi, Rainer. Ich bin’s: Tom. Erinnerst du dich?«
    »Ja?«
    »Tom! Aus der WunderBar. Gestern.«
    »Ja? Was denn?«
    »Ich brauch mal deine Hilfe. Du kennst dich doch mit Rechnern aus. Hast du jedenfalls gesagt. Und wahrscheinlich nicht nur: hier schaltet man den PC ein, dies Kabel gehört in die Maus, mit dem Knopf geht’s in Internet. Du kannst doch bestimmt auch Firewalls bezwingen, kommst an Datenbanken heran …«
    »Ja und?«
    »Ich hab da einen Namen. Und dazu wüsste ich gern die übrigen Daten: Adresse, Lebenslauf, Maße, und so weiter. Du weißt schon, das ganze Programm.«
    »Kann ich wohl machen.«
    »Super.«
    »Ich ruf zurück.«
    Klick. Tut-tut. Schwachkopf, dachte ich und drückte auf Wahlwieder- holung.
    »Ja?«
    »Hier Tom noch mal. Ich hab dir noch gar nicht den Namen gesagt.«
    »Ach ja.«
    »Hofrichter. Frau Therese Hofrichter. Wohnhaft am Ort.«
    »Kein Problem. Ich melde mich.«
    Alle Achtung. Es dauerte nur wenige Minuten, bis Rainer wieder anrief. Ich ersparte mir diesmal einen Spruch. Er war mittlerweile auch aufgetaut.
    »Wie gesagt, null problemo beim alten Rein-und-raus-Spiel im Cyberspace. Fensterln sozusagen.« Ich konnte ihn grinsen hören. »Therese Hofrichter, ja? Bist du dir sicher?«
    »Bin ich. Hundertprozentig sicher. Wieso?«
    »Weil die Tante verstorben ist.«
    »Ver… verstorben?« Einen Moment lang war ich elektrisiert.
    »Verstorben. Tot. Hinüber.«
    »Tot? Ja, wie?«
    »Deine Frau Hofrichter ist vor drei Monaten friedlich in ihrem Bett entschlummert. Sie war zweiundachtzig Jahre alt.«
    »Oh!« Ich verlor augenblicklich das Interesse.
    »Tom, ich will dir ja nicht zu nahe treten. Geht mich auch gar nichts an. Aber du hast schon einen seltsamen Geschmack.«
    »Kein Grund zur Beunruhigung.«
    »Sagst du so einfach.« Er machte eine Kunstpause. »Übrigens, hast du gewusst, dass mit zunehmendem Alter das Schlafbedürfnis abnimmt? Meinen jedenfalls die Morpheologen. Neugeborene schlafen etwa achtzehn Stunden. Erwachsene brauchen sechs bis zehn Stunden Schlaf. Durchschnittlich acht Stunden, mathematisch lässt sich dieser Zusammenhang mit einer Gaußschen Glockenkurve darstellen. Nach dem fünfzigsten Lebensjahr sinkt das Schlafbedürfnis. So ab achtzig geht es gegen null.«
    »Tschau, Rainer.« Klick.
    Zwei Nieten. Ein Kandidat auf Urlaub, eine vorzeitig Verschiedene. Und der ›Weber‹, wie ich den Täter mittlerweile nur noch nannte, würde kaum darauf warten, dass der Zahnklempner wieder in der Stadt auftaucht. Ganz davon abgesehen, dass es schon ein großer Zufall gewesen wäre, wenn einer der beiden Hof(e)richters dem ins Auge gefassten Opferkreis entsprochen hätte. Nun hatte ich zwar das ›Opferprofil‹ in die Kriminalistik eingeführt, ich empfand aber Detektivarbeit als eine zutiefst dröge Angelegenheit.
    Wenn ich der Weber wäre, dachte ich mir, wie würde ich weiter vorgehen? Es gibt ein paar Hofers, jede Menge Hofmanns und Hofmeisters. Aber es wäre unmöglich, alle abzuklappern. Und würde sich der Weber überhaupt mit so einer entfernten Namensähnlichkeit abfinden?
    Nein! Ich warf das Telefonbuch beiseite. Die Uhr schlug zur vollen Stunde.

Ich grüßte eine meiner Untermieterinnen, die von der Nachschicht kam, als ich die Treppe hinunter stieg. Ich war schon an ihr und ihrem aufdringlichen Parfüm vorbei, da fiel mir etwas ein. »Ach, hallo … Rita? Stimmt’s?« [Photo by Tom Keller]

Ich grüßte eine meiner Untermieterinnen, die von der Nachschicht kam, als ich die Treppe hinunter stieg. Ich war schon an ihr und ihrem aufdringlichen Parfüm vorbei, da fiel mir etwas ein.
    »Ach, hallo … Rita? Stimmt’s?«
    Sie schaute mich äußerst geringschätzig an. »Wer will das wissen?«, raunzte sie mich an. Die Hure mit dem goldenen Herz ist auch nur ein elendes Klischee.
    Den Namen hatte ich spontan erfunden. Es war die Wasserstoffblondine von dem Gorilla. Sie war um die Dreißig, gut gebaut und trug einen quietschroten Kunstlederrock und ein ebensolches Handtäschchen. Ein leichter Akzent ließ auf Polen oder Tschechien schließen.
    »Weil … Es ist wegen einer Kollegin von dir, von Ihnen … Grazia meine ich.«
    »Grazia?«
    »Ja.«
    »Muss ich die kennen?«
    »Ich denke schon. Groß, dunkelhäutig, angeblich Südamerikanerin. Brasilien, um genau zu sein.«
    »Blondinen sind auch nicht zu verachten …«
    »Schon möglich.«
    »… und preiswerter als Schokoküsse.«
    »Ich denk drüber nach. Aber wie war das mit Grazia? Wo könnte ich sie finden?«
    »Tut mir Leid, Süßer. Geschäftsaufgabe. Sie ist nicht mehr in der Stadt. Du kommst einen Tag zu spät.«
    »Wo ist sie denn hin?«
    »Wer weiß das schon.« Dann sagte Rita noch: »Ist nämlich schlecht fürs Geschäft.« Die Worte ›toter Freier‹ brauchte sie nicht hinzuzufügen.
    »Aber – wie schon gesagt, mein Großer – bei Blondinen kriegt Mann was für sein Geld.« Sie klapperte mit den angemalten Augenlidern.
    Ich begutachtete ihre Rundungen. »Ich fange schon mal an zu sparen. Ich spüre schon den Hengst in mir, echt wahr.«
    Schief grinsend nahm ich ein paar Treppenstufen auf einmal und ließ den Nuttendiesel hinter mir. Dass das brasilianische Vögelein für Feldmanns Tod verantwortlich war, hatte ich ohnehin zu keinem Zeitpunkt ernsthaft in Erwägung gezogen.

Bei einem zweiten Frühstück im Café Literata ließ ich mir von Hippie Roibuschtee und Rosinenkekse servieren. Als Futter für den Geist gab es das ›Deutsche Wörterbuch‹ von Jacob und Wilhelm Grimm. Das umtriebige Brüderpaar hatte nicht nur Kinder- und Hausmärchen gesammelt, sondern auch ein Wörterbuch der deutschen Sprache verfasst. In des ›Vierten Bandes Zweite Abtheilung‹ fand ich zwei interessante Einträge. [31]

HOFGERICHT, n. von einem königlichen oder fürstlichen hofe eingesetztes gericht, das im namen eines solchen hofes die gerichtsbarkeit ausübt; mhd. hovegerihte (LEXER wb. 1, 1360) : consistorium hofgericht, cammergericht.

HOFRICHTER, m. richter oder präsident eines hofgerichtes : acomentator hoverichter DIEF. nov. gloss. 7ª; hofrichter, praeses curiae provincialis STIELER 156.
»Ein korrupter Rechtsverdreher«, entfuhr es mir spontan.
    Hippie schaltete sich ein. »Es könnte sich auch um ein körperliches Gebrechen handeln.«
    »Wa?«
    Hippie blätterte ein paar Seiten zurück.
HOFERICHT, HOFERIG, adj. einen höcker habend : gibbosus hofericht, hoferich DIEF. 262ª.
»Ah nee. Der Weber jagt Quasimodo! Das klingt nach einem billigen Groschenroman.« Ein buckliger Arbeitgeber oder Arbeitnehmervertreter war mir im Augenblick nicht geläufig. Und die Insassen eines Heims für Leidtragende chronisch somatischer Dysfunktionen waren nicht gerade eine Zielgruppe des Killers.
    Ich stellte die leere Teetasse auf eine kritische Ausgabe von Ernst Blochs ›Das Prinzip Hoffnung‹. [32] Mit meinen neuen Erkenntnissen rief ich Frau Van Aken an. Hippie hatte immer noch ein antikes Gerät mit Wählscheibe.
    »Sagen Sie mal, werte Frau Van Aken. Ich gehe davon aus, dass das dritte Opfer aus Justizkreisen stammt. Sie kennen sich vermutlich besser aus als ich. Wer käme denn da in Frage? Ich vermute, ein bestechlicher Richter oder ein intriganter Staatsanwalt. Möglicherweise mit Beziehungen zu Automotronix. Oder sogar jemand aus der Rechtsabteilung der Firma selbst.«
    Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Oh Gott, nein. Es ist kein Richter.« Ich spürte sie am anderen Ende der Leitung erbleichen. »Es ist Barenbrock, der Ratsherr.«
    Auch mir kein ungeläufiger Name. Ratsherr Barenbrock hatte die ›Verschlankung der Bürokratie‹ im Rathaus vorangetrieben. Ganze Ämter waren in teilprivatisierte Gesellschaften ausgelagert worden. Privatisierung und Deregulierung hießen die neoliberalen Rezepte gegen die Gebrechen der modernen Gesellschaft. Flexibilisierung und Entbürokratisierung waren den Genesenden versprochen worden. Arbeitslosigkeit, Sozialabbau und Verarmung waren die Nebenwirkungen, die nicht auf der Packungsbeilage gestanden hatten.
    Ein kleiner Makel auf Barenbrocks weißer Weste war dabei nur, dass er seiner Ehefrau einen gut dotierten Posten als Geschäftsführerin im kommunalen Wirtschafts- und Innovationszentrum verschafft hatte. Das war vor der spektakulären Scheidung gewesen. Bevor Barenbrock seine bessere Hälfte gegen einen vierbeinigen Lebensabschnittspartner eingetauscht hatte.
    Barenbrock wäre sicherlich eine gute Wahl des Killers gewesen.
    »Ja gut, ich weiß schon. Aber warum ausgerechnet Barenbrock? Da kommen doch nicht wenige Absahner in Frage. Warum ausgerechnet Barenbrock?«
    Kurze Stille. Dann sagte sie: »Er wohnt im ehemaligen Amtsrichterhaus.«
    Ich drückte auf die Gabel und unterbrach die Verbindung. Dann wählte ich erneut und fluchte leise in mich hinein über die mir ungewohnte Wählscheibe. Bei Barenbrock ging niemand ans Telefon. Es war Wochenende, also brauchte ich es auch im Rathaus oder im Parteibüro gar nicht erst versuchen. Ich musste mich wohl oder übel selbst auf den Weg in die Vorstadt machen. Grimms Märchenstunde war beendet.

Zwischen den alten Gehöften und den modernen Plattenvillen wirkte das Amtsrichterhaus wie ein Fremdkörper. Es war vor hundert Jahren in traditioneller Holzbauweise erbaut worden. Traditionell heißt, bezogen auf die höheren Lagen der nahen Mittelgebirgsregion. Hier im Flachland war es ein Import. [Photo by Tom Keller]

XII

Zwischen den beiden Dörfern führte einst eine kleine Brücke über einen Bach. Sobald es Nacht wurde, streiften dann ›Tückeboten‹ herum. Schwarze Hunde mit glühenden Augen und räudigem Fell, die Seelen der auch im Tode Friedlosen. [33] Die Dörfer sind zusammengewachsen und City und Vorstadt liegen nur von einem Autobahnzubringer getrennt. Aufgrund des samstäglichen Einkaufsverkehrs benötigte ich länger als nötig. In diesen zehn Minuten nahm mir ein LKW die Vorfahrt, dessen Fahrer auf einen Fernseher starrte, überholte mich ein Motorrad auf der rechten Seite und lief mir ein pickliger Halbwüchsiger mit Knopf im Ohr beinahe ins Rad hinein. Eine ganz normale Fahrt also.
    Die Revolution von 1848 hatte eine Reform des Gerichtswesens bewirkt, insbesondere die Trennung von Verwaltung und Justiz. Am nordöstlichen Dorfrand wurde ein Gerichtsgebäude erbaut. Der Amtsrichter hatte den täglichen Streit der Menschen zu schlichten. Dabei konnte es geschehen, dass er die Verhandlung unterbrach, ans Fenster trat, an einer Leine zog, die eine Glocke im Kirschbaum läutete, und die Vögel vertrieb. Heute beherbergt das Amtsgericht eine Kleintierklinik. Das Wohnhaus des Amtsrichters war in Barenbrocks Hände übergegangen.
    Ich parkte Areion vor dem Nachbarhaus und spähte durch das dichte Gebüsch. Zwischen den alten Gehöften und den modernen Plattenvillen wirkte das Amtsrichterhaus wie ein Fremdkörper. Es war vor hundert Jahren in traditioneller Holzbauweise erbaut worden. Traditionell heißt, bezogen auf die höheren Lagen der nahen Mittelgebirgsregion. Hier im Flachland war es ein Import.
    Um die Mittagsstunde war die Straße wie ausgestorben. Hühnergackern und Hufeklappern gab es hier schon lange nicht mehr. Kein Trecker tuckerte über die Felder. Nur ein Schwarm Stare bevölkerte den grauen Himmel. Dann stob er krächzend auseinander, um sich in einem Obstgarten niederzulassen. Ein paar Gärten weiter war ein rüstiger Rentner damit beschäftigt, seine Hecke zurechtzustutzen. Einmal vermeinte ich ein Jaulen zu hören.
    Ansonsten rührte sich nichts. Etwas stank zum Himmel, aber es war kein Misthaufen. Eine Weile beobachtete ich unschlüssig das düstere Haus. Dann setzte ich mich in Bewegung. Ich huschte an dem schicken Benz und dem Willkommensschild vorbei die Zufahrt hinauf.

Dieses Haus ist das Heim eines Hundes!
Besucher kommen erst an zweiter Stelle!
Wenn Sie Hunde mögen, werden Sie das verstehen!
Falls nicht: Was machen Sie dann hier? [34]
Ich zögerte, bevor ich auf den Klingelknopf drückte. Was mache ich hier eigentlich? Was sollte ich Barenbrock erzählen? Hallo, da draußen läuft ein Mordskerl durch die Gegend, der einen Manager und einen Betriebsrat auf dem Gewissen hat – ah, sie kannten die beiden – und es jetzt auf einen Politiker abgesehen hat. Könnte jedenfalls sein. Glaube ich.
    Ich klingelte. Drinnen ertönte die Melodie von ›Greensleeves‹: »Alas, my love, you do me wrong«. Das Lied wird dem englischen König Heinrich VIII. zugeschrieben, der seine Ehefrauen auf dem Schafott zu entsorgen pflegte. [35]
    Nichts. Ich zählte rückwärts von zehn bis null, dann klingelte ich abermals. Stille. Totenstille. Mit einem flauen Gefühl im Magen ging ich um das Haus herum. Es roch nach feuchter Erde. Alter Baumbestand beschattete einen großen Garten.
    Dann ging das Tohuwabohu los.

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Fußnoten: Ich huschte an dem Willkommensschild vorbei die Zufahrt hinauf: »Dieses Haus ist das Heim eines Hundes! Besucher kommen erst an zweiter Stelle! Wenn Sie Hunde mögen, werden Sie das verstehen! Falls nicht: Was machen Sie dann hier?« [Photo by Tom Keller]
[28] Karl-Heinz Weichert, 100 Jahre Deutsches Arbeiterlied, 1967; Leipziger Folksessionband (s. Anmerkung [24]); Dieter Süverkrüp, 1848 - Lieder der deutschen Revolution, 1973.
[29] Killing Me Softly With His Song. Text: Norman Gimbel, Musik: Charles Fox, 1973.
[30] An dieser Stelle herzliche Grüße und besten Dank an Sven Regener für das Ausborgen von Kristall-Rainer aus ›Herr Lehmann‹ (Eichborn 2001).
[31] Deutsches Wörterbuch. Jacob und Wilhelm Grimm, 1854ff.
[32] Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Suhrkamp 1959. Was will ich damit sagen? Keine Ahnung! Das Ding stand halt in Hippies Regal herum und nicht das Neue Testament oder das Telefonbuch.
[33] Die ganze Wahrheit ist: »Zwischen Lebenstedt und Salder führte eine kleine Brücke über die Fuhse: Sobald es Abend wurde, gingen hier die meisten Leute nur ungern entlang. Hier spukten dann nämlich brennende Geister, Tückeboten, herum. Auch trieb hier ein schwarzer Hund, der Sleptewe, sein Unwesen. Manch einem ist er auf die Kiepe gehuckt, so daß dieser unter der schweren Last zusammengebrochen wäre und nur mit Mühe das Dorf erreichte.«
[34] Dieses Haus ist das Heim eines Hundes! Ich muss jeden Morgen an diesem Schild vorbei (s. Bild rechts). Und Sie fragen mich, warum ich keine Hunde mag!?
[35] Greensleeves. Text und Musik: England, 15. Jhd.



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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 12/2006

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