FolkWorld #72 07/2020
© Walkin' T🍅M

English Book Reviews

T😷M's Nachtwache

Ein Gutes hat die Corona-Krise ja doch; man hat wieder Zeit und Muße, ein Buch in die Hand zu nehmen. Aber bitte nicht nur das Dekameron mit dem Hintergrund in der Pestzeit ...

Der dänische Gitarrist Finn Olafsson spielte zunächst mit der symphonischen Rockband Ache, ab 1980 veröffentlichte er Akustik-Alben. „Selten war der Begriff Klangmaler zutreffender“, schrieb die Akustik Gitarre über Olafssons CD „Music From North Sealand“ (2011). „Olafssons Markenzeichen ist ein unglaublich schöner, kultivierter Ton auf ausgesucht edlen Nobelgitarren.“ Seine Musik ist von seiner Heimat Nordseeland inspiriert, von Natur, Kultur und Geschichte. Auf vielfachen Wunsch hat er ein Notenbuch vorgelegt und Acoustic Music freut sich, dieses in Deutschland anbieten zu können. Das Buch enthält alle 13 Eigenkompositionen für akustische Steelstring-Fingerstyle-Gitarre in den Stimmungen EADF#BE, DADGAD, DADGAE und CGCGBD in Noten und Tabulatur und mit Angaben zum Fingersatz. Es sind ausschließlich die Noten für die Gitarre notiert, dementsprechend enthält die beigelegte CD auch nur die Gitarrenstimme. Auf der damaligen Original-CD wurde Finn Olafsson noch von anderen Instrumenten wie Keyboard, E-Gitarre, Bass und Perkussion unterstützt .

Finn Olafsson, Music From North Sealand: 13 Acoustic Guitar Pieces. Acoustic Music, 2020, 98 S


Finn Olafsson

Artist Video Finn Olafsson @ FROG

www.finnolafsson.com

In einer Zeit, in der Fernreisen unmöglich geworden sind oder zumindest im Interesse des Allgemeinwohls nicht angetreten werden sollten, fahren wir mit dem Finger über die Buchseiten. Ein Sehnsuchtsort, der mir in den Sinn kommt, ist die angeblich von keltischen Mönchen im 6. Jahrhundert entdeckte Insel Hy Brasil, die auf allen Karten bis in die Frühe Neuzeit eingezeichnet ist. Dort seien doch tatsächlich alle Früchte aus Edelsteinen.


Hans-Jakob Zimmer, Wie klingt es im »Paradies«? Deutsch- sprachige Reiseberichte als Quellen zur Musikgeschichte Brasiliens im 19. Jahrhundert. [transcript], 2019, ISBN 978-3- 8376-4764-8, 422 S, €39,99

Der Name Hy Brasil leitet sich vom irischen Clan Uí Breasail her, mit dem lateinamerikanischen Brasilien hat die Insel rein gar nichts zu tun. Das von der Natur so außerordentlich reich begabte Brasilien (Georg Wilhelm Freyreiss, 1824) wurde wegen des in den Küstenregionen vorkommenden Brasilholzes, einer vor der synthetischen Herstellung von Farbstoffen einst wirtschaftlich bedeutenden Färberpflanze, Terra do Brasil genannt.

Brasilien in der Vorstellung vieler das Paradies auf Erden, oder der verlorene Garten Eden erklärt den Buchtitel Wie klingt es im »Paradies«?

Historische Reiseberichte übten auf mich stets eine große Faszination aus und entwickelten auch aus fachlicher Sicht immer dann eine besondere Relevanz, wenn darin erlebte Musik- und Tanzpraxis zur Sprache kam.

Musikhistoriker Hans-Jakob Zimmer realisierte als Dissertationsprojekt, diese Quellengattung, genauer: deutschsprachige Reiseberichte aus dem Brasilien des 19. Jahrhunderts, systematisch und kritisch aufzuarbeiten.

Bereits 1554 war Hans Staden aus dem hessischen Homburg in Gefangenschaft der indigenen Tupinambá in der Region des heutigen Rio de Janeiro. Tanz und Gesang kommen mehrmals zur Sprache in seiner Warhaftigen Historia und beschreibung eyner Landschafft der Wilden/ Nacketen/ Grimmigen Menschenfresser Leuthen.

1808 emigrierte nach der napoleonischen Invasion der portugiesische Hof nach Rio de Janeiro. 1817 vermählte sich der portugiesische Thronfolger Dom Pedro mit der österreichischen Erzherzogin Leopoldine. Dies bedingte die Öffnung der ehemals abgeschlossenen Kolonie und die Anwesenheit zahlreicher Europäer.

Für Reisebeschreibungen sorgten in Folge Abenteurer, Söldner, Händler, Forscher, Auswanderer und gegen Ende des Jahrhunderts die ersten Touristen. Der dokumentarische Wert ist unbenommen trotz vielem Hörensagen, Übertreibungen, dem Hervorheben des Exotischen, der begrenzten musikalische Ausbildung, fehlenden Aufzeichnungsmöglichkeiten und nicht zuletzt zwischen Rassismus einerseits und romantischer Verklärung andererseits liegenden Vorurteilen.

Den Ankömmlingen fallen zuallererst die Gesänge der Lastenträger auf:

Gruppen armer Neger begegneten uns, die immer im Trabe waren, und zur Erleichterung ihrer Lasten, die sie auf den Köpfen trugen, ihre Nationallieder sangen; einer sang zuerst einen Vers, und dann all die Uebrigen vereint den Chor. (Charles Brand, 1829)

Man begegnet in Rio-Janeiro's Straßen fast ausschließlich Negern. Dort laufen ihrer 30-40 in kurzem Trab. Jeder mit seinem Kaffeesack auf dem Kopf: an ihrer Spitze ein Vorsänger, der die "Marimba" in der Hand hält, womit er ihren klagenden Gesang begleitet. (Steen Bille, 1852)

Moritz Rugendas, Danse Landu

Moritz Rugendas, Danse des Purys

Was hier Marimba genannt wird, ist nicht das Schlag-Instrument aus der Familie der Xylophone, das Nationalinstrument Guatemalas ist, sondern das auch Daumenklavier genannte Zupfinstrument.

Die Marimba ist ein musicalisches Instrument, welches aus einer Reihe von Stahlfedern besteht, die auf einem kleinen Brette befestigt sind; als Resonanzboden dient die eine Hälfte einer Cocusschale, gespielt wird es mit beiden Daumen, während die übrigen Finger es halten. Die marimba hat einen sanften, melancholischen Ton und ist ohne Frage das beste musicalische Instrument von afrikanischer Erfindung. (Carl Schlichthorst, 1829)

Sind die brasilianischen Küstenstädte noch ein wenig europäisch geprägt, geht es auf den fazendas der Pflanzer schon wesentlich exotischer zu.

Häufig schloß den Tag ein Cururu, ein Negertanz, bei welchem jeder Einzelne Reim und Gesang improvisieren muß, in welchem er seinen Partner zur Entgegnung reizt. Als Instrument dient ein Cocho, eine Viola, deren Saiten eine unglaubliche Stimmung besaßen. Ranke stimmte sie einmal harmonisch um, doch strebte der Spieler, sofort wieder die alten Mißtöne herzustellen. Ein gekerbtes Bambusholz, auf welchem der Spieler mit einem Holz kratzt, wird zuweilen auch durch einen Blechteller und Messer ersetzt. (Herrmann Meyer, 1897)

Dazwischen tönt die Guitarre, nicht jenes schwerfällige Wesen, welches man in Europa so nennt, sondern die ächte maurische Guitarre, ein Instrument mit zwölf Metallsaiten, welches der zartesten Behandlung fähig ist. (Schlichthorst, 1829)

Die indigenen Völker im entlegenen Landesinneren hingegen kommen nur selten in den zweifelhaften Genuss, europäische Gäste bewirten und die Tänze wüster, von Siegeslust und Sinnenrausch erhitzter Menschenfresser aufführen zu müssen.

Ein Neger, welcher lange Zeit unter den Puris gelebt hatte, legte uns die bei diesem Tanze gesungenen Worte als eine Klage aus, wie sie nämlich eine Blume vom Baume hätten pflücken wollen, aber herabgefallen seyen. Keine Deutung hätte uns bei diesem melancholischen Auftritte näher liegen können, als die von dem verlornen Paradiese. (Spix/Martius, 1823)

So schließt sich doch der Kreis zum Thema Paradies. Die dreibändige "Reise in Braslien" der bayrischen Forscher Johann Baptist von Spix und Carl Philipp von Martius enthält sogar eine Beilage mit Transkriptionen brasilianischer Volkslieder und indianischer Melodien. Viele andere scheitern in jenen Tagen an der Katzenmusik ohne vermeintliche Takt und Tonart.

Hans-Jakob Zimmer hat richtige Fleißarbeit geleistet und insgesamt 390 Textseiten aus 152 Werken von 128 verschiedenen Autoren ausgewertet. Das Ergebnis ist eine sowohl für den Musikwissenschaftler als auch für den interessierten Laien spannende Exkursion.

Die Lektüre hat es mir auch angetan, weil nebenbei auf die Präsenz von Salzgitteraner Wandermusikanten an der Ostküste hingewiesen wird.[29] Mein Geburstort taucht darüber hinaus im Text des "Stahlwerkersong" (1981) auf: Wir kommen aus Hattingen, Salzgitter und Kiel, ... Bernd Köhler, genannt "Schlauch", begann seine musikalische Karriere im heimatlichen Ludwigshafen mit Skiffle-Musik,[66] bevor er die Landser-Hefte beiseite legte, und zu Drecksau, Arschloch, Longhoraffe un Versager wurde, wie es im "Lied vom schwarzen Samstag" (1980) hieß, der ins Arbeitslager oder nach drüben oder dem gleich die Rübe runter gehörte.

Die Widerstandsbewegungen der 70er- und 80er-Jahre oder streikende Belegschaften begleitete er singend:

Erste Lieder entstanden eher beiläufig und als Podium dienten Konzertpausen bei Auftritten der "Old William Skiffle Champs". Rückblickend betrachtet war es so, dass ich, angeregt durch die Rundfunkprogramme, begann, meine Alltagswirklichkeit oder die Fragen, die mich im Zusammenhang mit dem großen und kleinen Weltgeschehen umtrieben, in Songs zu verpacken. Diese Aktualität erklärt wahrscheinlich auch den schnellen Erfolg, der eng mit meinem Spitznamen aus Schulzeiten (Ursprung unklar) verbunden war. So wurde "Schlauch singt" zu einer Marke für das engagierte Lied, zumindest in der Region.

Bernd Köhler


Bernd Köhler, Nachrichten vom Untergrund: Lieder und Texte 1967-1989. Llux Agentur & Verlag, 2019, ISBN 978-3-938031-81-0, 191 S, €15,00

Artist Video Bernd Köhler @ FROG

www.ewo2.de

Bernd Köhler hatte das Glück oder Unglück oder einfach nur das Schicksal, in eine grundlegende Um- und Aufbruchszeit hineinzuwachsen, das versiffte 68; prägend für die Schönen Lieder, die er in Folge schreiben sollte.

Schöne Lieder sing ich heute
denn ihr seid doch alles brave Leute
nicht politisch oder so
nirgends juckt euch doch der Floh
und ihr wisst doch alle, wie schön es ist
wenn man bei schönen Liedern seine Sorgen vergisst

Doch es gab mal ne Zeit, da hatte man zu denken vergessen
s'ist dreißig Jahre her, da hat man's dann auch ausgefressen
und ich mach mir da keine Illusion
und sage mir, das kam davon
vom Schöne-Lieder-Singen und vom Träumen
nur so kann man die zeit versäumen

Und heut ist es wieder mal soweit
es lebe die SS/SA-Einigkeit
überall marschiert sie schon
die schwarzbraune Reaktion
und deshalb, ihr Leute
ist keine Zeit für schöne Lieder heute

Köhlers langjähriger Begleiter Hans Reffert meint:

Was bei Bernd überzeugte, waren die realistischen Texte (auf dem Punkt) und sein wilder, energetischer Gitarrenstil (keine unnötigen Verzierungen und Mätzchen).

Nachrichten vom Untergrund bietet eine repräsentative Auswahl an Liedern und Texten, teilweise mit Noten, aus den Jahren 1967 bis 1989. Sie erzählen von Aufbruch, den Idealen, Hoffnungen und Niederlagen... Viele haben nichts an Bedeutung verloren. Um einfach mal ein paar Schlagworte zu nennen: NPD-Parteitag, Chile-Putsch, portugiesische Nelkenrevolution, Falkland-Krieg, Pershing 2 Brokdorf, Barschel, Tschernobyl. Die Liste könnte noch eine Weile fortgesetzt werden.

Mitte der 1980er sollte Bernd Köhler erste Multimedia-Programme entwickeln, woraus sich das bis heute bestehende kleine elektronische weltorchester ewo2 entwickelte. Dies wird im bereits angekündigten Büchlein Kommt: Haltlos dokumentiert sein, das sich dem Zeitraum 1990 bis 2019 widmet.



Photo Credits: (1ff) Book Covers, (3) Finn Olafsson, (4)-(5) Johann Moritz Rugendas, (6) Bernd Köhler (from website/author/publishers).


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