Ein Gutes hat die Corona-Krise ja doch; man hat wieder Zeit und Muße, ein Buch in die Hand zu nehmen. Aber bitte nicht nur das Dekameron mit dem Hintergrund in der Pestzeit ...
In einer Zeit, in der Fernreisen unmöglich geworden sind oder zumindest im Interesse des Allgemeinwohls nicht angetreten werden sollten, fahren wir mit dem Finger über die Buchseiten. Ein Sehnsuchtsort, der mir in den Sinn kommt, ist die angeblich von keltischen Mönchen im 6. Jahrhundert entdeckte Insel Hy Brasil, die auf allen Karten bis in die Frühe Neuzeit eingezeichnet ist. Dort seien doch tatsächlich alle Früchte aus Edelsteinen.
Der Name Hy Brasil leitet sich vom irischen Clan Uí Breasail her, mit dem lateinamerikanischen Brasilien hat die Insel rein gar nichts zu tun. Das von der Natur so außerordentlich reich begabte Brasilien (Georg Wilhelm Freyreiss, 1824) wurde wegen des in den Küstenregionen vorkommenden Brasilholzes, einer vor der synthetischen Herstellung von Farbstoffen einst wirtschaftlich bedeutenden Färberpflanze, Terra do Brasil genannt.
Brasilien in der Vorstellung vieler das Paradies auf Erden, oder der verlorene Garten Eden erklärt den Buchtitel Wie klingt es im »Paradies«?
Musikhistoriker Hans-Jakob Zimmer realisierte als Dissertationsprojekt, diese Quellengattung, genauer: deutschsprachige Reiseberichte aus dem Brasilien des 19. Jahrhunderts, systematisch und kritisch aufzuarbeiten.
Bereits 1554 war Hans Staden aus dem hessischen Homburg in Gefangenschaft der indigenen Tupinambá in der Region des heutigen Rio de Janeiro. Tanz und Gesang kommen mehrmals zur Sprache in seiner Warhaftigen Historia und beschreibung eyner Landschafft der Wilden/ Nacketen/ Grimmigen Menschenfresser Leuthen.
1808 emigrierte nach der napoleonischen Invasion der portugiesische Hof nach Rio de Janeiro. 1817 vermählte sich der portugiesische Thronfolger Dom Pedro mit der österreichischen Erzherzogin Leopoldine. Dies bedingte die Öffnung der ehemals abgeschlossenen Kolonie und die Anwesenheit zahlreicher Europäer.
Für Reisebeschreibungen sorgten in Folge Abenteurer, Söldner, Händler, Forscher, Auswanderer und gegen Ende des Jahrhunderts die ersten Touristen. Der dokumentarische Wert ist unbenommen trotz vielem Hörensagen, Übertreibungen, dem Hervorheben des Exotischen, der begrenzten musikalische Ausbildung, fehlenden Aufzeichnungsmöglichkeiten und nicht zuletzt zwischen Rassismus einerseits und romantischer Verklärung andererseits liegenden Vorurteilen.
Den Ankömmlingen fallen zuallererst die Gesänge der Lastenträger auf:
Was hier Marimba genannt wird, ist nicht das Schlag-Instrument aus der Familie der Xylophone, das Nationalinstrument Guatemalas ist, sondern das auch Daumenklavier genannte Zupfinstrument.
Sind die brasilianischen Küstenstädte noch ein wenig europäisch geprägt, geht es auf den fazendas der Pflanzer schon wesentlich exotischer zu.
Die indigenen Völker im entlegenen Landesinneren hingegen kommen nur selten in den zweifelhaften Genuss, europäische Gäste bewirten und die Tänze wüster, von Siegeslust und Sinnenrausch erhitzter Menschenfresser aufführen zu müssen.
So schließt sich doch der Kreis zum Thema Paradies. Die dreibändige "Reise in Braslien" der bayrischen Forscher Johann Baptist von Spix und Carl Philipp von Martius enthält sogar eine Beilage mit Transkriptionen brasilianischer Volkslieder und indianischer Melodien. Viele andere scheitern in jenen Tagen an der Katzenmusik ohne vermeintliche Takt und Tonart.
Hans-Jakob Zimmer hat richtige Fleißarbeit geleistet und insgesamt 390 Textseiten aus 152 Werken von 128 verschiedenen Autoren ausgewertet. Das Ergebnis ist eine sowohl für den Musikwissenschaftler als auch für den interessierten Laien spannende Exkursion.
Die Lektüre hat es mir auch angetan, weil nebenbei auf die Präsenz von Salzgitteraner Wandermusikanten an der Ostküste hingewiesen wird.[29] Mein Geburstort taucht darüber hinaus im Text des "Stahlwerkersong" (1981) auf: Wir kommen aus Hattingen, Salzgitter und Kiel, ... Bernd Köhler, genannt "Schlauch", begann seine musikalische Karriere im heimatlichen Ludwigshafen mit Skiffle-Musik,[66] bevor er die Landser-Hefte beiseite legte, und zu Drecksau, Arschloch, Longhoraffe un Versager wurde, wie es im "Lied vom schwarzen Samstag" (1980) hieß, der ins Arbeitslager oder nach drüben oder dem gleich die Rübe runter gehörte.
Die Widerstandsbewegungen der 70er- und 80er-Jahre oder streikende Belegschaften begleitete er singend:
Bernd Köhler hatte das Glück oder Unglück oder einfach nur das Schicksal, in eine grundlegende Um- und Aufbruchszeit hineinzuwachsen, das versiffte 68; prägend für die Schönen Lieder, die er in Folge schreiben sollte.
Schöne Lieder sing ich heute denn ihr seid doch alles brave Leute nicht politisch oder so nirgends juckt euch doch der Floh und ihr wisst doch alle, wie schön es ist wenn man bei schönen Liedern seine Sorgen vergisst Doch es gab mal ne Zeit, da hatte man zu denken vergessen s'ist dreißig Jahre her, da hat man's dann auch ausgefressen und ich mach mir da keine Illusion und sage mir, das kam davon vom Schöne-Lieder-Singen und vom Träumen nur so kann man die zeit versäumen Und heut ist es wieder mal soweit es lebe die SS/SA-Einigkeit überall marschiert sie schon die schwarzbraune Reaktion und deshalb, ihr Leute ist keine Zeit für schöne Lieder heute
Köhlers langjähriger Begleiter Hans Reffert meint:
Nachrichten vom Untergrund bietet eine repräsentative Auswahl an Liedern und Texten, teilweise mit Noten, aus den Jahren 1967 bis 1989. Sie erzählen von Aufbruch, den Idealen, Hoffnungen und Niederlagen... Viele haben nichts an Bedeutung verloren. Um einfach mal ein paar Schlagworte zu nennen: NPD-Parteitag, Chile-Putsch, portugiesische Nelkenrevolution, Falkland-Krieg, Pershing 2 Brokdorf, Barschel, Tschernobyl. Die Liste könnte noch eine Weile fortgesetzt werden.
Mitte der 1980er sollte Bernd Köhler erste Multimedia-Programme entwickeln, woraus sich das bis heute bestehende kleine elektronische weltorchester ewo2 entwickelte. Dies wird im bereits angekündigten Büchlein Kommt: Haltlos dokumentiert sein, das sich dem Zeitraum 1990 bis 2019 widmet.
Photo Credits:
(1ff) Book Covers, (3) Finn Olafsson,
(4)-(5) Johann Moritz Rugendas,
(6) Bernd Köhler
(from website/author/publishers).