FolkWorld #81 11/2023
© Thomas Winkler / amnesty international

Anatolische Stadtmusikant*innen

Mit "Hey Dostum, Çak!" holt die Hamburger Musikerin Derya Yıldırım das musikalische Erbe der ersten Gastarbeiter*innen­generation in die deutsch-türkische Gegenwart.

Derya Yıldırım & Graham Mushnik

Artist Video

Im Jahr 1981 reiste Barış Manço mit seiner Band nach Bremen. Der türkische Rock-Pionier hatte ein neues Lied mit dem Titel "Arkadaşım Eşek" im Gepäck, übersetzt: "Mein Freund der Esel". Was lag da näher, als in der Heimat der Bremer Stadtmusikanten einen Videoclip zu drehen? Auf YouTube kann man den langhaarigen Manço, seinen beeindruckenden Schnäuzer und seine coolen Mitmusiker*innen sehen, wie sie vor dem Stadtmusikanten-Denkmal zum Playback die Lippen bewegen und mit gespielter Begeisterung durch die pittoresken Gassen der Hansestadt laufen – mit denselben großen Augen, die zur selben Zeit vermutlich deutsche Tourist*innen in ­Istanbul machten.

Solche interkulturellen Wechselwirkungen und historischen Querbezüge tauchen immer wieder auf, wenn man "Hey Dostum, Çak! – Music for children and other people" hört. Die Hamburger Musikerin Derya Yıldırım und der französische Produzent Graham Mushnik haben türkische Kinderlieder und Folksongs, aber auch Klassiker aus Pop und Rock neu eingespielt – für Kinder und ­Erwachsene.

Derya Yıldırım & Graham Mushnik

Artist Audio Derya Yıldırım & Graham Mushnik "Hey Dostum, Çak!", Buback, 2023

Echte Kinderlieder sind auf "Hey Dostum, Çak!" zu hören, wie der Klassiker "Mini Mini Bir Kuş". Ein Chor von Kindern aus Yıldırıms Verwandtschaft singt den ansteckenden Kehrreim. Auch "Atem Tutem Men Seni" kennt in der Türkei jedes Kind. Es ist ein altes Wiegenlied, in dem die Mutter verspricht, das Kind zu streicheln, bis der Vater abends nach Hause kommt. Wenn Yıldırım es singt, wird es zu einer wundervoll melancholischen Ballade in der Tradition des anatolischen Klagelieds.

Yıldırım, die sonst mit ihren Bands Grup Şimşek, in der auch Mushnik aktiv ist, und dem Kammermusikorchester ­Ensemble Resonanz deutsch-türkische Wirklichkeit in zeitgemäße Musik übersetzt, will mit diesem Projekt jene Lieder bewahren, die sie selbst in ihrer Kindheit begleitet haben. Lieder, die ihre Mutter ihr vorsang, die ihr Vater auf der Bağlama spielte und die sie später selbst auf der Langhalslaute übte. Lieder, mit denen mehrere türkische Immigrantengenerationen aufgewachsen sind. Dieses Erbe droht nun in Vergessenheit zu geraten, weil die dritte und vierte Generation oft kein Türkisch mehr spricht.

So ist "Hey Dostum, Çak!" auch ein Beitrag zum aktuellen Diskurs, wie das Einwanderungsland Deutschland mit den kulturellen Traditionen seiner Immigrant*innen umgeht und was sie unter Integration verstehen. In "Arkadaşım Eşek" fragt jemand, der die Heimat schon so lange verlassen hat, dass er "die Jahre nicht mehr zählen kann", wie es wohl heute in seinem Dorf aussieht: Gibt es den Hahn noch, der mit den Katzen stritt? Nicht erst, als Barış Manço und seine Band sich vor den Bremer Stadtmusikanten filmen ließen, war sein Lied auch eines, mit dem sich die türkischen Arbeiter*innen und ihre Familien in der deutschen Diaspora identifizieren konnten. Wenn Derya Yıldırım nun, mehr als vier Jahrzehnte später, wieder von Trennung und Einsamkeit singt, dann ist das auch ein Kommentar zur aktuellen Lage – und "Hey Dostum, Çak!" ein Angebot an die deutsche Mehrheitsgesellschaft.




amnesty international


Thomas Winkler ist freier Journalist. Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung dem (Amnesty Journal 2023) entnommen.


Photo Credits: (1)-(2) Derya Yıldırım & Graham Mushnik, (1) , (3) amnesty international (unknown/website).


FolkWorld Homepage English Content German Content Editorial & Commentary News & Gossip Letters to the Editors CD & DVD Reviews Book Reviews Folk for Kidz Folk & Roots Online Guide - Archives & External Links Search FolkWorld Info & Contact


FolkWorld - Home of European Music
FolkWorld Homepage
Layout & Idea of FolkWorld © The Mollis - Editors of FolkWorld