Auf der Suche nach seinen irakischen Wurzeln lernte der US-Musiker Mark Gergis die lebendige Kassettenkultur Syriens kennen und sammelte im Lauf der Jahre Hunderte von Tapes. Zusammen mit dem Syrer Yamen Mekdad digitalisiert er das musikalische Erbe des Landes, um es vor dem Verschwinden zu bewahren. Interview: Tobias Oellig.
Sie haben gemeinsam die "Syrian Cassette Archives" gegründet, ein digitales Archiv syrischer Musik, die seit den 1970er Jahren auf Kassette veröffentlicht wurde. Welche Rolle spielt Musik in Ihrem Leben?
Yamen Mekdad: Musik hat mich von klein auf in ihren Bann gezogen, mir Trost gespendet und meine Fantasie beflügelt. Ich bin in Damaskus aufgewachsen. Als in Syrien der Bürgerkrieg ausbrach, zog ich nach London. Und dort drängte sich mir immer mehr die Frage auf: "Was macht mich als Syrer eigentlich aus?" Musik hilft mir, darauf Antworten zu finden.
Mark Gergis: Ich habe mich schon immer mit Musik beschäftigt, in Bands gespielt, später im Audiobereich gearbeitet. Ich bin in den USA aufgewachsen, aber aufgrund meiner Wurzeln war ich von klein auf von irakischer Musik umgeben. Als der erste Golfkrieg ausbrach, hat mich das politisiert: Ich versuchte, meinen Platz zu finden als halber Iraker und halber US-Amerikaner. Ich hatte schon lange Musik aus der irakischen Diaspora gesammelt, zum Beispiel aus den Communities in Kalifornien und Detroit/Michigan. Aber die Repräsentation arabischer Musik in den USA und auch in Europa war damals enttäuschend. Deshalb entschied ich mich irgendwann, in die Region zu reisen.
Haben Sie dort gefunden, was Sie gesucht haben?
Gergis: Aus verschiedenen Gründen konnte ich nicht in den Irak reisen. Stattdessen fuhr ich 1997 das erste Mal nach Syrien. Ich war überwältigt von der lebendigen Musikkultur dort, von den Kassettenkiosken auf den Straßen. Ich kaufte viel Musik, freundete mich mit Ladenbesitzern an, besuchte Radiosender und nahm unzählige Kassetten mit nach Hause. Immer, wenn ich es mir leisten konnte, fuhr ich wieder nach Syrien, kaufte noch mehr Kassetten und tauchte so immer weiter in die dortige Musikszene und Kultur ein.
Wie muss man sich diese Kassettenkioske vorstellen?
Mekdad: Es sind offene Verkaufsstände, auf denen Kassetten unterschiedlicher Genres und Musikstile ausgebreitet wurden. Alles war sehr bunt, die Verkäufer waren sehr gastfreundlich.
Gergis: Das waren im Grunde Karren mit Soundsystemen. Manchmal standen zwei Kioske direkt nebeneinander und konkurrierten mit den größten Hits der Zeit in irrer Lautstärke. Es dröhnte so, dass einem fast schwindlig wurde. Mich haben diese mobilen Kioske schwer beeindruckt, als ich sie in den 1990er Jahren in Aleppo und Damaskus zum ersten Mal sah.
Damals spielten Kassetten eine zentrale Rolle für die syrische Musikszene. Wie hat dieses Medium die Kunst beeinflusst?
Mekdad: Musik wurde in Syrien zunächst nur in Aleppo und Damaskus aufgenommen. Erst als es im ganzen Land Kassetten gab und immer mehr Leute Kassettenrekorder hatten, konnte man Musik viel billiger und dezentral aufnehmen. Musiker*innen aus dem Nordosten und Süden, die bislang nur auf Hochzeiten und Feiern gespielt hatten, konnten plötzlich ihre Musik verbreiten – ohne an geografische Grenzen gebunden zu sein.
Gergis: Das hat wirklich alles verändert. Unterschiedliche ethnische Gruppen und Stile aus verschiedenen Regionen erreichten nun ein nationales Publikum. Und nicht nur das: Tapes mit syrischer Volksmusik gelangten bis in den Libanon, nach Jordanien, bis an den Golf und nach Ägypten. Dennoch war anfangs alles sehr handgemacht: Agent*innen machten Talente ausfindig, Verträge wurden per Handschlag gemacht, die Musiker*innen nahmen zu Hause Tapes auf, die dann vervielfältigt wurden. Kleine Serien von gerade mal 100 oder 150. Manche Kassetten wurden nur lokal vertrieben. Aber die Vielfalt war enorm: Man produzierte Tapes mit kurdischer, armenischer, assyrischer oder arabischer Musik, Volksmusik. Die Kassetten-Ära in Syrien dauerte sehr lange, von den 1970er Jahren bis schätzungsweise 2010.
Was wurde aus den Kassettenkiosken?
Mekdad: Viele verlagerten sich mit der Zeit auf den Verkauf von CDs oder DVDs oder wurden zu Handyshops. Dann kam der Krieg, die Migration. Die Prioritäten änderten sich. Und vor allem: die Medien änderten sich. Jetzt sind alle auf YouTube. So verschwanden die Kioske nach und nach.
Wann entschieden Sie, aus Ihrer privaten Sammlung ein Archiv für syrische Musik zu machen?
Gergis: Als ich 2010 nach Syrien reiste, wusste ich noch nicht, dass es meine letzte Reise sein würde. Der Krieg brach aus, und es war der Horror, ihn in den Nachrichten zu verfolgen und die Geschichten von meinen Freund*innen dort zu hören. Ich dachte dann ziemlich bald auch an den kulturellen Verlust, der mit dem Krieg einhergeht: Menschen müssen fliehen, eine traumatisierte Generation verteilt sich auf der ganzen Welt. Und der Klang der Welt, wie man sie kannte, geht verloren. Plötzlich begann ich anders über meine vielen hundert Kassetten zu denken. Ich wusste, dass sie öffentlich zugänglich gemacht werden müssen. Aber nicht mit der Attitüde einer Compilation. Sondern so, dass auch die vielen Geschichten, die hinter den Kassetten und Musiker*innen stecken, erzählt werden können.
Was ist Ihre Vision für die "Syrian Cassette Archives"?
Mekdad: Wir möchten, dass das Projekt über die reine Archivierung hinauswächst. Wir wollen diese Ära unter verschiedenen Aspekten beleuchten: ästhetisch-künstlerisch, wissenschaftlich, politisch, wirtschaftlich. Die Musik dient dabei als Zugang. Unser Ziel ist es, uns mit möglichst vielen Musiker*innen und Künstler*innen auszutauschen. Idealerweise soll das Archiv auch zur Inspirationsquelle für zeitgenössische syrische Musiker*innen werden.
Gergis: Wir konnten schon Hunderte Tapes digitalisieren und haben etliche mehr gespendet bekommen – von Menschen aus aller Welt. Langfristig wollen wir unsere Abhängigkeit von diesem physischen Medium verringern. Wir sind dabei, uns mit Forscher*innen und Sammler*innen in Syrien zu vernetzen. Das Projekt soll wachsen und sich weiterentwickeln.
SYRIAN CASSETTE ARCHIVES
ist eine spendenbasierte Initiative zur Bewahrung und Erforschung von Klängen und Geschichten aus Syriens Kassettenära (1970er – 2000er Jahre). Die wachsende Sammlung umfasst Musikstile vieler Communities in und um Syrien, wie zum Beispiel syrischer Araber*innen, Assyrer*innen, Kurd*innen und Armenier*innen, sowie irakische Kassetten und Musik von Iraker*innen, die durch Krieg und Sanktionen vertrieben wurden. Es handelt sich um Aufnahmen von Live-Konzerten und Studioalben. Das Spektrum reicht von Klassik bis Kindermusik, der Schwerpunkt liegt aber auf der regionalen Dabke- und Shaabi-Folk-Pop-Musik, die bei Hochzeiten und Festen gespielt wird.
Hier reinhören in ein Mixtape der Syrian Cassette Archives:
syriancassettearchives.org/features/selections-from-syrian-cassette-archives.
Mark Gergis ist ein in London ansässiger Musikproduzent, Musiker und Audio- & Videoarchivar.
Yamen Mekdad ist Musikforscher, Sammler, DJ und Radiomoderator mit Sitz in London.
Tobias Oellig ist freier Reporter. Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung dem
(Amnesty Journal 2023) entnommen.
Photo Credits:
(1),(6) Syrian Cassette Archives,
(2),(5) Hanin: Field Recordings In Syria 2008/2009,
(3) Hassan Taha,
(4) Naïssam Jalal,
(7) amnesty international
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