FolkWorld #80 03/2023
© Thomas Winkler / amnesty international

"Wir stecken in der Falle"

Auf seinem Debutalbum "Wolivo" verschmilzt der Sänger, ­Gitarrist und Songschreiber Ali Saffudin die Folklore seiner Heimat Kaschmir mit Rock – und Kritik an der politischen Situation. Ein Gespräch über Bollywood-Propaganda und Grunge. Interview: Thomas Winkler.

Ali Saffudin

Artist Video
www.alisaffudin.com

Wie ist die derzeitige Situation in Kaschmir?

Statisch. Nichts geht voran. Man fühlt sich wie ein Teller mit Essen, der auf dem Tisch vergessen wurde und langsam verrottet.

In Ihrem Album "Wolivo" thematisieren Sie die politische Situation in Kaschmir. Sehen Sie sich als Musiker oder als Aktivist?

Ich habe mich nie gescheut, politische Themen anzusprechen. Das haben auch die Musiker und Künstler getan, die meine Vorbilder sind. Ich bin nicht einverstanden mit der Situation in Kaschmir. Es herrscht Ungerechtigkeit. Ein versprochenes Plebiszit hat nie stattgefunden, es gibt Aufstände, Gewalt. Ein hinduistisch geprägtes Indien unterdrückt eine muslimische Mehrheit in Kaschmir. Die lokalen Politiker und Parteien sind nur an ihrem eigenen Vorteil interessiert und verraten ihr Volk. Das alles macht wütend. Aber ich kann Songs schreiben, ich kann singen – die Musik ist eine Katharsis für mich.

In dem Dokumentarfilm "In The Shade of Fallen Chinar" über Künstler*innen im Umfeld der Universität von Srinagar sagen Sie: "In den 1990er Jahren hätte ich eine Waffe in die Hand genommen, ich habe mir die Gitarre genommen."

Dieses Statement ist heftig, das gebe ich zu. Nachdem der Film erfolgreich war, wurde ich gefragt: Warum nicht jetzt die Waffe nehmen? Meine Antwort ist simpel: Angesichts der Militärpräsenz des indischen Zentralstaats in Kaschmir wäre das naiv.

Kann Gewalt jemals die Lösung sein?

Seit den 1990er Jahren hat der Kaschmir-Konflikt Zehntausende Menschen das Leben gekostet, unzählige wurden vertrieben und haben ihre Heimat verloren. Es gibt eine reale Wut darüber, die nicht verschwindet. In der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA gab es den Weg von Martin Luther King und den Weg von Malcolm X. Beider Ziel war richtig. Unser Problem in Kaschmir ist, dass wir weder einen Martin Luther King noch einen Malcolm X haben.

Glauben Sie, dass sich Ihre politischen Ziele besser mit Musik erreichen lassen?

Ali Saffudin

Ich habe keine politischen Ziele, die ich mit der Musik erreichen will. Die Musik ist ein Ventil für meinen Frust und meine Wut. Meine Musik hat politische Botschaften, sie soll aber vor allem die Gefühle der Menschen und ihr Leben zum Ausdruck bringen. Und in Kaschmir – der am stärksten militarisierten Region weltweit, eingeklemmt zwischen zwei tödlich verfeindeten Atommächten – ist dieses Leben zwangsläufig politisch. Songs, in denen es um freie Meinungsäußerung und freie Gedanken geht, oder ein Slogan wie "Free Your Mind!" mag anderswo an selige Hippie-Zeiten erinnern – hier wird das automatisch politisch gelesen. Auch die Tatsache, dass ich meine Texte in Kaschmiri schreibe und singe. Die Herabsetzung der Sprache der Kolonisierten ist ein Werkzeug des Kolonialismus. Wer in den 1990er Jahren Kaschmiri sprach, auf den wurde herabgesehen.

Spüren Sie wegen Ihrer Herkunft konkrete Einschränkungen?

Alle großen Konzerte in Kaschmir werden vom indischen Zentralstaat finanziert. Die würden mich nie einladen. Und ich würde nicht hingehen: Einen Künstler macht nicht nur aus, was er tut, sondern auch, was er nicht tut. Ich spiele in kleinen Cafés oder an der Universität, bin aber auch schon vor 2.000 Menschen aufgetreten. Die Freiräume werden jedoch immer kleiner. Man muss sich das so vorstellen: Wir leben in einem Aquarium, in dem es auch einen Hai gibt. Man hat fortwährend Angst, zensiert sich selbst. Jeder Widerspruch, jeder Protest kann als Umsturzversuch oder Angriff auf den indischen Staat interpretiert werden. Es gibt kaum jemanden, der sich offen gegen den indischen Staat ausspricht – stattdessen viel Schweigen. Schweigen ist der deutlichste Ausdruck der Resilienz der Kaschmiris.

Sie haben einmal gesagt: "Im Konflikt gedeiht Kunst besonders gut."

Ja, ich glaube, dass ein existentieller Konflikt wie der in Kaschmir – so tragisch er ist – ein perfekter Ort für Kunst ist. Ich glaube zwar nicht, dass Kunst, die aus einem Konflikt kommt, automatisch gut ist. Aber ich glaube, dass gute Kunst etwas zu sagen haben muss. Du musst dein Handwerk als Künstler beherrschen, wenn deine Botschaften eine Wirkung haben sollen. Für mich sind System Of A Down ein Vorbild: eine amerikanische Band, die ihre armenischen Wurzeln nie verleugnet, die eine Öffentlichkeit geschaffen hat für den Genozid in Armenien, aber auch die US-Intervention im Nahen Osten kritisiert hat – und die richtig rockt.

Ihre Musik rockt auch richtig …

Ich bin mit Grunge aufgewachsen, ich war ein riesiger Fan von Pearl Jam, Soundgarden, Nirvana, Alice in Chains. In dieser Musik fand ich Wut, aber auch eine große Schwermut. Deshalb war Grunge für mich immer eine Musik, die zwar in Seattle, aber für Kaschmir gemacht wurde.

Ali Saffudin

Artist Audio Ali Saffudin "Wolivo", Azadi Records, 2022

Im Westen ist Rockmusik als Ausdruck des Protests eigentlich tot.

Es mag aktuell keine gesellschaftlich relevanten Rockbands geben, aber ich glaube weiter an die Kraft dieser Kunstform. Die Grunge- und Punkbands, die ich liebe, haben ihre Wut auf die Umstände in der Musik kanalisiert. Wenn man die Umstände, aus denen diese Musiker kamen, mit denen in Kaschmir vergleicht, dann muss meine Musik wohl zehnmal so kraftvoll klingen wie Punk. (lacht)

Hat Ihre Musik eine politische Wirkmacht?

Politisch relevante Musik erreicht nicht die Massen in Kaschmir – auch meine Musik nicht. Die allermeisten hören dieselben Bollywood-Songs, die man im Rest von Indien hört. In Bollywood-Filmen und -songs wird Kaschmir als romantische Region mit idyllischer Natur dargestellt – das ist ein Teil der Propagandamaschinerie.

Sehen Sie eine Lösung für den Konflikt?

Eins meiner Lieder ist eine Tirade, in der ich alle Beteiligten, also nicht nur den indischen Zentralstaat, sondern auch die lokale Politik und die Menschen in Kaschmir beschimpfe. Als ich das Lied schrieb, hatte es noch eine Zeile, in der ich die Hoffnung zum Ausdruck brachte, dass alles gut wird. Als wir den Song aufnahmen, habe ich die Zeile weggelassen – ich konnte sie einfach nicht singen. Ich habe keine Hoffnung. Solange in Indien eine rechte Hindu-Partei das Sagen hat und Pakistan eine politische Katastrophe ist, wird sich in Kaschmir nichts ändern. Wir stecken in der Falle.


amnesty international


Thomas Winkler ist freier Journalist. Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung dem (Amnesty Journal 2023) entnommen.


Photo Credits: (1)-(3) Ali Saffudin, (4) amnesty international (unknown/website).


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