Gab es im Mittelalter schon Sonnenbrillen? Und waren Dudelsäcke wirklich mit Teufelsköpfen verziert? Egal, "In Extremo" macht das Mittelalter zur Show. Und die beginnt im fahlen Bühnennebel, die Scheinwerfer tauchen die Szenerie in tiefblaues Licht. Plötzlich treten drei Gestalten aus dem Nebel hervor, mit weiten Umhängen, dunklen Brillen und blasen in ihre elektrisch verstärkten Dudelsäcke. Das Konzert beginnt.
Auf die Bühne schreitet Sänger Michael Rein - in einem imposanten Mantel mit spitzem Kragen. Er nennt sich "das letzte Einhorn" und singt auf lateinisch, mittelhochdeutsch und manchmal auch auf altnorwegisch - aber wer achtet bei Rockmusik schon auf die Texte? Seine Stimme klingt, als sei sie schon seit Jahrhunderten in Gebrauch. Hinzu kommen Baß, Schlagzeug und E-Gitarre. So macht die siebenköpfige Gruppe aus dem alten Material eine Art "Mittelalter-Metal". Nirgendwo klingen die schrillen Sackpfeifen passender als in dieser aggressiven Hardrock-Umgebung.
Das bunt gemischte Publikum aus Heavy-Metal-Fans, Mystik-Freaks und Volkstanzfreunden ist schnell erobert. Bald fallen Mäntel und Umhänge, die gut gebauten Musiker spielen im Lendenschurz weiter. Zwischendurch wird auch mal Feuer geschluckt, jongliert und Handstand vollführt. Das Rockkonzert wird zum mittelalterlichen Jahrmarkt.
In Extremo sind die Senkrechtstarter der deutschen Mittelalter-Szene. Mit ihrem Album "Weckt die Toten" hat die erst 1996 gegründete Berliner Band einen für Indie-Verhältnisse wirklich erstaunlichen Start hingelegt. Fast ohne Medienpräsenz wurden in diesem Jahr 30 000 Exemplare dieser CD verkauft. Und die Konzerte sind voll - quer durch die Republik.
Am Anfang der Bandgeschichte zog man noch rein akustisch mit drei Dudelsäcken und einer Trommel über die Mittelaltermärkte. Und das will man neben der Metal-Karriere auch weiter tun. "Das sind schließlich unsere Wurzeln", so Michael Rein, der auf den Märkten trommelt und mit seinen frivolen Ansagen das Volk belustigt. In diesen Tagen kam unter dem Titel "die Verrückten sind in der Stadt" sogar eine akustische Live-CD auf den Markt.
Zusätzliche Promotion bekommen In Extremo durch eine herzliche Feindschaft mit ihren Berliner Kollegen von "Corvus Corax" (Kolkraben). "Vieles haben die nur von uns geklaut", beschwert sich Falco Richter, der Manager von "Corvus Corax", die sich ganz unbescheiden auch "Könige der Spielleute" nennen. . Tatsächlich unterscheidet sich der Mummenschanz der beiden Gruppen kaum. Auch Corvus Corax treten im Stile römischer Gladiatoren vor ihr Publikum, und das Repertoire überschneidet sich sowieso - weil aus dem Mittelalter nur wenig überliefert ist. Allerdings war Corvus Corax, und darauf legt die Gruppe großen Wert, schon seit Ende der 80er-Jahre aktiv.
Jetzt wollen allerdings auch die Kolkraben neue Wege beschreiten. Denn ohne den optischen Karneval hören sich Dudelsack-CDs doch etwas fade an und verkaufen sich entsprechend mäßig. Anders als "In Extremo" setzen "Corvus Corax" nun aber nicht auf verzerrte Gitarren, sondern auf moderne elektronische Club-Sounds. Nach der jüngst veröffentlichten CD "Viator", quasi dem Versuchsballon, werden im Frühjahr beim Major EMI elektronische Mittelalter-Grooves erscheinen. "Tanzwut" nennt Corvus Corax dieses Parallelprojekt.
Kritiker aus der traditionellen Ecke mögen aber beide Gruppen nicht. "Was die bieten, das ist doch reine Show und Volksverdummung", beschwert sich etwa Michael Hoffmann vom Verlag der Spielleute, "die verhackstücken alles auf ihren Dudelsäcken, völlig egal für welche Instrumente und in welcher Tonart ein Stück mal geschrieben wurde". Der Verlag der Spielleute, eine kleine Plattenfirma aus dem hessischen Reichelsheim, bemüht sich vor allem um die authentische Darbietung alter Musik. Doch dieser Hang zur Werktreue geht "In Extremo" völlig am Blasebalg vorbei. "Wir sind moderne Spielleute und machen das mehr aus dem Bauch heraus", betont Dudelsackspieler "Doktor Piemonte". "Schließlich haben wir keinen Bildungsauftrag". Seinem akademischen Titel macht der "Doktor" damit wenig Ehre.
Ein anderer Vorwurf trifft "In Extremo" härter. "Jeder 15jährige Schotte ist auf seinem Dudelsack doch besser als diese Jahrmarktmusiker", stöhnt Hoffmann. Er sieht die ganze Mittelalterszene in Verruf gebracht. Tatsächlich kommen Gruppen wie "Oni Wytars", "Estampie" oder die "Freiburger Spielleyt" von der klassischen "alten Musik" und spielen auf einem ganz anderen technischen Niveau. "Doktor Piemonte" ist über den "Stümperei"-Vorwurf dennoch wütend. "Wir haben unsere Dudelsäcke immerhin alle selbst gebaut - und sogar die Teufelsköpfe geschnitzt" kontert der Dudelsackpunk, "das soll uns dieser Akademiker erstmal nachmachen."
Die Mittelalter-Szene boomt und keiner mag den andern. Auf eine gemeinsame Bühne bringt sie nur einer: Günther Haug vom Südwestrundfunk, dessen "Festival der Spielleute" im Fernsehprogramm "Südwest 3" Pionierarbeit leistet. Drei bis vier Mal pro Jahr treten akademische und subkulturelle Spielleute gemeinsam auf alten Burgen auf. Die Bühne ist mit Strohballen und Wagenrädern ausstaffiert wie beim Musikantenstadl, und die Moderation ist auch nicht viel besser.
Zu "Spielleuten des Jahres" wurden trotzdem mit großem Abstand die Mittelalter-Rocker von "In Extremo" gewählt. Das ist wohl die eigentliche Kunst der Berliner: Sie kommen gut an bei denen, die sich für die mythische Seite des Mittelalters interessieren. Und noch besser bei denen, die sich genau darüber lustig machen.
Photo Credit: Phots by The Mollis
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Zum Inhalt des FolkWorld online musikmagazins Nr. 8
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