FolkWorld #79 11/2022
© Rainer Krispel (KlezMORE) / Gabriele Müller-Klomfar (GAMÜKL)

FolkWorld 25th Anniversary 1997-2022

Weltläufigkeit, Diskursfreude, Emanzipation

Isabel Frey

Artist Video Isabel Frey @ FROG

www.isabelfrey.com

Veranstaltungs-Kultur scheint in diesen Tagen, von inhaltlichen, künstlerischen und formellen Fragen abgesehen, vor allem eine Frage der Machbarkeit. Covid, der Klimawandel und der in der Ukraine geführte Krieg als die sichtbarste Manifestation einer unmenschlich aus den Fugen geratenen Welt, koppeln naturgemäß zurück auf unsere Kultur, unser Tun, unser Freizeit-Verhalten. Auf das, was uns notwendig und angebracht erscheint. Schon schließen kleine Spielstätten, brechen Tourneen „kleinerer“, oft spannender Künstler_innen weg, erleben wir Re-Regionalisierung und Re-Provinzialisierung, Menschen, die nicht länger Teil nehmen wollen oder können, inflationäre, dabei gut gemeinte Gratiskultur andererseits und nicht zuletzt die umfassende Rückkehr einer völlig harmlosen, inhaltsentleerten, mittelmäßigen „Kultur“, deren Funktion nur mehr ist zu unterhalten und abzulenken, mit ein, zwei Stunden Leichtigkeit den Alltag wieder erträglich zu machen, vorzugaukeln, dass „eh alles in Ordnung ist und so wie immer.“



5.11. bis 20.11. 2022

KlezMORE Festival @ FROG

www.klezmore-vienna.at

Aliosha Biz

Artist Video
www.aliosha.biz

Doch am Beginn, in der Ankündigung eines Festivals, ist der aus diesen Zeilen sprechende begründete „Kulturpessimismus“ tatsächlich schon durch die schiere Existenz des Anzukündigenden in die Schranken gewiesen. FRIEDL PREISL und ROMAN BRITSCHGI ist es abermals gelungen, zwei Wochen mit vielfältiger Kultur zu füllen, die den Prinzipien des KlezMORE Festivals (Weltläufigkeit, Diskursfreude, Emanzipation) auch unter erschwerten Rahmenbedingungen treu bleiben. Und so wie es 2021 die Umstände hergaben, dass das Festival tatsächlich stattfinden konnte, scheint heuer wenigstens schon im Vorfeld gewiss, dass es stattfinden wird – dass dies teils einer ignoranten, gefährdenden und verantwortungslosen Politik zu „verdanken“ ist, nimmt andererseits solch notweniger, unerlässlicher Planungssicherheit für Kulturschaffende nichts weg.

Mit solchen Gedanken im Sinn, passt es sehr gut, dass eine der zentralen Künstlerinnen des heurigen Festivals ISABEL FREY ist, in deren Arbeit sich politischer Aktivismus und künstlerisches Tun ergänzen und wechselseitig bedingen. Das ist zu hören, wenn sie am 5.11. die Eröffnungsgala bestreitet (Lorely Saal), am 9.11. im Trio konzertiert (Sargfabrik) oder mit SOVELES (16.11., Sargfabrik) ihre Stimme erhebt. Dass sie dabei bei der Eröffnungsgala die Bühne mit DANIEL KAHN teilt, macht eine weitere Ebene auf, steht der doch mit seinem „Verfremdungs-Klezmer“ und aus seiner Theater-Arbeit schöpfend, seit Jahrzehnten für auch abstraktere Ausformungen „politischer Musik“, die immer zugleich konkret emotional berühren.

Eine weitere Konstante des heurigen Festivals ist, im Wortsinn, Vielstimmigkeit. Erleben wir doch sowohl ROMAN GRINBERG und den WIENER JÜDISCHER CHOR (8.11., Ehrbar Saal), das STYRIAN KLEZMORE ORCHESTRA um MORITZ WEISS (12.11., Theater Akzent) und – bei der 2. Abschlussgala – das VIENNA KLEZMORE ORCHESTRA (20.11., Metropol). Nicht zu vergessen die künstlerischen Begegnungen, wie jene von ANDREJ PROZOROV und ALIOSHA BIZ (17.11., Sargfabrik) oder die in dieser Form einmalige von jüdischer Poesie und orientalischen Klängen (THE YIDDISH PRINCES MEET THE ORIENT, Abschlussgala 1, 19.11. Porgy & Bess). Vielleicht inhaltlich am spannendsten beim heurigen KlezMORE Festival THE BALLAD OF MAUTHAUSEN, eine erweiterte Adaption der berühmten „Mauthausen-Kantate“ durch die niederländische Musikerin NIKI JACOBS und ihren Verband hochkarätiger Klangkünstler.

Kein KlezMORE Festival wäre vollständig ohne die STUMMFILM MATINEE mit Live-Vertonungen ausgesuchter Filme (6.11., 13.11. und 20.11., jeweils 13 Uhr Filmhaus Kino Spittelberg), die von ESTHER WRATSCHKO (auch bei SOVELES zu hören!) geleiteten Vienna Klezmer Sessions (Kulturcafé Max, 7.11. und 14.11.), wo Musiker_innen eingeladen sind, aus dem Moment schöpfend zusammenzuspielen oder die flankierenden Workshops (6.11. und 13.11., Österreichisches Volksliedwerk).

Daniel Kahn

Artist Video Daniel Kahn @ FROG

www.paintedbird.de

In seiner Gesamtheit ist das KlezMORE Festival 2022 definitiv und nachdrücklich ein Grund zur Freude!

Die revolutionäre jiddische Tradition: ISABEL FREY (AT)

Im Text zu ihrem Solo-Programm – Frey wird beim KlezMORE Festival 2022 weiters im Trio (9.11., Sargfabrik) und mit Esther Wratschko als Soveles (16.11., Sargfabrik) in Erscheinung treten – bezieht sich die Wiener Musikerin und Aktivistin auf den „Arbetlose Marsch“ von Mordechai Gebirtig, mit der prägnanten Zeile: „Eyns, tzvey, dray, fir, arbetlose zenen mir.“ Besagtes Stück adaptierte der zweite Künstler der heutigen Eröffnungsgala, Daniel Kahn, auf dem Album „Lost Causes“ (2011). Eine Verbindung, die unterstreicht, dass es heute beim Festival-Auftakt politisch und sozialkritisch zugehen wird. Isabel Frey präsentiert jiddische Revolutions- und Widerstandslieder, die zu den sozialen Missständen der Corona-Pandemie und der aktuellen Wirtschaftskrise sprechen: Arbeitslosigkeit, die Doppelbelastung von Frauen, die Arbeitsbedingungen des Prekariats … – im Jahr 2022 sind die Themen jiddischer Revolutionslieder erschreckend aktuell!

Intim und radikal: DANIEL KAHN (USA)

Der 1978 in Detroit geborener Troubadour, gern gesehener und gehörter Stammgast des Festivals, bestreitet ein Programm mit neuen und alten Liedern, geschmuggelt über die Grenzen von Jiddisch, Englisch, Russisch, Deutsch, Vergangenheit und Zukunft. Eine zeitgemäße Sammlung brüchiger Balladen, windschiefen Klezmers, von Gefängnislamentos, Revolutionshymnen und apokalyptischem Blues. Das aktuelle, 2021 erschienene Soloalbum "Word Beggar" (Oriente Musik) des in Berlin lebenden und arbeitenden Songwriters, Dichters, Multi-Instrumentalisten und Theatermenschen Kahn zeigt seine lyrische und musikalische Vielfalt durch seine Versionen von Liedern und Gedichten von Gebirtig, Dylan, Cohen, Brassens, Tucholsky, Molodowsky und anderer moderner Barden und Dichterinnen.

Stilpluralismus: STYRIAN KLEZMORE ORCHESTRA (MK/AT)

Styrian Klezmore Orchestra

Artist Video Moritz Weiß @ FROG

facebook.com/...

Die Album-Produktion „Klezmer Explosion“ des Moritz Weiß Trio legte den Grundstein für diese Formation – junge, hochkarätige Musiker_innen aus der Steiermark bilden ein orchestrales „Großformat“ in variabler Besetzung und begeben sich auf musikalische Spurensuche. Dabei bewegen sie sich unter anderem im Spannungsfeld zwischen Klezmer, Jiddischer, ost- und südosteuropäischer Musik. Spielen traditionelle Tanzmusik aus Mazedonien, Serbien und Bulgarien, Hochzeitsmusik aus Podolien und Bessarabien, das Orchester flirtet mit der Musik der Lautari aus Rumänien und Moldawien, liebäugelt mit dem Repertoire mancher Gipsy-Brass-Combo und schaut sich an, was zu Klezmer noch alles so zu finden ist. Etwa Klänge aus der Yiddish Swing-, Theater- und Kabarettszene von New York City Anfang des 20. Jahrhunderts á la Barry Sisters, die sie mit jiddischen Kreisler-Bearbeitungen aus Österreich in einen Kontext stellen.

Niki Jacobs

Artist Video Niki Jacobs @ FROG

www.nikijacobs.nl

Die Mauthausen-Kantate Re-Adressed: THE BALLAD OF MAUTHAUSEN (NL)

In Griechenland wurde das Jahr 2022 zum „lavokos Kambanellis Jahr“ erklärt, um den 100. Geburtstag des 2011 verstorbenen Schriftstellers und Dichters zu würdigen. lavokos Kambanellis war seit 1943 bis zur Befreiung im Mai 1945 Gefangener im KZ Mauthausen, seine Erfahrungen dort hielt er unter anderem in Gedichten fest, die der Komponist Mikis Theodorakis zum Ausgangspunkt der weltberühmten „Mauthausen-Kantate“ machte. Zum 75. Jahrestag der Befreiung vom deutsch-österreichischen Nazi-Terror 2020 ließ die niederländische Sängerin Niki Jacobs die Texte der „Mauthausen-Kantate“ ins Jiddische übersetzen und interpretierte die Musik mit einem Verband hochkarätiger Instrumentalisten als avantgardistische jiddische Kantate subtil neu. Dazu setzt das Quintett mit großer Musikalität und inhaltlicher Sensibilität als „brüchige Jazz-trifft-Kammer-Musik-Formation“ einiges anderes Material gekonnt in den Kontext dieser so nachhaltig erschütternden Stücke.

Ein überfälliger musikalischer Dialog: ANDREJ PROZOROV QUARTETT feat ALIOSHA BIZ (UA/RU/AT)

Ein Festival wie das KlezMORE mit seinen Vorlaufzeiten bringt es mit sich, dass künstlerische Konstellationen gebucht werden, die dann erst zu proben und formulieren beginnen, was sie auf die Bühne stellen werden. Die beiden Wahlwiener Musiker Andrej Prozorov und Aliosha Biz trafen sich bislang tatsächlich nur zu ausgedehnten zweiköpfigen Philosophie-, Literatur- und Geschichtsdiskursen, von starkem Schwarztee begleitet. Der gemeinsame Griff zu ihren Instrumenten, die sie beide könnerhaft beherrschen also eigentlich überfällig! Die geteilten jüdischen Wurzeln dabei nur eine Quelle, aus der die gemeinsame Musik schöpfen wird. Als Begleitung wird der starke Schwarztee von drei weiteren starken Musikern ersetzt, und weil es an diesem Abend nicht nur die Premiere dieser Formation, sondern ebenso den Geburtstag Andrej Prozorovs zu feiern gilt, wird wohl nicht nur mit Tee angestoßen werden … Geschenke willkommen, aber nicht zwingend notwendig!



Photo Credits: (1) KlezMORE Festival Vienna, (2) Aliosha Biz, (3) Isabel Frey, (4) Daniel Kahn, (5) Styrian Klezmore Orchestra, (6) Niki Jacobs (unknown/website).


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