FolkWorld Ausgabe 41 03/2010; Kolumne von Walkin' T:-)M


Austro-Folk 2.3
Wien
Ballycotton, Fresch, Hotel Palindrone, ...

Aufreger! Die eigentlich nicht weiter erwähnenswerte und musikalisch belanglose Popchanteuse Christina Stürmer hat es (im Auftrag des Bildungsministeriums) nicht nur gewagt, die österreichische Bundeshymne „Land der Berge, Land am Strome“ zu verrocken, sondern auch noch die Zeile „Heimat bist du großer Söhne“ in „Heimat bist du großer Söhne und Töchter“ zu ändern.

Ballycotton

Presseschau

Willi Resetarits: "So schaut's aus"

Die "G'schichten vom Willi Resetarits", die der Filmemacher Harald Friedl in seiner 72-minütigen Dokumentation erzählt, präsentieren den Musiker und Menschenrechts-Aktivisten in liebevoller Weise. Harald Friedl porträtiert Willi Resetarits [FW#39] ausschließlich von der Gegenwart ausgehend. Die große Vergangenheit kommt nur in Erzählungen, dem gemeinsamen Betrachten alter Konzertfotos (etwa des ersten Open Air auf dem Ostbahn XI-Platz) oder dem Anhören alter Ton-Aufnahmen vor. Dafür plaudert Willi beim Besuch seines Heimatortes Stinatz über seine musikalischen Anfänge, singt mit alten Damen kroatische Volkslieder und bekommt im Rückblick auf seine ersten Zeitungs-Porträts zu hören: "So stolz waren wir auf dich!" [Kurier, 25.11.2009]

"Der typische Wiener ist ein Zuwanderer"

Das Wien, das Sie uns im Film zeigen, liegt an den Rändern, in Floridsdorf, beim Heurigen... Ist das Ihr Wien? Oh ja! Wenn es innerhalb von Wien ein Ausland gibt, dann ist das die Innere Stadt. Heimat liegt außerhalb des Gürtels. Man stellt sich in eine schöne Tradition, denn so war ja seit Jahrhunderten die Zuwanderung. Der typische Wiener ist ein Zuwanderer. Seit dreitausend Jahren ist diese Stadt multikulturell, und dadurch definiert sie sich. [Kurier, 24.11.2009]

Bucovina ohne Ende

Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht. Hieß es einmal früher. Heute, in Zeiten, in denen jedes Klumpert aus Plastik ist, gilt diese alte Einsicht nicht mehr. Lebender Beweis dafür ist Stefan Hantel alias Shantel [FW#40], der mit seinem Bucovina Club Orkestar seit Jahren in allen heimischen Clubs zwischen dem Boden- und dem Neusiedler See Dauergast ist. Der Deutsche mit osteuropäischen Vorfahren tingelt mit einer hochfrisierten Tanzmusik aus dem Donaudelta und diversen Nachbarregionen durch die Bundesländer, ist also zumindest weltberühmt in Österreich. [Standard, 22.12.2009]

Kulturporträts abseits der Klischees

Vor zwölf Jahren ist der 34-Jährige [Alp Bora] aus Ankara - ursprünglich zum Wirtschaftsstudium - an die Donau übersiedelt, seine Kindheit hat er teilweise in seiner Geburtsstadt Istanbul erlebt, teilweise in Bagdad. An Wien schätzt Bora die zentrale Lage ("zweieinhalb Flugstunden nach London, zwei Stunden nach Istanbul" ), die hohe Lebensqualität und das vielfältige Kulturangebot. Welches Bora seit geraumer Zeit selbst als Sänger und Gitarrist, u. a. mit seiner Folk-Jazz-Formation Nim Sofyan [FW#31], bereichert. Aktuell tut er dies auch als Kurator des Türkei-Schwerpunkts, mit dem im Porgy & Bess die ambitionierte Länder-Reihe fortgesetzt wird. "Der Hauptgrund dafür ist: Istanbul ist 2010 europäische Kulturhauptstadt Europas." Tatsächlich wendet sich das Festival vor allem an Österreich: "Wir wollen eine andere Seite der Türkei - abseits von Döner-Kebab, abseits vom Gastarbeiter-Image - zeigen. Viele Migranten stammen aus den ärmsten Teilen des Landes, ihre Lebensweise ist eher traditionell. Die westliche, urbane Seite der Türkei ist unterrepräsentiert." Das Festival tritt dem durch ein breites musikalisches Spektrum entgegen, das von elektronischen Klängen bis hin zu traditioneller Musik reicht. Besonderes Interesse gilt dabei der Wiederbegegnung des Tastenvirtuosen Aydin Esen mit Gitarrist Wolfgang Muthspiel, aber auch Kudsi Erguner, dem seit vielen Jahren in Paris lebenden Meister der Ney-Flöte, und dem Perkussionisten Okay Temiz, dem ersten international erfolgreichen Jazzer aus der Türkei. [Standard, 09.01.2010]

Schlafes Trink-Brüder

Antonio Fians 2009 bei Droschl erschienener Erzählband Im Schlaf sei "der kühne, literarisch hervorragend gelungene Versuch, die Fassade von Verstand und Vernunft fallen zu lassen und sich im Traum den eigenen Wünschen, Sehnsüchten, Ängsten zu stellen." Im Literaturhaus Graz präsentiert Fian einige dieser Kurzgeschichten. Musikalisch-lyrisch wird er vom Kollegium Kalksburg [FW#31] passend unterstützt, einem Trio, das sich als überzeugter Feind dessen, was vordergründig Vernunft genannt wird, versteht. Ob sie sich "für den veltlinerunterstützten Freitod entscheiden" oder sich doch lieber "mit mühsam erworbenen Blasensteinen gegenseitig die Schädeldecken einschlagen", haben die drei Herren laut eigener Angabe noch nicht entschieden. Derweil erfreuen Heinz Ditsch (Akkordeon, singende Säge, Gesang), Paul Skrepek (Kontragitarre, Gesang) und Wolfgang Vincenz Wizlsperger (Liedgesang, Kamm, Tuba) ihr Publikum hoffentlich noch lange mit den dem Wienerlied verwandten, morbid-lustigen Stücken und Gstanzln. [Standard, 26.01.2010]

Wiener Konzerthaus bebte

So poetisch kann Politik, können Lieder mit harten Wahrheiten sein. Melodiös, rhythmisch, manchmal sanft, zart, fast nur geflüstert, dann wieder kraftvoll und wuchtig und doch immer extrem musikalisch. Und das obwohl in der Verbindung zweier verschieden strukturierter Rhythmen nie zwanghaft vereint oder gar gegensätzlich - das war ein bislang einmaliges Experiment. Hoffentlich mit Wiederholung(en). Şivan Perwer [FW#34], der kurdische Kulturbotschaft in der Welt sang seine Lieder in einem fast dreistündigen Konzert im Wiener Konzerthaus. In einem völlig neuen Zusammenhang. Er und sein kurdisch-orientalisches Ensemble waren Teil eines großen ganzen musikalischen Klangkörpers aus Instrumenten und Stimmen: WienKlang, W.U.-Chor, Kammerton-Chor. Aus Perwers Liedern schuf der in Linz beheimatete kurdische Komponist Dalshad Said neue musikalische Werke für das große Orchester. Die eigenen Rhythmen kurdischer Musik (Makham) mit Vierteltönen, 9/8, 7/8 und 10/16-Takten verband er genial mit europäischer Konzertklassik. [Kurier, 31.01.2010]

Aus dem Mund, aus dem Darm

Am 12. Februar wird der Wiener Rabenhof zum siebten Mal Schauplatz des Protestsongcontests. Umwelt, Rechtsextremismus und die Wirtschaftskrise sind Themen, die dieses Jahr von den Finalisten musikalisch interpretiert wurden. Politisch wird es in der Würschtlpolka von Rotzpipn & Das Simmeringer Faustwatschenorchester. Der Hauptprotagonist, ein kleines, braunes Würschtl, warnt am Viktor-Adlermarkt vor der drohenden Überfremdung. Karin Rabhansl verarbeitet in ihrem Lied Arbeitsamt ihre persönliche Erfahrung. Vertonten Aussagen zufolge wie Musiker sind asozial. Dirnd`l host du des net g'wisst war es wohl kein erfreulicher Besuch. Lokalverbot erhält die "Austrobilly"-Band Mad Town Dogs bei einem Wirten, in dem rechte Meinungen vertreten werden. Recht anschaulich wird ihre Ansicht dazu mit Textzeilen wie Was aus dem Mund kommt, kommt sonst aus dem Darm besungen. Fiona Swarovskis viel verspotteter Vorschlag zur Wirtschaftskrise Sollen die Leute halt ihren Salat und ihre Tomaten auf ihren Terrassen, sofern sie welche haben, selber anbauen wird im Swarovski-Song von Maria Stern persifliert. Der Beschwerdechor St. Pölten hat auf der Straße Beschwerden über St. Pölten gesammelt und daraus ein Lied geformt: In der rund 13-minütigen Tirade ist es in St. Pölten grau, Wenn in Wien die Sonne scheint. [Standard, 09.02.2010]

Mitreißender Auftakt

Fulminant wurde Samstag Abend das - bereits elfte - Akkordeonfestival im wiener Theater Akzent eröffnet. Für den Auftakt sorgte der erst 15-jährige Paul Schuberth [FW#39] aus dem oberösterreichischen Dietach. Mit seinem Spiel bewies er, nicht nur wegen seiner Jugend für die Eröffnung ausgewählt worden zu sein. Virtuos spielte er nicht nur eine höchst komplexe Nummer von Wladislaw Solotarjow zu Beginn und einen spannenden Hommage-Mix unter anderem auf Otto Lechner, sondern vor allem eigenen Kompositonen seinerschon zwei CDs (Winterreise, Laub). Einen höchst interessanten Mix boten Lorin Sklamberg (Akkordeon, Gitarre, Gesang), Susan McKeown (Gesang und Rhythmusdrum) sowie Donogh Hennessy (Gitarre). Zum Teil gemixt, zum Teil übergangslos boten sie als Trio Saints & Tzaddiks [#41] jiddische und irisch-gälische (uralte) Lieder dar. Und sie wirkten als wären sie eine Einheit, aus ein und demselben musikalischen Stamm. Lorin Sklamberg, praktisch immer verbunden mit den "Klezmatics" stellte hörbar unter Beweis, dass sein musikalisches Spektrum noch viel breiter ist. Für eine mitreißende Show bis knapp nach Mitternacht sorgte schließlich in ganz anderem Stil BEC DE CHA aus Frankreich. Arnaud Méthivier (Akkordeon, Stimme), Pascal Ducourtioux (Gitarre, Percussion, Schlagzeug) und J.-H. Billman (am E-Bass) ließen das Publikum die eigene wahrhafte musikalische Spielfreude merken. In null komma nix sprang dieser Funke über. Dabei gesellte sich zur Spielfreude, die an eine Art lockere und doch voll konzentrierte Session erinnerte, noch der eine oder andere kräftige Schuss Humor - und das auf völlig unterschiedliche Art und Weise. Während der Percussionist Pascal Ducourtioux diesen ganz offenkundig zur Schau stellt, blitzte der des Basisten Billman eher versteckt, fast verschämt auf. Dazu gesellte sich hin und wieder Arnaud Méthiviers extrem hoher sozusagen Nonsens-Gesang. [Kurier, 21.02.2010]

Ballycotton

Ballycotton @ FolkWorld:
FW#18, #26, #32, #36, #39

Icon Sound www.myspace.com/ballycotton

www.ballycotton.at

Prompt klagt der Verlag, der die Erben der Texterin Paula von Preradović vertritt. Er sieht nämlich den künstlerischen Wert gefährdet, die Textveränderung sei ein Eingriff in das Persönlichkeits-Urheberrecht. (Die Melodie wurde der Freimaurerkantate "Brüder, reicht die Hand zum Bunde" aus dem 18. Jhd. entnommen.)

Tu felix Austria! Glücklich ein Land, das solche Probleme hat. Paula von Preradović ruht im übrigen in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof (Gruppe 32 C, Nummer 42) neben ihrem Gatten Ernst Molden. Man ahnt es schon, ihr Enkel ist der Liedermacher Ernst Molden (FW#40). Ich würde daher vorschlagen, eine seiner Hymnen über Land und Leute zum Bundesgesang zu machen ...

Ich durfte den Ernstl noch einmal bei einem Gastspiel im Local sehen. An diesem Abend spielte er ein reines Dialektprogramm. Das mit dem Dialekt hatte sich ja eher zufällig für den Hochdeutsch dichtenden Wiener ergeben. Für einen Johnny-Cash-Abend übertrug er "Give My Love to Rose" ins Wienerische und kam dabei auf den Geschmack.

Auf dem Album "Foan" sind die Stücke seiner Helden versammelt: Bob Dylan, Tom Waits, Will Oldham, Hank Williams (FW#38). Nur das Titelstück - im Original "Sailing" von Rod Stewart - durfte aus lizenzrechtlichen Gründen nicht auf Platte gepresst werden. Das gibt's also nur live: I wea foan, i wea foan, trotz die Viertln und dem Bia ...

Das Local liegt unter der U-Bahn-Linie 6 nahe der Station Spittelau. In den Stadtbahnbögen am Gürtel, der um den Stadtkern liegenden Hauptverkehrsader, haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Lokale angesiedelt, was durchaus zu einer Erweiterung des Angebotes an Musikveranstaltungen beigetragen hat.

Eine Woche später am selben Ort spielt die Fantasy-Folk-Band Ballycotton auf. Musik so verschnörkelt wie ein keltisches Muster, egal ob sie versuchen, Bilder zu malen oder eine Elfengeschichte zu erzählen - musikalisch versteht sich und rein instrumental. Das mit dem Keltischen spielt jedoch von Jahr zu Jahr eine immer geringere Rolle; es ist Weltmusik mit Einflüssen von der iberischen Halbinsel über die Schluchten des Balkans bis in Wüste und Harem. Das kommt jedenfalls heraus, wenn Bilbo Baggins nicht die Dorfkapelle, sondern eine Gruppe aus der Stadt für seine Geburtstagsparty engagiert hätte. Er wäre dann auch nicht verschwunden, sondern fasziniert auf seinem Sessel sitzengeblieben.

Fresch

Fresch @ FolkWorld: FW#36

Icon Sound Ordinary Killer, Richest Man

www.fresch.at

Ballycottons Bassist und Gitarrist Robert Polsterer (FW#36, FW#41) spielt auch Gitarre in der Gruppe Fresch Fresch. Neben dem Frontmann Erich 'Esch' Schacherl hat man mit Sascha einen dritten Gitarristen gefunden. Ein Jahr lang wurde hart an einem neuen Programm und einem neuen Sound gearbeitet: drei exzellente Gitarren, Harmoniegesang, dazu eingängige Folkpop-Melodien mit englischen Texten.

Außerdem gibt es Instrumentalstücke und gelegentlich fällt das Trio auch mal in einen schiefen Balkanrhythmus. Für Abwechslung ist also gesorgt. Auf der Website der Band las ich: Ob euch das gefällt, weiß ich nicht, aber Fresch läuft jetzt immer bei uns im OP als Begleitmusik zum Kastrieren ... Mmh?

Jetzt bin ich mit diesem Local-Durchlauf auf einmal schon im neuen Jahr. Doch lasst uns noch einmal zeitlich zurückspringen, auch wenn es nicht gerade angenehme Erinnerungen weckt.

Der Ost Klub ist ein Kellerlokal nahe Karlskirche und Schwarzenbergplatz und versteht sich selbst als Brücke zwischen Ost und West. Dementsprechend sieht das nach Osteuropa orientierte Veranstaltungsprogramm aus. (Nur nebenbei sei hier erwähnt, dass Österreich als Teil des Herzogtums Bayerns noch marcha orientalis genannt wurde. Aber das ist ja schon lange her ...)

Dikanda

Dikanda @ FolkWorld: FW#22, #29, #38, #38

Icon Sound Ajotoro, Jakhana, Lazito

www.dikanda.com
Die fünfköpfige polnische Band Dikanda beschließt ein polnisches Wochenende. Zunächst amüsiere ich mich noch, die Leute dabei zu beobachten, wie sie verzweifelt an der Klinke zum Bühnenbereich rütteln. Das für neun Uhr angekündigte Konzert beginnt nämlich erst irgendwann zwischen zehn und halb elf.

Dann der typische Dikanda-Sound und das charakteristische Dikanda-Repertoire. Ob die zusätzliche, dritte Sängerin Kasia Bogusz eine Bereicherung darstellt, vermag ich nicht zu beurteilen, da der Sound durchwegs suboptimal ist. (Nicht nur vor der Bühne, auch Dikanda hat permanent mit dem Monitormix zu kämpfen.) Dem Publikum sind solche Feinheiten egal. Ich finde mich in einem Pulk von schwatzenden Dorfdeppen wieder. Wenn sie wenigstens tanzen würden, zuhören verlange ich schon gar nicht.

Die auf Dikanda folgende polnische Hip-Hop-Formation erspare ich mir. Dadurch dass der Bursche an der Gardobe zehn Minuten braucht, um meine Jacke zu finden, fährt mir dann die letzte U-Bahn direkt vor der Nase weg. Und der erste Nachtbus in meine Richtung fährt erst eine Stunde später. Haken wir diesen Abend ab. Das einzig Positive war die Band. Das schon.

Am anderen Morgen gönne ich mir erstmal einen Jazzbrunch im Stamm-Cafe (FW#40). Toni Mühlhofers "Caoba" spielt Latinjazz. Das ist leichtverdauliche Jazzkost, abends wird es etwas schwerer werden. Die Nifty’s (FW#33, FW#39) - gerade geehrt mit der Auszeichnung zum Künstler des Jahres/Wien im Rahmen von 40 Jahre Ö1 - spielen zur Abwechslung einmal nicht in einer Gürtelkneipe, sondern stehen auf der Bühne des Jazz & Music Clubs Porgy & Bess im 1. Bezirk. Ein wohlverdienter Ritterschlag. Und das heisst ja nicht, dass hier nur wohlwollend mit dem Kopf genickt statt enthusiastisch geklatscht und gejubelt wird.

Geoff Berner

Geoff Berner @ FolkWorld: FW#34, #34

Icon Sound www.myspace.com/geoffberner

Icon Movie @ www.geoffberner.com

Mit ihrer brandneuen CD (Rezension in der kommenden FolkWorld-Ausgabe) treten sie die Flucht aus allen musikalischen Schubladen an. An Naftule "Nifty" Brandwein erinnert nur noch wenig. Das ist Jazzrock, manchmal ziemlich heavy; das ist Americana und Polka, Punk und Funk. Ja, dass dies noch irgendetwas mit Klezmermusik zu tun haben soll, muss einem an den meisten Stellen wirklich gesagt werden.

Zuerst dachte ich noch, dies sei einer dieser Abende, wo mich die Vorband mehr überzeugt als der Hauptact. Aber Geoff Berner kriegt die Kurve. Der aus der Olympiastadt Vancouver stammende Singer/Songwriter und Akkordeonist posiert als Lucky Goddamn Jew und tritt auf seiner Drunk and Dancing Europe Tour mit Geigerin Diona Davies und Perkussionist Wayne Adams auf. Geoffs trockener - besser: whiskey-geschwängerter - Humor kommt in Wien gut an.

Diesmal tanzt er nicht auf dem Tisch des israelischen Botschafters - wie ein halbes Jahr zuvor beim Akkordeonfestival (FW#39) -, sondern lässt die Zuschauer auf der Bühne Walzer tanzen. Immer wieder gruseln tue ich mich, wenn er sich in seinem Lied über die Maginot-Linie über die Franzosen lustig macht. Wenn das österreichische (oder deutsche) Publikum begeistert den Refrain mitsingt, tun sich Abgründe auf. Ironie? Zynismus? Interpretieren wir es besser wohlwollend.

Das Doppelkonzert findet übrigens im Rahmen des 6. KlezMORE Festivals statt, welches 2009 auch Lorin Sklamberg (FW#40), Daniel Kahn (FW#39), Kapelush (FW#41), Afenginn (FW#40), die Klezmatics (FW#41) und viele andere mehr auf Wiener Bühnen gebracht hat.

Karlsplatz Wien Festival-Chef Friedl Preisl ist auch der Organisator des Musikalischen Adventskalenders. Jeden Tag ein Konzert, beginnend mit einem Konzert am 1. Dezember im 1. Wiener Gemeindebezirk bis zum 23. Dezember im 23. Bezirk. Es ist die Zeit der Weihnachtsmärkte und in Wien schenken die ersten schon Mitte November schönen heißen Punsch aus. Auf dem Kunsthandwerksmarkt am Karlsplatz wird beinahe täglich Weltmusik geboten (z.B. Broadlahn -> #34).

Januar und Februar ist es eher ruhig in der Stadt. Nur der "Ballsaal Palindrone" lädt (alle zwei Monate Mittwochs) zum Balfolk in den Ost-Klub ein: Ab 19 Uhr werden Anfänger in Schritte und Tänze eingewiesen. Zwei Stunden später geht Hotel Palindrone an den Start, und das Gelernte darf sogleich umgesetzt werden.

Die Band zeigt stolz den Eversteiner hervor, die jährlich vergebene Trophäe des Folkherbstes in Plauen (Sachsen), bei dem die Wiener im vergangenen November 114 weitere Anwärter hinter sich gelassen haben. Nach anfänglichem Pfeifen der P.A. - scheinbar mein Ost-Klub-Trauma - bessert sich der Sound. Er ist nicht besonders brilliant, aber glücklicherweise benötigen Tänzer auch keinen besonders differenzierten Sound.

Zweite Gruppe des Abends ist das Trio WHA. Das sind Simon Wascher (Drehleier -> #32), Hermann Härtel (Geige) und Valentin Arnold (Sackpfeife). Deren Bordunmusik setzt weniger auf erkennbare Melodien, stattdessen wird ein Wall of Sound aufgebaut. Besser gesagt: ein Klangteppich verlegt, um Zuhörer und Tänzerschaft in Trance zu versetzen. Apropos, Teppich. Selbiger legt sich diesen Abend in Form von Schnee über die Stadt. Mit der weißen Pracht lässt sich der Winter in Wien am leichtesten ertragen.

Transylvanian Jazz - Nicolas Simion über seine Musik und sein neues Album

Nicolas Simion Zu Österreich hat Nicolas Simion ein besonderes Verhältnis, immerhin lebte der Komponist und Saxofonist fast zehn Jahre in Wien. Genau so lange befindet sich mittlerweile sein Lebensmittelpunkt in Köln. Es war im Jahr 1988, als sich der Musiker aus Dumbravita, einem kleinen Dorf in den Karpaten Siebenbürgens, zur Emigration in den Westen entschloss. Damals hatte er schon eine fundierte musikalische Ausbildung vorzuweisen, unter anderem ein klassisches Studium an der Musikakademie Bukarest. „Zu diesem Zeitpunkt war ich fast 30 Jahre alt und ich wusste ungefähr, was ich in meinem Leben wollte, aber ich wusste nicht, wie ich es realisieren sollte“, so Simion. Die Liebe zur improvisierten Musik hatte ihn schon in seiner Heimat gepackt. Gemeinsam mit dem Pianisten Mircea Tiberian und dem Saxofonisten Dan Mandrila hatte er eine der erfolgreichsten Jazzformationen Rumäniens gegründet. Genregrenzen scheinen für Nicolas Simion nicht zu existieren. „Mit jedem Projekt komme ich einem idealen Weg näher, Sounds und Klänge miteinander zu verschmelzen, einen Crossover zu wagen, über den man sagen könnte: „Es klingt frisch und originell…es klingt wie gute Musik!“ Nach mehr als 25 Jahren des Spielens und Schreibens von Musik in vielen Richtungen, des Mixens von Volksmusiken und modernem Jazz mit all den anderen Musikstilen sieht sich Nicolas Simion immer noch „in der Mitte des Entwicklungsprozesses“. Welchen Stellenwert die Volksmusik, aber auch die klassische Musik seiner Heimat bei ihm einnimmt zeigt nicht zuletzt ein Blick auf seine Diskografie. Nach Alben wie „Transylvanian Dance“, „Back to the Roots“, „Balkan Jazz“, „Romanian Dance“ oder „Transylvanian Grooves“ hielt Nicolas Simion „Transylvanian Jazz“ für den geeigneten Titel für seine neue CD. Obgleich Bezeichnungen wie „Ethno Jazz“, „Folk Jazz“ oder „Balkan Jazz“ auf seine Musik zutreffen mögen, Simion sind solche Kategorisierungen nicht wichtig, für ihn ist es „einfach Musik!“ Im aktuellen Album geht es vor allem darum, die Stimmung der transsylvanischen und rumänischen Volksmusik einzufangen. „Meine Inspiration zu dieser Platte kam durch mein Leben, durch Kinder, Leute, Geburtstage und Hochzeiten, Feiern in der Dorfkneipe oder den Bärentanz - als Kind war ich fasziniert, wenn Leute mit einem Bären in unser Dorf kamen und auf dem Dorfplatz den Bären zum Tanzen brachten, dabei eine kleine Trommel spielten und für ihn sangen. Auch Landschaften, Wälder, das Meer, einfach alles ist ein Teil des kleinen Universums, nenn es Dorf, Städtchen, Stadt, Land oder Planet“, schwärmt Simion. Für sein neues Album konnte Simion folgende Musiker gewinnen: Zoltan Lantos (Violine), Martin Lubenov (Akkordeon), Giani Lincan (Cymbalon), Sorin Romanescu (Gitarre), Martin Gjankonovski (Kontrabass) und Boris Petrov (Schlagzeug). Nicolas Simion selbst spielt Sopran- und Tenorsaxofon, Klarinette und Bassklarinette sowie Caval, eine pentatonisch gestimmte rumänische Hirtenflöte. „Dies ist das erste Projekt, zu dem ich mehr Musiker eingeladen habe, die Folkinstrumente spielen, als konventionelle Instrumente. Jeder von ihnen ist ein großartiger Spieler und eine große Persönlichkeit. So war es leicht für mich, für jedes Stück die beste Zusammensetzung auswählen, um einen farbenreichen Gruppensound zu bekommen.“, so der Bandleader und schildert die Charakteristik der Stücke: „Diese Songs haben einiges gemeinsam: Skalen, Rhythmen, Akkordwechsel, Melodien, Atmosphären. Und sie klingen organisch, wie ein Bild oder eine Landschaft mit all ihren Details und Kontrasten.“ Die zwölf Stücke auf „Transylvanian Jazz“ stammen - mit einer Ausnahme, dem Violinklassiker im Höllentempo „Hora Staccato“ des rumänischen Geigers Grigoras Dinicu - aus der Feder von Nicolas Simion. Die wiegenliedähnliche Melodie von „Lullaby For Pinx“ basiert auf einer Komposition von George Enescu. Das Stück „Colind“ entstand in Anlehnung an ein traditionelles transsylvanisches Weihnachtslied, welches seinerzeit von Bela Bartok transkribiert wurde. Was Nicolas Simion an diesem Lied fasziniert ist sein - trotz seiner Einfachheit - so starker Charakter. Der Originaltext beschreibt das Hirtenleben in der Natur zwischen Berg und Tal. Hier setzt Simion dann auch die Hirtenflöte Caval ein. Das Album schließt mit dem eindrucksvollen Hackbrett-Solo „Three Leaved Flower“, welches ebenfalls auf einem traditionellen Thema basiert. Das Resümee des Künstlers: „Indem wir die Musik einfach und simpel gehalten haben und der Stimmung eines jeden Songs gefolgt sind, werden Geist und Seele der Musik lebendig. Das war immer meine Idee - eine zeitlose Musik zu machen.“ Und dass Nicolas Simion das gelungen ist, davon kann sich nun jeder selbst überzeugen. [Concerto, 5-09]

Icon Sound&Icon Movie @ www.nicolassimion.com

"Heute würden wir Schlepperbande heißen"

Wiener Tschuschenkapelle: Hidan Mamudov & Slavko Ninić

derStandard.at: Warum nannten Sie sich Tschuschenkapelle? Slavko Ninić: Wir hatten die Band, aber keinen Namen dazu. Also haben wir herumg'scheitelt, und da hat im Wirtshaus irgendwer gemeint: "Nennt's euch Tschuschenband, weil Tschuschen seid's eh".
Wenn Sie wieder provozieren wollten - wie würden Sie die Band heute nennen? Ich weiß nicht, "Schlepperbande" vielleicht. Im Ernst: Gegen die Schlepper wird ja viel geschimpft. Aber ich denke, wenn die Grenzen offener wären, würde man den Schleppern dadurch schon das Handwerk legen. Wir haben in der Band Musiker, deren Eltern sie zehn Jahre lang nicht in Wien besuchen konnten, weil sie kein Visum bekamen. Und dann schimpft man auf die Schlepper, was soll das? Wir leben in einem Teil der Welt, der sich abschotten will, weil er in der Geschichte genug Reichtum angehäuft hat. Und im Rest der Welt wird gehungert und gestorben, weil man irgendein billiges Medikament nicht gekriegt hat. Eh klar, dass viele Menschen herkommen wollen. Man hat ja nur ein Leben, und soll man das in Hunger und Armut verbringen?
Die jetzige Innenministerin will ja, dass nur noch jene ins Land kommen dürfen, die schon vorher einen Deutschtest gemacht haben. Die Innenministerin will, dass gar niemand mehr ins Land kommt - außer Sängerknaben-Bewunderer.
Haben Sie jemals als Tschuschenkapelle rassistische Anfeindungen erfahren? Nein, nicht ein einziges Mal hat es bei Konzerten einen Eklat gegeben. Vielleicht liegt das auch an unserer Musik. Leute zu stören, die Gaudi haben und tanzen - da würde man sich vielleicht selber als Trottel vorkommen.
Wie viele Tschuschen hören die Tschuschenkapelle? Immer noch viel zu wenige, aber immer mehr. Grundsätzlich gehen Arbeiter ja sehr wenig ins Konzert. Wenn sie wohin gehen, dann ins Stadion oder zu Leuten, die bekannt sind aus Funk und Fernsehen. Bei den Gastarbeitern ist das noch extremer. Aber nun gibt es eine neue Population von Ausländern, eine intellektuellere Schicht. Die intellektuellen Gastarbeiter haben uns gleich ins Herz geschlossen. Und nachdem wir immer öfter ins Fernsehen kommen, sind wir mittlerweile auch bei den normalen Tschuschen recht bekannt.
Wie stehen Sie zum Turbofolk? Man soll ja keine Musikrichtung verteufeln. Aber im Großen und Ganzen ist es Kitschmusik, kommerziell kaputt gemachte Volksmusik, viel Geschrei um nichts, falsch und verlogen. Ähnlich wie die alpenländische volkstümliche Musik.
Sie sind in Slawonien aufgewachsen. Haben Sie dort je ein Konzert gespielt? Nein. Aber voriges Jahr waren wir zum ersten Mal in unseren ehemaligen Heimatländern auf Tournee - in Kroatien, Serbien, Montenegro, Bosnien, Albanien. Propheten im eigenen Land haben es immer am schwierigsten. - Nein, unser Land ist ja Österreich. Wenn wir in Brasilien spielen, sind wir nicht irgendeine serbische oder rumänische Band, sondern österreichische Botschafter.

Wiener Tschuschenkapelle, photo:www.tschuschenkapelle.at Slavko Ninić gründete vor zwanzig Jahren die Wiener Tschuschenkapelle. Der studierte Soziologe und Dolmetscher wurde in Komletinci der Nähe von Vukovar als Sohn bosnischer Kroaten geboren. Im Jahr 1971 kam er nach Wien. Am Freitag gibt die Tschuschenkapelle im Wiener Theater Akzent ein restlos ausverkauftes Geburtstags-Konzert - mit dem gewohnten Mix aus Balkan-Folk, Wiener Liedern, Rembetiko, osmanischen Liedern und Roma-Musik. [Der Standard, 04.12.2009]

Wiener Tschuschenkapelle @ FolkWorld: FW#6, #13, #21, #28, #35, #40

Icon Sound @ www.tschuschenkapelle.at        Icon Movie @ www.youtube.com

Uncensored Folk Music from Austria

Neues aus Austria: A Life, A Song, A Cigarette, Big City Indians, Kahiba, Kapelush, Mnozilbrass, Molden Resetarits Soyka Wirth, Manuel Normal, Ratz Fatz, Georg Siegl, Soyka Stirner, Monika Stadler, Umnachter Project, Zengarten, Zimt & Zauber, 5/8erl in Ehr’n

Tja, was hätte man nicht noch alles sehen können: den Weiherer, das Mairtin O'Connor Trio, Cristina Branco, das Irish Christmas Festival ... Für mich heißt es aber erst einmal, Abschied zu nehmen, und damit werde ich bedauerlicherweise auch die CD-Release-Party von Aufstrich verpassen, das Balkan Fever Festival ...

Ich kenne ein paar Leute, die Wien verlassen haben. Gute Frauen, gute Männer. Eine Zeitlang waren sie richtige Wiener. Sie sagten, sie seien wegen ihrer Berufe fortgegangen, wegen der Lemuren, die sie hier zu nichts kommen ließen, oder wegen irgendwelcher privater Geschichten. Ich weiss es aber besser. Sie gingen des Winters wegen. Aufgrund dieser einzgartigen Legierung aus Kälte und Stagnation ... Sie reisen ab, obwohl Ihr Ober sie endlich grüßt ... (Ernst Molden)

Austro-Folk 2.2 (FW#40)
Photo Credits: (1)-(2)
Ballycotton, (3) Fresch, (4) Dikanda, (5) Geoff Berner, (8) Wiener Tschuschenkapelle (by Walkin' Tom); (6) Ernst Molden Band (by Christian Moll); (7) Nicolas Simion, (9) Wiener Tschuschenkapelle (unknown); (10) CD-Cover 'Uncensored Folk Music of Austria' (by Arhoolie).


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 03/2010

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