FolkWorld Ausgabe 34 11/2007; Artikel von Karsten Rube
A Decade of Folk
My Private Radio Days
Als um 1920 die ersten kommerziellen Radiostationen ihren Dienst aufnahmen, erfanden sie zugleich eine Sportart, die bis heute nicht ihren Reiz verloren hat. Das Wellensurfen. Nicht das, was die Beachboys bejodelten oder Jack Johnson besingt, nein, das Surfen durch die Sendestationen ist gemeint. Jenes hin und her hopsen zwischen den Sendestationen, das im Fernsehzeitalter zum Zappen wurde.
Ich fing damit an, als meine Eltern in den Siebzigern eine Musiktruhe erbten. Ein schelllacklackiertes Ungetüm, in dem sich außer einem Röhrenradio noch ein Plattenspieler befand und ein paar alte Schallplatten für 77 Umdrehungen. Tagelang beguckte ich mir die Namen auf der leuchtenden Radioskala. Radio Hilversum las ich und Straßburg und Radio Moskau. Auf UKW kamen nur die damals handelsüblichen Sender in Frage, wie RIAS, AFN und Rundfunk der DDR. Deshalb wich ich auf die Kurzwelle aus, um etwas mehr Welt zu empfangen. Denn schon damals war mir mein kleiner Ort nicht genug.
Das Geräusch klingt heute noch nach, wie einst, wenn das Radio anging und sich allmählich ein Rauschen einstellte. Ich drehte nach Belieben an der Senderwahl und hörte das für Kurzwellenempfänger typische Piepsen von Morsenachrichten und das An- und Abschwellen der Empfangsleistung einiger Sender, die ich kaum orten konnte. Manchmal drehte ich einfach mit Schwung am Rad und hörte mir dann den Sender für eine Weile an, auf dessen Frequenz der rote Anzeiger stehen blieb. Das war mal Radio Tele Luxembourg, dann wieder Straßbourg oder auch mal Warschau. Einmal landete ich auf einem arabischen Sender und einmal beim Rundfunk der DDR. Auf UKW habe ich den Sender immer gemieden.
Exotisch waren für mich vor allem die Militärsender BFBS und AFN, die ich selbst an der Oder über UKW empfing. Die Tatsache, nicht nur die deutsche Hitparade in Lord Knuts “Schlager der Woche” zu kennen, sondern die ganze amerikanischen Top 100 und die Hitparaden aller westeuropäischen Staaten, wie sie auf BFBS zu erleben waren, machte mich zu einem der musikalischen Auskenner in jener kleinen Kreisstadt am Rande der polnischen Grenze. Während noch alles auf Rubettes und Abba schwörte, konnte ich von Leuten reden wie Dolly Parton und Emmylou Harris. Das war Country und amerikanisches Songwritertum und damit völlig abartig für Leute, die eigentlich AC/DC hören sollten. Der BFBS mit seiner europäischen Hitparade gab mir Ende der siebziger Jahre Einblick in den seltsamen Geschmack der Iren und so hörte ich von einem Van Morrison und von den Chieftains, die es durchaus in die nationalen Top Ten Irlands schafften. Dies war der erste Eindruck, den ich von Folk bekam. Die Portugiesen, von denen der BFBS innerhalb der Europäischen Charts berichtete, waren um 1980 geneigt, Musik aus Übersee zu ihren Lieblingsliedern zu wählen. Der brasilianische Musiker Gilberto Gil spielte sich damals in die Top 10. Heute ist er Kulturminister Brasiliens und einer meiner absoluten Lieblingsmusiker. Damals weckte er in mir das Interesse für die Musica Popular do Brasil.
In meiner kleinen Kreisstadt hatten die Heranwachsenden Lust zum Tanzen und ich als Musikauskenner wurde gebeten, als Diskotheker durch die Schulen zu ziehen. Das ging schief, denn alles, was ich aufgenommen hatte, kannten die Leute nicht und alles, was sie hören wollte, konnte ich nicht ausstehen. Ein ganzes Jahrzehnt musste ich in musikalischer Langeweile ausharren. Die Neue Deutsche Welle ging mir auf den Keks, für die Discoszene besaß ich nicht die richtigen Ohren. Schallplatten von Songwritern gab es ganz selten. Außer von Pete Seeger. Auch die Aufnahme des Chores der DDR-Jugendorganisation FDJ, die kurz nach den kommunistischen Weltfestspielen auf Kuba das Lied “Guantanamera” auf Vinyl presste, brachte mich der Musik des Buena Vista Social Club nicht deutlich näher. Der einzige karibische Lichtblick war Bob Marley.
Das Radio blieb, was es war. Ein einseitiger Empfänger, der Dinge spielte, die vorgekaut vorgesetzt wurden. Moderatoren brachten nur dann den Mut auf, Neues zu spielen, wenn sie hörten, dass es woanders bereits Erfolg hatte. Kulturelle Weitsicht war rar. Nur wenige Vorreiter unter den Moderatoren erkannten das. Sie sahen den Horizont am Ende der 80er Jahre bunter werden und begannen mit Songs herumzuspielen, die sie teils aus den beliebten Urlaubsgebieten mitbrachten, teils aus den Hörgewohnheiten herausfilterten, die Auslandskorrespondenten entwickelten. Der leider längst verstorbene Rias-Moderator Barry Graves war es, der über Peter Gabriels mutiges Real World Label berichtete und als erster Paul Simons Graceland ins deutsche Radio brachte. Puristen ereiferten sich darüber, dass Simon die nationale Identität der Afrikaner aus kommerziellen Beweggründen missbrauchte. Ladysmith Black Mambazo kam damit besser zurecht als die Apartheidgegner, denn plötzlich gab es in Südafrika auch lebendige Menschen, die Musik machten und nicht nur Miriam Makeba. Barry Graves erkannte das und forderte die Hörer auf, ihre Scheuklappen von den Ohren zu nehmen.
Das Radio bekam Farbe. Die Vorreiter des heutigen Ethnopop ließen sich nicht mehr übersehen. Mori Kante, Ofra Haza, die Gipsy Kings waren erfolgreicher, als die bis dahin bekannten Popstars. “Huch, das ist ja südländisch, aber gar nicht so schlecht” hieß es. 1990 produzierten Kevin Godley und Rupert Hine ein bis dahin einmaliges Produkt in der Geschichte der Musik. Unter dem Projekt-Titel “One World, one Voice”, das eine der ersten vom medialen Interesse begleiteten Aktionen war, die den Klimaschutz in den Mittelpunkt stellte, vereinigten die beiden Produzenten in einer Art Kettenvideo Musiker aus aller Welt. Zu einem Grundrhythmus, den sie vorgaben, sollten alle beteiligten Künstler ihr eigenes musikalisches Thema hinzufügen. Es wurde ein einmaliges, ethnisch kreuz und quer gehendes Musikereignis. Von Popgrößen wie Sting ging es zu afrikanischen Hohepriestern der Heimatklänge wie Salif Kaita und dem weißen Zulu Johnny Clegg. Der Japaner Ryuichi Sakamoto traf auf die Chieftains und Clannad. Die Samisängerin Mari Boine und der Brasilianer Milton Nascimento ergänzten sich genauso gut wie die Gipsy Kings mit dem König der Sufimusik Nusrath Fati Ali Kahn. Alles endete in einem furiosen Finale mit dem Leningrader Sinfonieorchester. Es war und ist bis heute die deutlichste Hommage an die Vielfalt der Musik der Erde.
Auch im Radio bekamen Freunde von Folk- und Weltmusik ihre Nischenplätze. Den Bildungsauftrag, den Radio eigentlich haben sollte, erfüllten jedoch wieder nur ganz wenige Sender und Moderatoren, denen es nicht gleich war, was sie ihren Hörern vorsetzten. Im Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg wurde die Sendung “Al Globe” geboren. Sie war wie geschaffen für meine Ohren, denn hier war die Welt zu Gast, hier gab es nicht nur die Chartbreaker, sondern kulturelle Horizonterweiterung. Die Auslandskorrespondenten der ARD brachten journalistische Schnipsel mit. Reportagen, die für das allgemeine Nachrichteninteresse zu unbedeutend waren und im Archiv verschwanden, wurden hier an die Sonne gebracht. Berichte aus dem Alltag, Skurriles und Unbedeutendes aus dem Leben jenseits des Horizontes. Und dazu die Musik, die dort eine Rolle im Leben der Menschen spielt. Traditionelles, Poppiges, Schräges. Was das ebenfalls längst verstorbene ORB-Unikum Herbert Perschke noch als Potpourri, als bunten Blumenstrauß mit Melodien aus aller Welt anpries, nutzten Michael Kleff, Marianne Oppel und das Moderatorenteam um Karen Pfundt und Jürgen Bednarz geschickt als Sprungbrett in die Köpfe der kulturell verödeten Radiohörer, die sich in ihrem Geschmack nicht aufgeben wollten. Was wurde mir in dieser Zeit alles Neues beigebracht. Ich lernte großartige Musik aus Regionen kennen, von denen ich früher nicht mal den Namen kannte. Ich lernte, wie verschiedene Kulturkreise mit ihren Empfindungen umgingen, und ich bemerkte, welchen Einfluss traditionelle Musik auf die Popmusik der Gegenwart hat.
La Bottine Souriante aus Quebec, eine der großartigsten Folk-Jazz-Fusion-Bands der letzten Jahre, lernte ich nur durch diese Sendung kennen und lieben. Monatelanges Nachhaken beim Plattenhändler meines Vertrauens, dem Bochumer Klaus Sahm, der auf jedem Folkfest zu finden ist, konnten eine Gier nach CD’s aus Kanada schließlich befriedigen. Carlos Nunez aus Galizen erreichte meine Ohren, die Chieftains, Capercaillie, Kepa Junkera, Tri Yann und Les Negresses Vertes, unzählige Künstler aus Lateinamerika und Afrika etc. Musik, die nicht zu kennen für mich heute nicht mehr vorstellbar ist. Alles das lernte ich in dieser intensiven Zeit des Radiohörens lieben und schätzen, wofür auch heute noch den Menschen um Michael Kleff und Marianne Oppel ein tief empfundener Dank auszusprechen ist. Leider machte die Umstrukturierung des ORB zur angepassten Gleichklangwelle der Sendung den Garaus.
Radio schien wieder langweilig werden zu wollen, wäre da nicht rechtzeitig Radio Multi-Kulti und das Funkhaus Europa entstanden. Denn hier hat die Welt im Radio ein Zuhause. Es ist derzeit die einzige Welle, die in meinem Haushalt läuft. Kein fröhliches Formatradio und doch höflich, witzig, angenehm, informativ und voller neuer Impulse. Die Moderatoren haben die unterschiedlichsten kulturellen Hintergründe, schließlich werden damit besonders die Migranten angesprochen, die Deutschland und vor allem Berlin bevölkern. Die Argentinierin Pia Castro moderiert morgens genauso selbstverständlich, wie die Italienerin Elisabetta Gadoni eine Radiokochshow präsentiert, türkische und rumänische Moderatoren wechseln sich mit einem Mädel aus Köln ab oder Jungs aus Berlin, England oder sonstwoher. Und eine auf mich etwas oberlehrerhaft wirkende Deutsche serviert während ihrer montäglichen Abendsendung den derzeit vermutlich besten Musikgeschmack, der innerhalb der Erreichbarkeit dieses Senders zu finden ist. Damit ist dies einer der wenigen Sender Berlins, bei dem Radiohören vielfältig ist und großen Spaß macht. Kurzwellensurfen brauch ich da nicht mehr. Für mich gibt es genug Welt auf dieser Frequenz. Allerdings mit Abstrichen, denn die Sparte Celtic-Folk oder überhaupt die klassische Folkmusik wird bei Mutikulti nur ganz am Rande mal gespielt und erwähnt. Hier ist das Sendekonzept, wie ich finde, noch nicht hinreichend global. Um diese Art der Musik zu hören, muss ich mich von World-Wide-Music, wie sie der Sender präsentiert, abkabeln und ins World-Wide-Web wechseln.
Mittlerweile gibt es enorm viel Internet-Radio. Spartenfunk, der fein nach Hörgewohnheiten abgegrenzt jeden Geschmack bedient, der möglich ist. Wer lateinamerikanische Musik mag, kann Kanäle finden, die den ganzen Tag Cumbia spielen oder Salsa oder Bossa Nova. Der Liebhaber europäischer Folkmusik kann zwischen Celtic Folk und Bardenmusik wählen und findet immer noch einen Sender, der sich in weitere Randbereiche versenkt. Jeder Geschmack findet seine Nische. Ist das jetzt die neue unbegrenzte Freiheit des Radiohörens? Oder eine neue Abgrenzung in Kleinstschubfächer? Besteht damit trotz aller Vielfalt nicht die Gefahr der Verkapselung?
Ich finde, der Hörer sollte an den Ohren gezogen werden, damit er über seinen Horizont hinaus hört. Nichts wird er lernen und begreifen, wenn er täglich nur die Hits aus den letzten 20 Jahren hört. Kulturelle Vielfalt und Toleranz sind letztlich auch eine direkte Folge eigener Hörgewohnheiten. Und die lassen sich in jede Richtung beeinflussen und erweitern. Deshalb sind mehr Radiosender von Nöten, die den Hörer ernstnehmen, für Weitblick und Erkenntnis sorgen. Wer die Lieder des Nachbarn nie hörte, wird ihn nie begreifen, niemals mögen. Fast bedauerlich, dass man heute kaum noch am Sendersucher des Radios drehen kann und einfach auf der Stelle der Skala verweilt, wo das Schwungrad hängen bleibt.
Karsten Rube lebt in Berlin. Karsten schreibt regelmäßig Beiträge und Rezensionen für FolkWorld. Besucht auch seine Webseite: www.raileigh.de. |
Photo Credits:
(1) & (9) Radioskala (by Karsten Rube);
(2) Chieftains (by The Mollis);
(3) Johnny Clegg (from website);
(4) Mari Boine (by Folker!)
(5) La Bottine Souriante (from website);
(6) Carlos Nunez (from website);
(7) Capercaillie (from website);
(8) Kepa Junkera (by Interfolk).
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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 11/2007
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