FolkWorld Ausgabe 32 12/2006; Live-Bericht von Karsten Rube


Akkordeonmusik für Bessergekleidete
Maria Kalaniemi, Haus d. Nord. Botschaften, Februar 2006

“Das ist keine Rechnung”, stelle ich fest, als ich den weißen Umschlag aus dem Briefkasten nestele, die einzige vertrauensvolle Post unter Zahlungsaufforderungen, Fernsehzeitungen und einem gratis Probierpäckchen einer Kosmetikfirma, die mir die wunderbare Welt des Rasierens näher bringen will. Der weiße Umschlag trägt den Absender der finnischen Botschaft in Berlin. In seinem Inneren verbirgt sich eine Einladung zu einem exklusiven Konzert der Akkordeonistin Maria Kalaniemi - mit anschließendem Empfang.

Ich war noch nie auf einer Abendveranstaltung einer Botschaft mit anschließendem Empfang. Entsprechend lautet meine erste erschrockene Frage: “Was ziehe ich an?” Mein muselmanischer Freund Ahmed, dessen Affinität zum Skandinavischen bereits so groß ist, dass er lernt, Norwegerpullover zu stricken, rät mir hilfreich: “Zieh was Maria Kalaniemi, photo by Adolf Goirup passendes an und rasier dich”. Was meint er damit? Die Aussicht auf ein dem Konzert folgendes Häppchenbüfett stellt eine Hose in Frage, die bereits vorher zwickt. Passend im Botschaftsambiente ist ein Anzug, entscheide ich. Da ich Angst habe overdressed zu erscheinen, lasse ich die Krawatte weg. Die Rasur vollziehe ich ohne Probierpäckchen aus der Werbung. Das letzte Mal sah mein Gesicht hinterher aus, wie der Straßenbelag nach einem langen salzreichen Winter.

Das Gemeinschaftshaus der nordischen Botschaften in Berlin entspricht in seiner Form und Bauweise dem, was mir von skandinavischer, insbesondere von finnischer Architektur weitläufig bekannt ist. Die drei Elemente Holz, Glas und Beton und eine gewisse Hingezogenheit zum Stahl verbinden sich zu einer modernen Foyerarchitektur. Ein bisschen Bahnhof, ein bisschen Galerie, ein bisschen Walhalla. Nicht gerade kuschelig, aber zumindest übersichtlich. Beton wird so angewandt, wie er in der Natur vorkommt - nackt. Dekorative und vor allem tragende Säulen und im oberen Bereich größere Wände bestehen aus unverputztem Beton. Der Eingangsbereich funkelt in reflektierendem Glas. Vom Erdgeschoss bis zum Dach wächst eine Glasfront, an der von außen Worte aus weißen Buchstaben etwas Wichtiges auf nordeuropäisch erzählen. Einige Wände im Innern sind mit behandeltem Holzpaneel beschlagen und lassen den Raum dadurch wärmer wirken. Zudem zieren die Bilder einer Ausstellung die Wände. Malereien aus Island, sehr gegenständlich und mit kargen, klaren Strichen ziehen die Aufmerksamkeit des Besuchers auf sich.

Das Konzert ist auf 20.00 Uhr angesetzt. Ich bin fasziniert von der skandinavischen Pünktlichkeit. Als ich um halb acht im Gebäude eintreffe, bin ich noch der erste Besucher. Das Konzert beginnt Punkt acht. Zu diesem Zeitpunkt sind alle Plätze belegt und keiner kommt mehr nachträglich angehetzt. Langes vor dem Konzert Herumstehen liegt den Skandinaviern ebenso wenig, wie mediterranes späteres Herbeischlendern. Frau Kalaniemi wirkt schlicht. Sie trägt ein einfaches schwarzes Kleid. Das schwarze, lange Jahre benutzte Knopfakkordeon vor der Brust sitzt sie auf einem schmucklosen Stuhl. Die Vorschusslorbeeren, die die Botschaftsrätin in ihrer Ansage verteilt, braucht man im Falle von Maria Kalaniemi nicht in Frage zu stellen. Dem Ruf als Königin des finnischen Knopfakkordeons, der ihr vorauseilt, wird sie souverän gerecht.

Sie spielt zunächst Stücke aus ihrem aktuellen Album “Bellow poetry”, in denen sie sich den Runengesängen des finnischen Nationalepos’, der Kalevala zuwendet. Es sind leise meditative Melodien, langsame Weisen, die sie von Zeit zu Zeit mit dezentem Gesang begleitet. Allmählich versinkt der Hörer in die befriedigende Stille der finnischen Seele. Olli Varis, ein junger Mann mit Pferdeschwanz, still und schüchtern, unterstützt sie mit seinem sparsamen Spiel auf der Gitarre. Im Laufe des Abends werden die Lieder eine Spur heiterer, bevor Maria Kalaniemi zum Ende des Abends dem Tag der Kalevala gedenkt, den die Finnen am letzten Februartag begehen. Unbegleitet von ihrem Akkordeon, erhebt sie ihre klare helle Stimme und singt ein mehrstrophiges melancholisches Lied. Für diesen Moment befinden sich die Hörer in einer tiefen Andacht. Maria Kalaniemi ist die Hohepriesterin der finnischen Rootsmusik. Wenn sie spielt, dann voller Innigkeit, mit geschlossenen Augen und einem Lächeln auf den Lippen, wie man es von den Gesichtern zärtlich berührter Menschen kennt. Wie schafft sie das nur, dass man sich in einem Raum aus sichtlich distanzierter Architektur fühlt, als säße man mit einer flauschigen Decke über den Füßen vor einem Kamin in einer Holzhütte am nördlichen Polarkreis, während draußen der Frost klirrt und der Himmel von der unfassbar faszinierenden Aurelia borealis verzaubert wird.

Vor dem Botschaftsgebäude schneit es. Das freut die Insassen. Vor mir sitzt ein dicker, rotgesichtiger Mann mit schwitzendem Haar und grauen Stoppeln auf einem zerfurchtem Gesicht, das den unvorsichtigen Umgang mit Gratiskosmetik erahnen lässt. Sein Anzug sieht gepflegt, aber getragen aus. Er wippt mit dem Kopf zu einigen der komplizierteren Melodien und scheint sehr in der Musik versunken zu sein. Seine Frau, eine etwas ältere Dame im Strickjäckchen lehnt an seiner anderen Seite, lächelt milde. Ihr Gesichtsausdruck teilt mit, dass sie nach einem langen Tag nun doch noch etwas gefunden hat, über das sie sich freuen kann. Ich glaube, so sehen Botschafter aus, wenn sie an einem gewöhnlichen Mittwoch Abend Feierabend haben.

Das Konzert ist zu Ende. Kurz, und von konzentriertem Zuhören geprägt. Nur eine Frau plagt ein heftiger Husten, den sie höflich hinter einem Galerieaufsteller auf der anderen Seite des Gebäudes ausficht. Heftiges Applaudieren folgen dem Konzert der Künstlerin, Blümchen und Stühleschieben schließen sich an. Alles drängt sich in den hinteren Bereich der Örtlichkeit, wo Silberschalen (gut, es ist vermutlich Blech) mit allerhand Geschnittenem, Gerollten und Gebratenem durch die Gegend getragen werden. Manches beinhaltet Lachs, anderes sieht nach schwedischer Bulette aus. Nebenbei wird Wein und Apfelsaft gereicht. Frau Kalaniemi verschwindet unter interessierten Fragestellern. Beim gemütlichen Kauen und Glasfesthalten kontrolliere ich die Anzugsordnung der anwesenden Herren. Die meisten tragen Anzug ohne Schlips, wer mit Krawatte erschienen ist gehört zum höheren Botschaftspersonal. Allerdings fällt mir auch ein Turnschuhträger in Jeans und mit Cordsakko, das einige Auflösungserscheinungen aufweist ins Auge. Sein schütteres Haar ist lang und fettig nach hinten gekämmt. Er erinnert mich an Terry Gilliam, als er in “Das Leben des Brian” einen Gefängniswärter im antiken Jerusalem spielt. Nicht sehr gepflegt, aber außerordentlich sicher in der finnischen Sprache, jongliert er sein Glas zwischen den besser gekleideten Besuchern und wird auch von allen freudig begrüßt. Ich glaube er ist Experte für irgendwas. Oder der Architekt. Der Rand seines Cordärmels zieht Fäden. Was meine anfängliche Bekleidungsangst angeht, so bin ich völlig beruhigt.

Maria Kalaniemi ist zur Zeit Musikprofessorin an der Sibelius-Akademie in Helsinki. Die kulturell Verantwortlichen in Finnland haben sie zu dieser auf fünf Jahre befristeten Stellung berufen, da ihnen die Pflege der musikalischen Traditionen ihrer Heimat nicht egal ist, während die Sparauflagen des Berliner Senats die Hochschule Für Musik “Hanns Eisler” zwingt, ihren Studiengang Akkordeon in Frage zu stellen. Dass das Akkordeon als Instrument wesentlich weniger in den Bereich der klassischen Musikausbildung anzusiedeln ist, halte ich für bedauerlich. Andererseits genießt es als Volksinstrument auch in Deutschland hohes Ansehen und deckt unter den Interessenten nahezu jedes musikalische Genre ab, von der Kleingartenunterhaltung, über die Volksmusik, weiter zur Kleinkunstszene, den Tanzensembles, dem Pop-, Folk- und Schlagerbereich, bis hinüber zum Tango - vom Tanzabend, bis zur einmaligen Welt Astor Piazzollas, sowie den Einsatz in Theater- und Konzertsälen. Es ist also nicht einzusehen, dass das Akkordeon eine geringe Wertschätzung erhält, als beispielsweise das Cello, nur weil das eine Volksnähe und das andere durchgeistigte Kunst darstellt. Es sollte sich auch in Berlin ein Ort finden, an dem Akkordeon professionell erlern- und studierbar ist. Die Idee, die Akkordeonausbildung in die Universität der Künste zu verlagern und damit wenigstens für die Region zu retten, ist dabei ein lobenswerter Ansatz. Gedanken, die sich an der Sibelius-Akademie derzeit keiner machen muss, denn das Akkordeon genießt in Finnland einen kultischen Status. Die Finnen mögen einen seltsamen Geschmack haben, was ihre Architektur angeht - richtiger ist, dass ich davon eigentlich keine Ahnung habe. Vielleicht sind sie ja nur gern bereit zu experimentieren und zu spielen. Sie spielen und singen die im nationalen Bewusstsein eingebetteten Lieder, wenn ihnen danach ist. Wenn sie dabei ihre Eigenheiten betonen und Nationalstolz beweisen, dann im besten Sinne der Heimatliebe. Bei dieser Wortkonstellation bekommt man hierzulande noch immer Bauchschmerzen.

Die Häppchen sorgen nicht für Bauchweh. Nur dafür, dass die Hose wieder stramm sitzt. Sehr apart, was die nordische Küche so zaubert. Es erfreut mich immer wieder, wie Musik und Kulinarisches eine stimmige Gemeinschaft eingehen können. Beides streichelt unterschiedliche Sinne der selben Seele. Vielleicht liegt es daran, dass es kulturelle Geschwister sind und über ein Volk mehr Charakteristisches aussagen, als deren marktwirtschaftlicher Stand in der Weltgemeinschaft.

Website: www.mariakalaniemi.com

Photo Credit: Maria Kalaniemi (by Adolf Goriup).


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 12/2006

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