FolkWorld Live Review von Wolfgang Überreiter
Die Speisekarte in "De Cam" von Gooik ist zweisprachig. Doch weder
Flämisch noch der lokalen Dialekt helfen uns weiter. Auch die freundliche Kellnerin
bemüht sich vergeblich. Schließlich bestellen wir den vegetarischen Burger und
deuten wahllos auf eine der zwanzig Biersorten. Der Burger ist gut, das Bier
allerdings rot: Kirschbier.
Im "Cam" hängt auch eines der ganz wenigen unauffälligen DIN A4 Plakate mit dem Programm des diesjährigen Bordunfestivals. Draußen auf den Straßen deutet rein gar nichts darauf hin, dass sich hier die besten Gruppen Belgiens ein Stell-dich-ein geben. Kein Vergleich zu Saint Chartier oder Rudolstadt, wo während der Festivals Ausnahmezustand herrscht. In Gooik ist das so gewollt. Der Schwerpunkt liegt auf dem Unterricht im Erlernen und Bauen von Borduninstrumenten und Gesang. Am Abend gibt es hochkarätige Konzerte und einen "Bal folk".
Seit mittlerweile 26 Jahren nehmen hunderte MusikerInnen an den Kursen teil, und praktisch alle bekannten belgischen Folkgruppen sind in irgendeiner Form aus Gooik hervorgegangen.
Heute,
am 21. August, beginnt das Festival. Die Konzerte finden diesmal alle in der
"Sint-Niklaaskerk" statt.
"Liebe Gläubige", begrüßt Herman Dewit das Publikum mit breitem Lächeln. Sie
hätten lange überlegt, ob die Kirche ein geeigneter Rahmen für die Konzerte
sei, sagt er, aber die Akustik sei hier einfach umwerfend. Außerdem hätte der
Pfarrer nichts dagegen, wenn in der Kirche gelacht würde.
Dewit, Mitglied der bedeutenden flämischen Folkband "t' Kliekske" und von Anfang
an Hauptinitiator des Festivals, gibt einen Überblick über das heutige Programm.
Die Zuschauer lachen immer wieder, uns bleibt die Komik weitgehend verborgen.
Dann geht es endlich los. Der bekannte Dudelsackspieler Jean-Pierre van Hees bestreitet das erste Konzert. Mit einer Musette spielt er ein reines Barockprogramm zusammen mit drei MitmusikerInnen auf Cello, Querflöte und Cembalo. Sehr akademisch, perfekt gespielt. Musik, die auch beim Zuhörer hohe Konzentration fordert. Am Ende gibt es höflichen Beifall, die große Begeisterung bleibt jedoch aus.
Danach kommen mit Bernard Vanderheijden und Ivo Lemahieu zwei Musiker auf die Bühne, die schon viele Jahre im Umfeld von Gooik aktiv sind. Vanderheijden bietet ein Programm rund um die Maultrommel, die auf flämisch so schön "Mondharp" heißt. Seiner Meinung nach handelt es sich dabei um ein Borduninstrument. Ivo begleitet die Stücke aus Belgien, Bayern, Skandinavien und Vietnam(!) sparsam auf Gitarre, Flöte oder einer Geige mit Grammophontrichter. Ein nettes Programm, aber besonders für uns Ausländer werden die vielen Erklärungen bald langweilig.
Zum Ausklang des Abends spielen "van de Meesters" im "Zaal Familia" zum Tanz auf - uns zieht es ins Bett.
Szenenwechsel. Zufällig findet am Sonntag 130 Kilometer östlich, bei Hasselt, ein "richtiges" Festival statt, das wir uns nicht entgehen lassen wollen. Schon die Kulisse lässt einiges erwarten: Alden Biesen, ein prächtiges Wasserschloss, der einstige Herrensitz des Deutschen Ordens. In seiner heutigen Erscheinungsform geht es auf das 18. Jahrhundert zurück. Runde Ecktürme aus roten Ziegeln und grauem Kalkstein gruppieren sich um einen Innenhof. Dazu kommen die Vorburg, das Apostelhaus, verschiedene Nebengebäude und große Gärten und Rasenflächen. Seit 1971 befindet sich die Renaissance-Anlage im Besitz des belgischen Staates und der Provinz Limburg und wird für Kongresse und kulturelle Veranstaltungen genutzt. "Castle Folk" hat in diesem Jahr Premiere.
300 freiwillige Helfer aus der Umgebung sorgen für eine perfekte Organisation, angefangen vom Einweisen auf einen Parkplatz über das Verteilen der (kostenlosen!) Programmhefte bis zum Verkauf von Verzehrbons. Allein 85 Stände von Kunsthandwerkern sind auf dem Gelände verteilt. Dazu kommen die zahlreichen Verpflegungszelte und drei Bühnen, auf denen elf Bands auftreten. Für Kinder gibt es ein extra Programm.
Bei strahlendem Sonnenschein bestreitet um 13:00 Uhr die Gruppe "Lezzamie" auf der kleinsten Bühne, dem Podium Rijschool, ein tolles Eröffnungskonzert. Eine siebenköpfige Folkrockband im englisch-irischen Stil mit Stücken u.a. von den Levellers und der Oysterband. Höhepunkt ist für mich das leider einzige selbst komponierte flämische Stück und "Kokko" von der finnischen Band Värttinä. Hier lassen die beiden Sängerinnen ihr Können aufblitzen. Schade, dass außer dem Sänger die Musiker ziemlich unbeteiligt herumstehen - an der Bühnenpräsentation gäbe es noch einiges zu feilen. Vielleicht wirken sie aber auch deshalb etwas lustlos, weil sie nur wenige Zuschauer haben und von "Kandoris" auf der Buitenhof-Bühne beinahe überdröhnt werden. So etwas muss der Veranstalter besser organisieren.
Auf der Hauptbühne im Zelt hat inzwischen "Sois belle", eine Folkrockband mit Jazzeinflüssen, begonnen. Sie singen in flämisch, sind sehr festivalerfahren und wirken professionell. Aber auch sie haben es schwer mit dem Publikum. Das Zelt ist fast leer. Lediglich im hinteren Bereich, wo Tische und Bänke aufgestellt sind, haben sich ein paar Zuhörer verirrt.
Während im Buitenhof die Gruppe "Et encore" ein eher unspektakuläres irisch-bretonisches
Programm bietet, beginnen auf dem Podium Rijschool "Les Poules Huppées". Sie
spielen ein typisches "Bal folk" - Repertoire mit durchaus interessanten Ideen
und Arrangements, allerdings sehr, sehr brav. Es wäre toll, wenn sie sich ein
wenig an ihrem Gruppennamen "die hüpfenden Hühner" orientierten! Andererseits
ist es ein wohltuend leiser Auftritt - eine der ganz wenigen Bands ohne Schlagzeug.
Danach tritt "Kandoris" zum zweiten Mal auf. Gefällige Countrymusik, sehr "durig",
ohne Ecken und Kanten. Ihre besten Szenen haben sie, wenn die drei Frontfrauen
mehrstimmig singen.
Unterdessen ist es voll geworden. Im Pannekoeken-Zelt sind fünf ältere Damen mit je zwei Pfannen am Dauerbacken. Pommes frites werden zentnerweise vertilgt.
18:00 Uhr. Zeit für die Top acts. Das Programm auf den kleineren Bühnen ist
beendet, die Massen drängen ins Zelt. Alle wollen "Urban Trad" sehen, die beim
Eurovisionfestival 2003 in Riga den zweiten Platz erreichten. Die Idee des Bandleaders
Yves Barbieux, traditionell inspirierte Musik in modernen Tanz- und Technorhythmen
für ein breites Publikum zu präsentieren, kommt offensichtlich an. Aus Nebelschwaden
taucht Barbieux mit seiner Blockflöte auf und wirbelt über die Bühne. Nach und
nach erscheinen weitere Musiker. Bassist und Gitarrist haben eigene Podeste,
von denen sie nur selten herunter dürfen, und auf die sonst niemand drauf darf.
Wirklich beeindruckend die Akkordeonistin: Schlangenhaft gleitet sie mit hypnotisierendem
Blick mal dahin, mal dorthin. Ihr dreireihiges Castagnari scheint schwerelos.
Zwei junge Sängerinnen animieren permanent zum Mitklatschen. Ein Roadie ist
eigens dafür abgestellt, ihnen die Mikroständer hinterher zu tragen. Ein rundum
durchgestyltes, massentaugliches Programm, das die Zuschauer zum Jubeln bringt.
Es drängt sich die Frage auf, was diese Glitzerwelt noch mit der Idee des Folk
zu tun hat, andererseits ist es immerhin handgemachte Musik, die gerade junge
Zuhörer neugierig auf mehr machen kann.
Nach den Zugaben leert sich das Zelt. Für die meisten war es ein langer Tag,
und sie wollen am Sonntag Abend nicht zu spät nach Hause kommen.
Ambrozijn.
Im letzten Jahr in Gooik erlebte ich sie zum ersten Mal. Es war eins der besten
Konzerte, die ich je gesehen habe. Mittlerweile hat Sänger Ludo Vandeau die
Gruppe verlassen. Zudem haben sie heute in dem fast leeren Zelt denkbar schlechte
Auftrittsbedingungen.
Nach dem Bombast-Spektakel von "Urban Trad" wirken die drei Musiker mit Geige,
Akkordeon und Gitarre etwas verloren auf der großen Bühne. Doch sie lassen sich
nicht unterkriegen und liefern auch heute ein eindrucksvolles Konzert ab. Wohltuend
minimalistisch. Gitarrist Tom Theuns, der den Gesangspart übernommen hat, kommt
nicht an Vandeau heran. Gerade die Stücke in der Art französischer Chansons
nimmt man ihm einfach nicht so ab. Aber bei den instrumentalen Passagen laufen
die drei immer wieder zur Höchstform auf und fetzen, was das Zeug hält. Der
Akkordeonist Wim Claeys wandelt mit seinen Grimassen und Verrenkungen scheinbar
am Rand des Wahnsinns, während Geiger und Gitarrist um ihn herum tanzen.
Die verbliebenen etwa 150 Zuschauer sind begeistert. Statt Zugaben veranstalten
Ambrozijn noch einen kleinen "Bal folk", der dem Tag einen gelungen Abschluss
verleiht.
Uns zieht es zurück nach Gooik, ins gemütliche Pajottenland. Kurz vor acht
füllt sich die Kirche wieder für die Abendkonzerte am Montag. Das Publikum hat
sich inzwischen in dem "heiligen Raum" akklimatisiert. Der Geräuschpegel ist
deutlich lauter. Irgendwann stimmt jemand Kirchenlieder an, die alle begeistert
und mehrstimmig mitsingen.
Schließlich eröffnet Herman Dewit den Abend mit einer Buchvorstellung: "De
Filosofen van de Straat". Ein sicherlich interessantes Buch über die belgische
Folkmusik - wenn man des Flämischen mächtig ist.
Dann geht es endlich zur Sache. Die sechs blutjungen MusikerInnen von "Keukkojoen"
betreten die Bühne vor dem Altar. Der Kopf der Gruppe Raphaël De Cock spielt
das Eröffnungsstück auf Launeddas, der sardischen Bordun-Doppelflöte. Dann folgen
eine A cappella Nummer aus Korsika, Kehlkopfgesang aus der russischen Republik
Tuva, ein Joik aus Samiland, bulgarisch-mazedonischen Lieder im Stil von "Mystère
des voix Bulgares" und anderes. Dazu kommen ungewöhnliche Instrumente wie die
sibirische Zither, die finnische Kantele oder ein russisches Akkordeon. Ein
archaisches Programm von Völkern aus aller Welt, die noch eine enge Verbindung
zu ihrem Ursprung haben - vorgetragen mit einer Perfektion, die leicht und selbstverständlich
wirkt. Musik, die in innere Schichten des Menschen vordringt. Mir stehen Tränen
in den Augen. Was kann nach einem solchen Erlebnis noch kommen? "Les pieds sur la braise",
traditionelle Musik aus dem Poitou, sind angekündigt. Das kann eigentlich nur
banal werden. Die Tänze aus dem Poitou kann man anschließend im "Zaal Familia" selbst ausprobieren.
Beim letzten Abendkonzert am Dienstag lässt es sich Herman Dewit nicht nehmen,
selbst auf die Bühne zu steigen. Zusammen mit seiner Frau Rosita Tahon bietet
er ein lustiges Kinderprogramm mit selbst gebastelten Instrumenten. Aus einem
Tennisschläger wird eine Gitarre, aus zerbrochenen Skistöcken, einer Beinprothese
oder einem Klostopfer Blasinstrumente. Beeindruckend kreativ! Vor den Augen
der Kinder fertigt er aus einer Karotte eine Flöte, die hervorragend klingt.
Nun wird es Zeit für einen weiteren Höhepunkt des Festivals: Der französische
Drehleier-Guru Gilles Chabenat zusammen mit Didier Francois auf der Nyckelharpa
(schwedische Schlüsselfidel). Natürlich wird es trotzdem ein begeisterndes Konzert mit vielen Zugaben. Eine
ist dem "Altmeister" Valentin Clastrier gewidmet, die letzte ist Chabenats "Jugendsünde"
(Zitat) "Les poules huppées", das Stück, das schon unzählige Drehleier-Anfänger
in den Wahnsinn getrieben hat. Chabenat kurbelt es ganz lässig im Turbostil,
nicht ohne noch an den unmöglichsten Stellen Verzierungen einzubauen. Eben Gilles!
Herman Dewit hat während des Konzerts zwei weitere Flöten aus Karotten geschnitzt
und schenkt sie den Musikern zum Abschied.
Für die Tänzer spielt nun noch "Klakkebusse" im "Zaal Familia". Wir genehmigen
uns noch ein Abschiedsbier in der Bar am Kirchplatz. Nach eingehenden Selbstversuchen
wissen wir endlich, welche Biersorten man unbesorgt bestellen kann.
Photo Credit: All photos by The Mollis, aus dem FolkWorld Photoarchiv.
(1) und (2): Urban Trad; (3) Wouter von Ambrozijn
Zum Inhalt der FolkWorld Beiträge All material published in FolkWorld is © The
Author via FolkWorld. Storage for private use is allowed and welcome. Reviews
and extracts of up to 200 words may be freely quoted and reproduced, if source
and author are acknowledged. For any other reproduction please ask the Editors
for permission. Although any external links from FolkWorld are chosen with greatest care, FolkWorld and its editors do not take any responsibility for the content of the linked external websites.
Bleibt zu hoffen, dass man noch viel von dieser unglaublich talentierten Gruppe
hören wird!
Doch auch dies wird ein richtig toller Auftritt. Ganz unbeschwert legen die
vier Musiker los. Mit zwei Geigen, Akkordeon und Gitarre spielen sie fröhliche,
abwechslungsreiche Tanzmusik. Druckvoll auch ohne Schlagzeug und Bass, mit viel
Bewegung, obwohl sie im Sitzen spielen. Musik um ihrer selbst willen ohne Schnörkel,
unterbrochen von flotten Ansagen, bei denen sie mit Eigenheiten des Poitou kokettieren.
Wurde man von "Keukkojoen" nach innen geführt, "Les pieds sur la braise" bringen
uns behutsam und gut gelaunt in die Wirklichkeit zurück.
Sie beginnen mit dem mittelalterlichen Pilgerlied "Stella splendens". Zuerst
ganz schlicht, dann immer mehr verfremdet. Chabenat kann es sich natürlich nicht
mehr leisten, nur einfache Tanzmelodien zu spielen, und so wird es schließlich
ein akademisches, etwas anstrengendes Programm mit Hang zum Free-Jazz. Die besonderen
Effektmöglichkeiten der eigens für ihn konstruierten Drehleier werden ausgiebig
genutzt, wobei ich mich frage, was davon Bereicherung und was Spielerei ist.
Didier Francois steht leider etwas im Hintergrund, sowohl musikalisch als auch
von der Lautstärke. Schade, auch er ist ein Könner.
Zum Inhalt der FolkWorld Nr. 30
Layout & Idea of FolkWorld © The Mollis - Editors of FolkWorld