FolkWorld Artikel von Claudia Just:

Folk in Tschechien
Eine Einführung in die Szene

Raduza, photo: Richard ProcházkaSommerzeit ist Ferienzeit, das gilt auch in der Tschechischen Republik. Aber nicht nur das, hierzulande bringt der Sommer auch immer eine wahre Flut von Konzerten und vor allem Festivals, bei denen es wirklich schwerfällt, sich für eines oder zwei zu entscheiden und so wenigstens ein bisschen den ohnehin schmalen Geldbeutel zu schonen.

Mit etwas Bosheit könnte man bei der tschechischen Festivalmanie natürlich behaupten, dass alle Aktionen, bei denen mehr als 2 bis 3 Bands auftreten, "Festival" genannt werden - weil das auf Plakaten einfach schicker aussieht. Wer dagegen positiv an die Sache herangeht, muss anerkennen, was selbst die winzigsten Orte und Agenturen tun, um Musikliebhabern allerhand musikalische (und auch kulinarische) Leckerbissen in schöner Umgebung präsentieren zu können.

Die derzeit größten tschechischen Folk- und Countryfestivals sind Slunovrat (Sonnenwende), Prazdniny v Telci (Ferien in Telc, einem kleinen Ort in Westmähren, der ganz nebenbei auch noch zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört) und, nicht zu vergessen, das größte Festival von allen, Zahrada (Garten), welches Jahr für Jahr um die 25000 Besucher anzieht. Das sind nur einige wenige Beispiele dessen, was man in Tschechien als Folkfan geboten bekommt - die Liste könnte beliebig fortgesetzt werden. Zudem erfreuen sich viele der oben genannten Festivals einer langen Tradition, so z.B. Slunovrat, das seit 1980 stattfindet, oder Zahrada (seit 1990). Bei fast allen großen Festivals herrscht demokratische Genrevielfalt, kleinere Festivals dagegen spezialisieren sich oft auf eine Musikrichtung, sei es Folk, Country oder tschechische "Trampmusik".

Eine kurze Geschichte der tschechischen Folk- und Countryszene

Karel KrylFolk & Country sowohl ihre sämtlichen Unterarten sind nach wie vor beliebt bei vielen Leuten, obwohl die Konkurrenz durch Rock, Pop, Metal, elektronische Musik und vor allem durch Hip Hop nach der "Samtenen Revolution" extrem zugenommen hat. (Hip Hop ist heutzutage auch in Tschechien DIE Musik für Teenager schlechthin.) Die Beliebtheit von Folk & Country ist wahrscheinlich unter anderem darauf begründet, dass die Tschechen - so jedenfalls meine bisherige Beobachtung - ein recht naturverbundenes Volk sind, das gern wandert, zeltet und abends am Lagerfeuer zur Gitarre Lieder singt. (Einer tschechischen Tageszeitung zufolge zeltet ca. jeder 5. Tscheche mindestens einmal pro Jahr, kleine Kinder und alte Leute eingerechnet.) Und was passt besser zum Singen am Lagerfeuer und mit Freunden als der gute alte Folk?

Vom Ende des 1. Weltkrieges bis zum Fall des Kommunismus

Vor 1989 genossen Folk & Country so etwas wie eine Ausnahmestellung unter den Stilrichtungen der Populärmusik: Tschechischer Folk & Country entwickelte sich zu einem großen Teil aus tschechischen Folkloretraditionen, und das teilweise schon seit Ende des 1. Weltkrieges. Schon damals war die Gitarre ein beliebtes Instrument, v.a. bei Gruppen von umherziehenden (Saison)Arbeitern und Abenteurern (heutzutage würde man ihren Lebensstil wahrscheinlich als "alternativ" bezeichnen). Die Musik dieser Leute erhielt im Laufe der Zeit logischerweise die Bezeichnung "Trampmusik". In den zwanziger und dreißiger Jahren spielte die amerikanische Folk- und Countrymusik eine entscheidende Rolle in der Entwicklung dieser populären Stilrichtungen in der Tschechoslowakei. Viele englische Lieder wurden übersetzt und ihre musikalischen Formen erfolgreich in die tschechische Folklore integriert.

Dies war sicherlich der Grund dafür, dass die Kommunisten (sie übernahmen im Februar 1948 die Macht in der Tschechoslowakei) sich mit Folk & Country abfinden konnten: Beide Musikrichtungen war ausreichend "tschechisiert" und klangen daher nicht nach verdorbenen und verbotenen Rhythmen aus dem Westen wie später Rockmusik, die viel schärfer zensiert wurde. Zudem schafften es die Musiker, durch Singen (auf Tschechisch oder Slowakisch) über politisch "unbedenkliche" Themen wie Natur oder Liebe die heikle Frage nach Texten zu umgehen. Offensichtlich entgingen den meisten Funktionären, die den Inhalt der jeweiligen Lieder kontrollierten, Assoziationen oder Metaphern, die der aufmerksame und kundige Fan zwischen den Zeilen las. ChechomorSo wurden Folk & Country vom Staat zur Erhaltung und Verteidigung des nationalen kulturellen Erbes unterstützt, womit sie allerdings auch anfällig für Missbrauch und Manipulation durch die Kulturfunktionäre wurden. (Im Laufe der gut 40 Jahre Kommunismus in der Tschechoslowakei gab es einige Musiker, die als Gegenleistung für offizielle Protektion und Geld das eine oder andere politisch motivierte Liedchen trällerten. Aus diesem Grund haben einige Musiker Vorbehalte gegen die Fortsetzung alter Festivals wie der Porta, die es seit 1967 gibt, damals mit Unterstützung der kommunistischen Jugendorganisation.) So konnte sich dank des relativ günstigen politischen Klimas - für Folk & Country wohlgemerkt - eine vielfältige Szene mit traditionellem Folk & Country, Adaptionen böhmisch-mährisch-slowakischen Liedguts, Bluegrass, "Trampmusik" und natürlich auch mit der politisch heikelsten Gruppe, den Liedermachern (tschechisch písnickár von písen = Lied) entwickeln.

Ein písnickár singt gewöhnlich nur in Begleitung weniger Instrumente (zumeist eine Akustikgitarre, aber gern auch ein Helikon - so etwas wie ein Akkordeon), was die Texte automatisch in den Vordergrund rückt. Die erste Generation tschechoslowakischer Liedermacher begann in den späten sechziger Jahren, z.B. Vodnanský, Skoumal und Kryl. Karel Kryl, der wohl bekannteste písnickár der damaligen Zeit, kritisierte in seinen Liedern die Invasion der Warschauer Pakt-Staaten im Jahre 1968. Durch seine ehrliche und kompromisslose Haltung wurde er zwar zu einer Symbolfigur des Widerstandes gegen die Invasion, musste aber bald darauf aus Sicherheitsgründen seiner Heimat den Rücken kehren. Kryl kehrte nach 1989 nach Tschechien zurück, verstarb aber bereits Mitte der Neunziger. Der wohl bekannteste und beliebteste písnickár, und das unverändert seit vielen Jahren, ist Jaromír Nohavica, der Anfang der achtziger Jahre seine Karriere begann. Nohavica schrieb ebenfalls Lieder, die sich kritisch mit Problemen - oft alltäglichen - in der kommunistischen Tschechoslowakei befassten. Dafür wurde er von der tschechoslowakischen Staatsicherheit unter Druck gesetzt, und er erhielt ein längeres Auftrittsverbot (bereits bei seinem ersten Auftritt auf der Porta 1983 wurde er stürmisch umjubelt). Ein guter Kollege und Freund von Nohavica ist Karel Plíhal, mit dem er jahrelang gemeinsam auftrat und auch einen sehr erfolgreichen Pseudodokumentarfilm drehte (Rok D?ábla oder Jahr des Teufels mit der Folkrockgruppe Cechomor, die durch diesen Film einen enormen Karriereschub erhielt).

Folk seit 1989

BuhviIn den Achtzigern neben Rock immer eine der beliebtesten Musikrichtungen, verlor Folk nach 1989 langsam an Zuhörern: Die Leute hatten nun Zugang zu den verschiedensten, früher oft verbotenen Musikrichtungen wie Punkrock, Underground und Metal, die Konkurrenz auf dem ohnehin kleinen tschechischen Musikmarkt wurde immer härter, und Amateurmusiker - was viele Folkmusiker während des Kommunismus waren - hatten keine Chance, sich gegen die Profikonkurrenz durchzusetzen. Heutzutage ist Folk eher zu einer Musikrichtung für eine Minderheit der tschechischen Bevölkerung geworden, was den Besucherzahlen bei den großen Festivals derzeit noch keinen Abbruch tut, wohl aber dem Absatz von Tonträgern (noch dazu in der Zeit von mp3 und CD-Brennern) und den Zuschauerzahlen bei kleineren Festivals oder Konzerten einzelner Künstler.

Jedoch sollte man die Gegenwart und Zukunft des tschechischen Folk nicht schwarz sehen: Die bereits erwähnten Cechomor haben einen Riesenboom in der Folkrockszene ausgelöst: Folkrocker arbeiten mit traditionellem Liedgut, dem sie einen "moderneren", rockigen Mantel verpassen. Ob das nun gut oder schlecht ist, sei dahingestellt. Möge jeder Zuhörer selbst entscheiden, ob er die Lieder in ihrer traditionellen oder in ihrer modernen Form hört - auf diese Weise werden die Lieder dem Hörer erneut ins Gedächtnis gerufen und so vor dem Vergessen bewahrt. Außerdem lebt Folk in gewissen Maße von Improvisation und Veränderung. Neben Folkrock erfreut sich im Moment die sogenannte world music immer größerer Beliebtheit in Tschechien - viele Bands "würzen" ihre Lieder mit Elementen russischer, polnischer, jüdischer, ungarischer und lateinamerikanischer Folklore oder verwenden Stilmittel und Instrumente aus der zur Zeit sehr populären Balkanfolklore sowie aus der Zigeunermusik. Viele neue Künstler stellen sich auf den Festivals vor, während ältere und erfahrenere Musiker ihre Karrieren erfolgreich fortsetzen und die neue Generation bei den ersten schwierigen Schritten im harten Showgeschäft oft unterstützen. Um sich einen Überblick über die kleine aber feine tschechische Szene zu verschaffen, empfehle ich, einfach in ein paar CDs reinzuhören (siehe die kleine Auswahl unten) und / oder sich zu einem der zahlreichen Festivals zu begeben. Schließlich sind immer noch Ferien, Tschechien ist nun wirklich nicht weit, und sowohl Eintrittskarten als auch Bier sind billig ...

Eine kleine Auswahl aus 4 Jahrzehnten tschechischen Folks

Falls Ihr Euch nun fragt, wie Ihr überhaupt an diese CDs herankommen sollt: Meldet Euch einfach bei Folkworld, die werden Eure Emails bestimmt gern an mich weiterleiten. (CDs sind, wie Bier, auch nicht so teuer in Tschechien!)

Klassiker

Písnickári

Folkrock

"World music" oder europäischer Folk

Photo Credit: all photos taken from the homepages of the musicians: (1) Raduza (photo by Richard Procházka); (2) Karel Kryl; (3) Chechomor; (4) Buhvi


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 09/2004

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