FolkWorld Artikel von Dr. Willi Dommer:

Ferien in der klingenden Schreinerwerkstatt
Stuttgarter Schülerinnen auf den Spuren von Pythagoras

Schmirgeln statt Schnorcheln: Zwei Schülerinnen aus Stuttgart haben einen Teil ihrer Ferien mit schweißtreibender Arbeit verbracht. Im Instrumenten-Baukurs auf einem ehemaligen Bauernhof in der Ortenau bauten sie eine Klangsäule und lernten nicht nur Holzarten und Werkzeug kennen, sondern auch die Gesetzmäßigkeiten der Harmonik.

Konzentriert bearbeitet Ezra mit der Feile einen Block aus dunklem Hartholz. Mit Anstrengung und Augenmaß werden die Kanten abgerundet. Immer wieder wischt das Mädchen Schweißperlen von der Stirn und versucht, sich der aufdringlichen Wespen zu erwehren; denn die Werkbank steht im Freien und die Sonne fast im Zenit. Ihre Freundin Clarissa Pythagoras fräst währenddessen drei Schalllöcher in ein langes Brett aus Eschenholz. Die 13-jährigen Schülerinnen nehmen an einem Instrumentenbaukurs in der badischen Ortenau teil. Die zahlreichen Einzelteile werden im Laufe einer Woche zu einer „Klangsäule“ zusammengefügt, einem zwölfsaitigen Instrument nach dem Prinzip des Monochords, anhand dessen Pythagoras einst die Gesetze der Harmonik entdeckt hat.

Noch lässt kein Klangkörper auch nur annähernd seine spätere Form erkennen. Die Bretter mit den Schalllöchern müssen mit Decke und Boden aus Fichtenholz verleimt, mit Schraubzwingen aneinander gepresst werden und dann stundenlang trocknen. Währenddessen fertigt man die Stege, über die an beiden Kopfenden die Saiten laufen, bohrt Löcher für die Wirbel zum Spannen und Stimmen. Stets sind Zollstock und Bleistift zur Hand, denn Jan Rosenberg, Instrumentenbauer aus dem tschechischen Karlsbad, besteht auf absoluter Exaktheit. Schließlich verändert auch bei fast zwei Metern Saitenlänge bereits eine Ungenauigkeit von einem Millimeter die Tonhöhe.

Der Instrumentenbaukurs ist die Jahresarbeit der beiden Schülerinnen für die achte Klasse einer Stuttgarter Waldorfschule. Das selbstgefertigte Instrument werden sie im Unterricht präsentieren, die Bauweise erklären, einige Erläuterungen zu den Harmoniegesetzen einfügen und vielleicht sogar darauf spielen. Dazu muss die Klangsäule Pythagoras aber erst mal fertig werden. Also weiter schleifen, schwitzen und Wespen verscheuchen.

Mittlerweile ist es fast elf Uhr – abends wohlgemerkt. Zeit für den gemütlichen Teil unten im Wohnraum. Jan holt wieder seine eigene Klangsäule hervor und spielt darauf, führt das beachtliche Volumen und den Obertonreichtum der Resonanzsaiten vor, zeigt wie man durch das Verschieben der pyramidenförmigen Stege die Tonhöhe der Melodiesaiten nach individuellen Vorstellungen verändern kann. Oder er erklärt anhand des Instruments die von Pythagoras entdeckten Gesetze der Harmonik: Angefangen hatte alles im antiken Griechenland.

Pythagoras hatte im 6. Jahrhundert v.Chr. durch Studien am Monochord herausgefunden, dass sich die Intervalle einer Tonleiter in ganzzahligen Verhältnissen ausdrücken lassen. Stimmt man die Saite eines Monochords auf den Ton C, teilt diese genau in der Mitte und lässt die Hälfte der Saite erklingen (1:2), so hört man wiederum ein C, allerdings eine Oktave höher. Wird die Saite bei zwei Dritteln geteilt (2:3), so erklingt ein G, von C aus gesehen also ein Fünftonschritt: die Quinte. In analoger Weise ergibt die Saitenteilung bei drei Vierteln (3:4) das Intervall der Quarte (von C nach F) usw. Diese Intervalle entsprechen der Physiologie des Gehörsinns. Selbst bei kleinster Verstellung des Stegs von der Mitte weg erklingt keine reine Oktave mehr, was unser Ohr sofort wahrnimmt.

Die harmonikale Forschung gilt dem Nachweis, dass diese ganzzahligen Verhältnissen entsprechenden Intervalle nicht nur Grundlagen der Musiktheorie oder der Sinnesdispositionen des Menschen sind, sondern darüber hinaus auch Naturgesetze. Zupft Pythagoras man beispielsweise die Saite an, während man sie gleichzeitig sacht genau auf der Mitte (1:2) berührt und sogleich wieder loslässt, so erklingt ein hoher, lang anhaltender Oktavton, ein sogenannter Flageolet-Ton. Verschiebt man den Finger nur unwesentlich nach links oder rechts, dann ist überhaupt kein Ton zu vernehmen – allenfalls ein kurzes „Plopp“. Das gleiche gilt für die Quinte (2:3) und Quarte (3:4). Interessanterweise lassen sich also Flageolet-Töne nicht an jeder beliebigen Stelle der Saite hervorbringen. Die Tonhöhe verändert sich nicht stufenlos, sondern sprunghaft. Nur bei einem bestimmten Teilungsverhältnis erklingt dieser klare, lang anhaltende Ton. Es heißt, Max Planck sei durch dieses Phänomen, durch das Springen von einer ganzzahligen Quantität zur nächsten, zu seiner Quantentheorie angeregt worden.

Ezra und Clarissa machen sich eifrig Notizen. Auf die Frage, wie sie eigentlich darauf kamen, eine Klangsäule zu bauen, grinsen die beiden verschämt. Eigentlich sollte es ja ein Kanu sein. Die Väter, alte Bekannte von Jan, haben da offenbar sanfte Überzeugungsarbeit geleistet. Dass den Mädchen der Kurs Spaß gemacht hat, ist jedoch nicht zu übersehen.

Kursanschrift: Jan Rosenberg, Jubelbach 16, 77709 Wolfach, Tel. 07834/9372, E-Mail: jubelstan99@compuserve.de.


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 09/2004

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