FolkWorld Live Review 2/2002 von Erhard Ohlhoff
Originalveröffentlichung in den LAG Folk News

In Estland ist eben alles Folk
Das 9. Pärimus Muusika Festival in Viljanid, Estland, Juli 2001


Die Ankunft in Tallinn war schon fast Routine: Abholerin Aari stand bereit, als der kleine Flieger der Finnair mich und eine dreiköpfige walisischen Band Boys from the Hill am 26. Juli ausspuckte, diesmal ohne Schmelztiegel, nur als Tourist, d.h. mit viel Zeit für Konzerte und Zwischenprogramm. 50 Gruppen und Einzelkünstler sollten auf acht verschiedenen Bühnen und in zwei Kirchen spielen, meist Open Air, und das Wetter spielte mit. Das Programm lief täglich von 14 Uhr bis 1 Uhr, dann im Nachtklubzelt Tanz bis in den Morgen.

Ich teilte das Zimmer mit Holger Saarmann, der das deutsche Liedgut vertrat und sich als Einzelkämpfer tapfer schlug. Amüsantes Detail am Rande: als er einige Takte von 'Herzilein' anstimmte, um so die deutsche Zweiteilung zwischen tümlich und folk zu demonstrieren, ging ein freudiges Raunen durch den Saal. Statt abgeschreckt zu sein, fühlten sich die Zuschauer eher auf dem richtigen Fuß erwischt. In Estland ist eben alles Folk.
Mit dem Problem bei uns in Deutschland müssen wir leben.

Highlight des ersten Abends war der Havanna Son Club. Jawoll, die Welle schwappt auch schon bis Estland, nur hatte die Masse der Tänzer wohl den richtigen Hüftschwung noch nicht raus. Aber das machte gar nichts, die Kubaner boten gleich den passenden Tanzworkshop an. Um 24 Uhr dann Ghymes aus Ungarn, die den Platz vor der Ruine der alten Ordensburg hoch über dem Viljandisee mit traditioneller ungarischer bzw. südosteuropäischer Tanzmusik füllten. Den Abschluss im Zelt machten Väikeste Löötspillide Ühing (Verein der Kleinquetschen) um den bekannten Schauspieler und Sänger Marko Matvere. Ich bekam gerade noch die estnische Fassung des 'Hamburger Veermaster' mit, gefolgt von 'Roseanna'. Das Volk tanzte entfesselt, doch der Morgen graute und ich machte mich davon.

Fluxus, photo by The MollisDas Publikum, später auf 18.000 geschätzt, bestand wie bei den letzten Festivals meist aus Mädchen und jungen Frauen von 16 bis 25. Wo sind die Jungs? "Die haben andere Musik, kommen erst nachts raus, sind da, wo kein Eintritt verlangt wird", wurde mir gesagt. Die jungen Männer wollen sich eher abgrenzen, das hängt sicher auch noch mit einem traditionellen Rollenverständnis zusammen. Die führenden estnischen Gruppen bestehen meist noch aus Männern zwischen 30 und 50; die Frauen sind aber auf dem Sprung. (Führende Folkmusiker des Landes sehen das anders: Einsatzzeiten von 22 Uhr bis 3 Uhr morgens plus Heimreise, das sei nicht jedermanns(fraus) Sache.)

Es gab Workshops, einen Handarbeitshof, einen Instrumentenmarkt und Sportprogramm am See, von Volley- über Fußball bis zu Petanque. Das fiel allerdings in die Ruhephase der meisten Musiker. Das Publikum genoss das Bad bei 26 Grad im fast sauberen Wasser!

Die Waliser waren für mich am Freitag Pflichttermin. Chris an der Gitarre sang mit rauher Stimme und einem fast unverständlichen walisischen Akzent Arbeiterlieder aus Wales, im Stil von Pete Morton, begleitet von Bouzouki und Melodeon. Fluxus, Publikumslieblinge und schon zum dritten Mal dabei, sind im Sound zu vergleichen mit Blowzabella (Paul Jones hat eine ihrer CDs produziert) - alles tanzbar, ein wichtiges Kriterium für das Publikum. Die Stars des Abends, Yat-Kha aus Tuva, Kehlkopfgesang, Pferdekopfgeige und E-Gitarre, exotisch und besonders durch die bassige Lage von Albert Kuvezins Stimme beeindruckend. 3500 Leute - Publikumsrekord des Festivals!

Väsen, photo by The MollisFür mich als Neumandolaspieler war die Gruppe Melonious Quartet aus Nizza/Bordeaux ein Muss. Die Mannen um Patrick Vaillant, Frankreichs führenden Mandospieler, fielen schon im Hotel durch permanentes Üben auf, eine für echte Folkies eher ungewöhnliche Eigenschaft. Ich war dort einziger Zeuge einer absolut perfekten Technik und großer Übungsdisziplin. Auf wunderschönen klangvollen Instrumenten des Franzosen Andre Sakellarides reichte ihr Spektrum von Klassik über Chanson bis zur Folklore der Provence. Auch Saß und Oud wurden eingesetzt, die Verwandten der Mandoline am Mittelmeer. Aber eben dieser klassisch-akademische Ansatz erwies sich als publikumsfeindlich, hatten viele doch eher Lust auf Amüsement oder Tanz. Ein intimerer Ort wäre sicher angemessener gewesen, aber man wollte den großen Namen auch nicht verstecken. "Wir sind überall ein Sonderfall", kommentierten die vier, "ob bei Jazz, Folk oder Klassik". Nun, sie hatten sicher auch ihre Fans, und mich sowieso.

Die Verbundenheit der finno-ugrischen Völkern demonstrierte der Auftritt der Tanz- und Gesangsgruppe Ekton Korka aus Udmurtien, Russland. Farbenfrohe Trachten, sehr durchdringende hohe Frauenstimmen und zwei Quetschenspieler auf der russischen, zweireihigen, gleichtönenden Garmoschka, die durch eine eigenwillige Balgschütteltechnik den Sound bestimmten.

Am Sonnabend setzten Väsen aus Schweden einen Schwerpunkt. Mit schwindelerregenden Tempi auf Geige, Nykkelharpa, Gitarre und Ethno-Schlagwerk ging es zur Sache. Die Tänzer wurde wieder wie gewohnt bedient. Bis zur Zugabe musste ich auf meinen Lieblingshit, eine Slangpolska, warten. Großer Jubel.

Ranarim, photo by The MollisAm Sonntag zog man in Scharen zum Ugalatheater, wo die estnische Gruppe Tullilum um die livische Sängerin Julgi Stalte auftrat. Ja, es gibt noch Liven in Lettland, wenn auch wohl nicht mehr als 100. Die Gruppe wurde 1999 gegründet, mit einigen der bekanntesten Namen der estnischen Folk- und Rockszene. Meist Balladen in livisch (verwandt mit estnisch) sehr gefühlvoll begleitet. Der Saal war nicht von ungefähr brechend voll.

Dann schnell zurück, um Ranarim aus Schweden zu hören, etwas weniger spektakulär als Väsen, aber sehr nett. Zum Abschluss spielten Desi Wilkinson und Geiger Gerry O'Connor, die mit Balladen und komplizierten Instrumentals nicht unbedingt den Erwartungen des Publikums entsprachen. Doch dann gesellten sich die Brüder Johanson, drei landesbekannte Filigranmusiker aus Estland, dazu. Um 1 Uhr war man bereit für den Tanz in den Morgen mit Untsakad um Margus Pöldsepp, einen der führende Köpfe der estnischen Folkbewegung. Es soll bis 6 Uhr gedauert haben.

Viele der ausländischen Gruppen verschwanden kurz für einen Auftritt irgendwo im Lande, oft gesponsort von ihren Botschaften - eine angenehme Begleiterscheinung auch für die Festivalmacher, die hier einige Kosten abwälzen konnten. Zwischen allen internationalen Stars war natürlich die komplette Schar estnischer Formationen angetreten. Ihre Zuschauerzahlen blieben in keinster Weise hinter denen der Gäste zurück. Viele Projekte wurden vorgeführt, z. B. spezieller estnischer Männergesang oder Volkslieder der Setukesen aus dem Südosten Estlands, oder altes und neues estnisches Liedgut. Die Grenzen zu anderen Genres waren fließend. Auch eine russische Gruppe aus Estland, Zlatöje Gorö, hatte ihre Zuschauer. Der russische Teil der Bevölkerung (ca. 500.000) war jedoch nur sehr schwach vertreten.

Festival Homepage: www.folk.ee

Photo Credit: All photos by The Mollis
(1) Fluxus, (2) Väsen, (3) Ranarim


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 2/2002

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