FolkWorld Live Review 9/2001:

Auf zur Insel...

Ein ganz spezielles Festival: ‚Les Traversées Tatihou - Musiques du lage'


ein Festivalbericht von Christian Moll

Vauban Turm, Foto: C. MollZugegeben, es gibt Festivals, die bedeutend größer und bekannter sind, und viele Feste bieten wesentlich mehr Gruppen in einem kürzeren Zeitraum; trotz allem hat mich diese kleine Festival in einem abgelegenen Winkel der Normandie sehr beeindruckt. Ein wirklich außergewöhnliches Festival.

Die kleine Insel Tatihou, der Namensgeber des Festivals, ist eine kleine, nahezu unbewohnte Insel - es lebt wohl nur der Chef des Restaurants und ein Hausmeister auf ihr. Neben dem Restaurant gibt es noch einen Festungsturm, erbaut von dem berühmten französischen Baumeister Vauban, ein Vogelschutzgebiet, ein maritimes Museum, einige wenige Unterkünfte (beides untergebracht in einer ehemaligen Lazarettstation) und eine Gartenanlage auf der Insel. Für ein paar Tage in der Mitte vom August gibt es außerdem noch ein größeres Zelt, in dem dann der Großteil der Folkfestivals stattfindet.

Nur die wenigsten werden den Namen Tatihou schon einmal gehört haben - außer natürlich, sie kennen dieses geniale Festival. Die Insel ist dem kleinen, geschäftigen Hafenort St. Vaast-la-Hougue vorgelagert. St. Vaast la Hougue liegt exponiert an der Ostküste der Halbinsel Cotentin, die sich im Westen der Normandie in den Ärmelkanal in Richtung Portsmouth (England) streckt. Die Halbinsel ist bisher von den großen Touristenströmen links liegen gelassen worden, es ist ein ruhige, ländliche Gegend mit netten Städtchen, schönen Häfen und herrlichen Sandstränden. Man trifft auf hier auf freundliche Einwohner und exzellente Küche (besonders empfehlenswert: die Moule Marniere (Miesmuscheln), die berühmten Austern von St. Vaast und natürlich auch die Apfelspezialitäten Cidre und Calvados....).

Auf zur  Insel, Foto: C. MollAuch das Festival selbst gibt allen Grund zum Schwärmen. Es erstreckt sich über einen Zeitraum von mehr als einer Woche, zu Beginn gibt es eine Regatta um die Insel Tatihou, danach beginnt das Festival als (kostenloses) Dorffest des Ortes St. Vaast la Hougue. Hierfür wird eine Bühne direkt am Hafen des Ortes aufgebaut, auf der in der dritten Augustwoche nachmittags und abends einige sehr schöne open air Konzerte stattgefunden haben, bei denen sich der halbe Ort und angereiste Gäste versammeln.

Dieses Jahr waren dort u.a. die Bretonen der Gruppe Cabestan, die in dem äußerst passenden Ambiente Seemannslieder zum Besten gaben, sowie die drei jungen Mädchen der kanadischen Gruppe Celtitude (begleitet von einem Jungen auf der Gitarre), die hier ihren ersten Frankreichauftritt feierten. Celtitude sind eine energiegelandene Band, die akustische (vor allem traditionelle) Tunes und interessant arrangierte Lieder mit energetischen Steptanz und 'sitting step' kombinieren. Die drei Mädchen spielen Geige, Akkordeon und Piano, der Mann im Bunde begleitet die drei auf der Gitarre - man wird sicherlich in Zukunft in Europa noch einiges von ihnen hören...

Am Samstag startete dann der Hauptteil des Festivals, die Konzerte auf der Insel Tatihou - und gerade diese folgenden vier Festivaltage machen das besondere des Festivals aus. Jeden Tag findet ein Konzert mit zwei (einmal war es nur eine Gruppe) Gruppen statt. Diese Konzerte sind zeitlich genau auf die Gezeiten ausgerichtet, und müssen dies auch sein - denn der Großteil der Festivalbesucher macht sich (geführt) auf einem Weg auf, der nur bei niedrigem Wasserstand benutzbar ist, um zu dem Konzert auf die Insel zu gelangen. Es ist sehr beeindruckend zu beobachten, wie sich das Volk schon sehr frühzeitig (d.h. zu einem Zeitpunkt, an dem man noch nasse Hosen (wenn nicht noch mehr) bekommt), auf den Weg zur Insel Tatihou macht, um auch auf jeden Fall gute Sitzplätze zu bekommen.
Die Konzerte starten immer pünktlich, zu einem Zeitpunkt, an dem man bequem die Insel (recht) trocken erreichen konnte, und dauern dann gute zwei Stunden. Direkt im Anschluss müssen die Musikliebhaber die schöne kleine Insel dann wieder verlassen und zurück nach St. Vaast la Hougue wandern, wo sie dann am Abend in verschiedenen Kneipen weiter Musik hören können.

Kadril, Foto: C. MollEinzige Alternative zur Wanderung ist mit einem ‚Boot' zur Insel zu gelangen - dieses extravagante Fahrzeug hat drei Räder und fährt, wenn gerade kein Wasser da ist, über den Strand. Es ist schon ein lustiges Erlebnis in einem Boot zu sitzen, ohne Wasser unter sich zu haben...

Das Festivalprogramm gliedert sich in Themennachmittage; diese Jahr gab es einen flämischen, einen skandinavischen, einen italienischen sowie einen shetländischen. Alle Gruppen sind mit großer Sorgfalt ausgewählt worden, und die einzelnen Konzerte gut aufeinander abgestimmt.

Der Samstag war der belgische Auftakt der Inselkonzerte. Die beiden legendären flämischen Gruppen t'Kliekske und Kadril stellten sich dem enthusiastischen Publikum vor. Beide Gruppen existieren schon mehr als ein viertel Jahrhundert und haben die derzeit sehr starke Szene in Flandern stark mitgeprägt, beide haben als Pioniere flämische traditionelle Musik wieder populär gemacht. Obwohl man beiden Bands dieses Prädikat geben kann, sind sie doch sehr unterschiedlich. t'Kliekske ist ein Quartett, dass sich dem Material auf recht traditionellem Weg, aber doch unverkrampft nähert. Sie könnten aus der heutigen Perspektive vielleicht Urväter des flämischen Folkboom bezeichnet werden. Ihr Programm ist auf Lieder ausgerichtet, sie haben nebenbei aber auch unterhaltsame Schaustücke, die die vielen Kinder beglücken können, aber auch Erwachsene begeistern können.

t'Kliekske sind eine kurzweilige Band, die den Zuhörern die Zeit vergessen läßt, und im Nu ist schon die Pause angebrochen. Nun hat man für ein paar Minuten Zeit, die Mitfestivalbesucher zu begutachten - die Kleidung ist zum Teil sehr amüsant anzusehen: Gummistiefel bzw. Badesandalen und Ausgehkleider - man sieht sofort, dass man an einem speziellen Ort ist! Bei diesem herrlichen, ungewöhnlichen Anblick verfliegt auch die kurze Umbaupause schnell.

Als zweite Band steht die genialen Folkrocker von Kadril auf dem Programm. Diese einflußreiche Band hat gerade in diesem Sommer ihr 25-jähriges Bestehen mit einem Jubiläumsalbum gefeiert. Kadril hat viele der jungen innovativen Folkbands Belgiens stark beeinflußt. Nebenbei hat Erwin Libbrecht, Gitarrist von Kadril, die Szene in Belgien stark angekurbelt, als er vor 3 Jahren ein neues Label - das Wildboar label, heute wohl bestes Folklabel in Belgien - gegründet hat, und somit solche Bands wie Lais oder Ambrozijn mit deren Debutalbum auf den Weg gebracht hat.

Plommon, Foto: C. Moll
Kadril sind eine achtköpfige Band um die Libbrecht Brüder, die vor ein paar Jahren durch die junge Sängerin Eva De Roovere einen neuen zentralen Fokuspunkt hinzu bekommen haben. Kadril haben neben modernen Instrumenten wie Schlagzeug, Bass, Gitarre und Keyboard eine sehr weite Auswahl an traditionellen Instrumenten zu bieten. So finden sich auf der Bühne zwei schöne Drehleiern, Nyckelharpa (eine Schlüsselfiedel, die heute vor allem in Schweden zu finden ist), Dulcimer, ein Akkordeon, Dudelsäcke und Flöten. Alle diese Instrumente wurden auch traditionell in Belgien schon gespielt, wie mir Erwin versicherte. Dieses weite Spektrum gibt der Band ein volles Klangbild. Neben interessant arrangierten Instrumentaltiteln finden sich wunderschöne Lieder im Repertoire - Eva war wirklich ein Glücksgriff für die Band. Kadril gehört mit Sicherheit in die Spitzenliga der europäischen Folk Musik Szene.

Auch der zweite Tag des Festivals hat dem Besucher ein tolles Kontrastprogramm geliefert - der skandinavische Nachmittag wurde von Plommon aus Schweden und Gjallarhorn aus Finnland bestritten. Im Gegensatz zu den altetablierten Gruppen aus Flandern, handelt es sich bei diesen beiden Gruppen um junge Musiker, die frisch ihre eigenen Traditionen präsentieren. Die fünf Mädchen von Plommon sind in Deutschland durch Rainer Zellner der Agentur Music Contact schon zu einem festen Begriff der Folkszene geworden, in Frankreich waren sie jedoch bisher noch nie zuvor.

Die fünf Mädchen (drei Schwestern) - die alle u.a. auch Geige spielen - verstehen es, eine sehr entspannte Atmosphäre zu erzeugen. Sie können mit ihrer akustischen, auf Geigen basierten Musik leicht ihre Zuhörer in den Bann ziehen. Neben den feinen mehrstimmigen Gesang und den zuvor erwähnten Geigen ist die Tramp Organ, ein Instrument, das aus einem Koffer zusammengebaut wird, zentrales Instrument, mit dem Klara Rosen die anderen vier Mädchen antreiben kann.

Zoe, Foto by C. MollDie schwedischen Traditionen wurden auch nach der Pause nicht ganz verlassen, denn obwohl Gjallarhorn aus Finnland stammen, basiert ihre Musik doch zumeist in schwedischen Traditionen, genauer gesagt den Traditionen der schwedischen Minderheit in Finnland. Auch wenn ihre akustische Musik tief in den Traditionen Skandinaviens verwurzelt ist, geht sie doch weit darüber hinaus. Das Zentrum eines Gjallarhorn-Auftrits bildet der Gesang und das Geigenspiel von Jenny Wilhelms; begleitet wird sie auf Viola, Saiteninstrumenten, verschiedensten Perkussionsinstrumenten und einem Slideridoo - einem stimmbaren Didgeredoo. Die Band ist sehr innovativ und groovend, und sie setzte einen vollkommen andere musikalische Akzente als Plommon. Gerade solche Kombinationen zeigen die Vielfalt der Kulturen.

Der dritte Tag war einer einzigen Band gewidmet, der Band Zoé aus dem tiefstem Süden von Italien. Ich muss zugeben, zuvor habe ich von dieser Band noch nie etwas gehört - zum Glück hat sich das nun geändert! Die sieben Süditaliener hatten die gesamten gut zwei Stunden Zeit, uns in den Bann zu ziehen. Zoé sind eine äusserst kraftvolle Liveband. Zwei Tamburin /Tarantella spielende Männer (die zum Teil auch sehr kraftvoll singen) stehen an einem Ende der Bühne, hinzu kommen zwei Sängerinnen mit ebenfalls sehr kraftvollen Stimmen und eine Instrumentalsektion aus Akkordeon, Seiteninstrumenten und Geige. Mehr über diese geniale Band in einer der nächsten Ausgaben.

Das letzte Konzert war dem äußersten Norden Europas gewidmet. Von den Shetland Inseln (die nordöstlich vom schottischen Festland liegen) kamen die zwei Gruppen dieses Konzertes. Eröffnet wurde es durch Hom Bru, eine Band, die schon seit einigen Jahren als beliebte Festivalband durch die Land zieht. Diese Band hat eine recht ungewöhnliche Besetzung: eine Shetland Fiddle - wie sollte es auch bei einer shetländischen Band ohne gehen; ein Sänger/Gitarrist und zwei Mandolinen - in der Tat, ein Quartett mit zwei Mandolinen! Die Band interpretiert Shetland Tunes, Stücke aus Irland und auch aus anderen Ländern (ein französisches war auch dabei...) sowie einige Lieder.
Shetland Session, Foty by C. MollAnschliessend durften Filska, drei junge Mädchen, die von einem Gitarristen begleitet werden, das Publikum begeistern. Bei dieser Band steht noch stärker die Geige im Mittelpunkt - alle drei Mädchen spielen Geige (teilweise kommt auch mal ein Akkordeon oder Piano hinzu). Die fetzigen Shetlandtunes kommen so voll zur Geltung. Nebenbei werden noch ein paar Lieder - meist Lieder zeitgenössischer Songwriter - innovativ interpretiert. Als Abschluss des Konzert haben sich die beiden Bands zu einer kleinen Session auf der Bühne zusammengefunden.

Das war ein netter Abschluss des Festivals - doch halt - es gab noch ein gerade in diesem Jahr neu eingeführtes faszinierendes Highlight des Festivals - der "Ball der Insel". Ich muss sagen, es ist schon eine lustige Idee, eine Tanznacht auf einer kleinen Insel zu organisieren, die man frühestens wieder am frühen Morgen (gegen fünf Uhr) über den gerade wieder trocken gewordenen Weg verlassen kann. Viele Menschen haben sich auf diese Abenteuer eingelassen - und eine tolle Tanznacht auf einer kleinen Insel im Ärmelkanal erlebt.

der Ball der Insel, Foto C. MollSehr gelungen war die Auswahl der drei Tanzbands - alle haben eine sehr hohe Qualität, sind auch nur zum Anhören geeignet und haben eine sehr vielfältige Auswahl an Tänzen geboten.
Auftakt hat die Gruppe Les Maganés mit Tänzen und Musik aus Quebec gegen 23 Uhr gemacht, anschließend konnte man zu Tarabanda süditalienisch tanzen, um sich schließlich bis kurz nach Fünf zu der innovativen Fest Noz Band Menez Tan zu bretonischen Tänzen einreihte. Eine äußerst gelungene Nacht, die allen Tänzern mit Sicherheit noch lange im Gedächtnis bleibt.

Die musikalische Qualität der Gruppen des Festivals war exzellent - und auch wenn die meisten Festivalbesucher die Gruppen vorher nicht kannten, waren alle Konzerte ausverkauft. Die Freunde des Festival wissen eben, dass die Organisatoren ihnen nur höchste Qualität bieten und sie honorieren dies, indem sie zu allem Konzerten immer wieder gerne gehen. Das ganze Festival ist sehr Familien-freundlich: Man sieht viele recht kleine Kinder, für die das ‚Reisen auf die Insel' sicherlich ein tolles Abenteuer ist, aber auch viele ältere Leute machen sich auf den Weg.

Insgesamt ein geniales kleines Festival mit einer einzigartigen Atmosphäre - allen, die mal zur richtigen Zeit in der Gegend sind, ist es wärmstens empfohlen, sich auf das Abenteuer des Festivals auf der Insel Tatihou einzulassen.

An alle, die an der Organisation des Festivals beteiligt sind, ein großes ‚Merci Beaucoup' - und auf ein gelungenes nächstes Festival!!!

Festival Homepage findet man auf der Seite der Insel Tatihou

Photo Credit: All photos by C. Moll:
(1) Vauban tower - (2) the crossing - (3) Kadril - (4) - Plommon - (5) - Shetland Session - (6) - the ball of the island


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 09/2001

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