Ausgabe 11 10/99

Neue Scheiben aus Irland

Die FolkWorld Kolumne für Liebhaber irischer Musik, zusammengestellt von Axel Schuldes

Irish Folk Festival Fiddler Versäumnisse und Irrtümer sind dazu da, daß man sich zu ihnen bekennt und diese korrigiert. Also, über meine Glückwünsche an den VW Golf, das Irish Folk Festival und De Dannan habe ich doch im letzten Heft glatt ein weiteres wichtiges Geburtstagskind vergessen: Auch Ikea wird 25! Und dabei kann ich mich nur allzu gut noch daran erinnern, wie ich damals binnen weniger Stunden die Aufbauanleitung meines ersten Billy-Regals dechiffriert hatte und das Prunkstück souverän montiert habe. Und wie enttäuscht ich dann war, daß meine LPs um häßliche 5 cm herausragten. Na ja, der sympathische Elch hatte mir in weiser Voraussicht positives Denken mit auf den Heimweg gegeben: "Schleppen, Schrauben, Staunen und Freuen!" Letzteres habe ich befolgt und mich daran erinnert, daß mein neues Möbelstück - kiefernfurniert, klarlackiert - mir vom Hersteller korrekterweise als Bücherregal verkauft worden war. LPs raus, Bücher rein und der strebsame Student war's zufrieden.

1976 war ich wie elektrisiert, als ich zum ersten Mal die Platte einer Gruppe namens General Humbert aufgelegte und die Stimme einer jungen Sängerin vernahm, die zwar bei weitem noch nicht ausgereift war, von der aber bereits eine große Faszination ausging. Ich erkundigte mich bei der irischen Freundin, die mir jene LP geschickt hatte, und erfuhr, daß diese Sängerin auch in Irland ein noch ziemlich unbeschriebenes Blatt sei. Meine Bekannte, die bei Dolphin Records arbeitete, war sich aber absolut sicher, daß Mary, die Sängerin der Gruppe, eine große Karriere vor sich habe. Wie recht Maureen - requiescat in pace - doch hatte! Der Name dieser jungen Sängerin war Black, Mary Black. Auf die Gefahr hin, riesigen Ärger mit allen Mary Black-Fans dieser Welt zu bekommen, gestehe ich ein, daß sich für mich Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre die Faszination stark verflüchtigte, die Mary Blacks Stimme dereinst auf mich ausgeübt hatte. Für die Produktion ihrer neuen Platte, Speaking with the Angel, zeichnen wechselweise Donal Lunny, Steve Cooney und Mary Black selbst als Produzenten verantwortlich. Ein großes Kompliment ist fällig an dieses Trio, so lasse ich mich gern bekehren. Hier stimmt einfach alles - die Auswahl der Songs und der Begleitmusiker, die Arrangements, die Aufnahmetechnik. Unter solchen Rahmenbedingungen läuft Mary Black endlich mal wieder zu Hochform auf! Und über eine Sängerin, die sich einen Song von Ron Sexsmith als Titelstück auswählt (gibt es übrigens auch in einer ganz tollen Version von Lucy Kaplansky!), würde ich ohnehin nur Gutes sagen ...

Tonder Festival Session with  Dervish's Cathy Jordan (left) and Shane Mitchell (accordeon); photo by The Mollis Nicht allzu spannend fand ich die bisherigen Studioproduktionen von Dervish. Der Band haben jedoch eine Umbesetzung und das Engagement eines siebten Musikers offensichtlich sehr, sehr gut getan. Midsummer's Night, ihre neue CD, ist wirklich hervorragend - vom Klang und von den eingespielten Titeln her: Starker Gesang (Cathy Jordan!), exzellente Tunes. In dieser Top-Form dürften die Dervishs auf einer Spitzenposition unter den irischen Trad-Bands ins Jahr 2000 wirbeln. Wer sie einmal wieder live erleben möchte: Deutschland-Tourneen sind in der Mache.

Nach seinem (endgültigen?) Weggang von den Dubliners überraschte Ronnie Drew seine Fans mit einem Album mit dem wenig einladenden Titel Dirty Rotten Shame. Obwohl hochkarätige Session-Musiker an der Produktion beteiligt waren, hinterließ sie - gelinde gesagt - einen recht zwiespältigen Eindruck. Könnt Ihr jetzt abhaken, denn der "alte" Ronnie ist wieder da! Auf The Humour Is On Me Now präsentiert er sich so, wie wir ihn schätzen und lieben, als Storyteller par excellence. Produzent Mike Hanrahan (ex Stockton's Wing) bewies Einfühlungsvermögen, er rückte Ronnie Drews wahre Stärken ins rechte Licht und stellte ihm die "richtigen" Musiker zur Seite. Eine feine, runde Sache ist diese CD und mehr als eine ernsthafte Konkurrenz für das, was die ehemaligen Mitstreiter von Mr. Reibeisenstimme derzeit so ins Werk setzen. Allemal hörenswert!

Drawing by German artist Annegret Haensel Voll des Lobes waren wir bisher hinsichtlich der Wiederveröffentlichungs-Politik bei den Solo-Alben von Rory Gallagher. Ein weiterer großer Wurf in dieser Reihe sind die auf einer Doppel-CD vereinten BBC Sessions. Über zwei Stunden an unveröffentlichtem Material wurden einem gelungenen digitalen Remastering unterzogen und in einer liebevoll aufgemachten Verpackung untergebracht. Donal Gallagher, der Bruder des Gitarristen, merkt in den Liner Notes zu Recht an, daß Rorys Sternstunden wohl jene waren, wenn er vor einem und für ein Publikum spielen durfte. Diese Aussage ohne Wenn und Aber gegenzuzeichnen, dazu ist sicherlich jeder sofort bereit, der selbst mal ein Gallagher-Konzert erlebt hat. Oder zumindest ein Exemplar von Live in Europe sein eigen nennt. Donal Gallagher schließt mit den Worten "I am pleased to share with you this legacy of pure talent and hope that you will derive much listening pleasure from this exceptional collection." Für Freunde erdigen, handgemachten Blues-Rocks ein Muß. Und für Gallagher-Fans sowieso!

Eine der größten keltischen Stimmen dieser Tage ist Susan McKeown. Ihr viertes Album hat sie wieder gemeinsam mit dem genialen Jazz-Bassisten Lindsey Horner arrangiert und eingespielt. "Sie besitzt eine dieser außergewöhnlichen Stimmen, die den Hörer sofort in ihren Bann ziehen" hieß es in der Irish Voice über die Sängerin aus Dublin mit Wahlheimat New York. Mighty Rain ist - wie der Vorgänger Bushes & Briars - ein leises, wunderschönes und äußerst intimes Album. Die Arrangements sind originell und meist recht risikofreudig, jedoch stets dezent, ja geradezu sparsam. Einer von zahlreichen Höhepunkten hier ist "Dark Eyes" von Bob Dylans oft zu gering geschätzter LP Empire Burlesque aus dem Jahre '85. In der (Neu-)Interpretation von McKeown und Horner klingt die Dylan-Vorlage so, als sei dieser Song seit Menschengedenken schon ein Klassiker der Folkmusik. Ein faszinierendes Werk zweier Ausnahmekünstler.

Zwei Veröffentlichungen, auf die man sehr gespannt sein darf, sind die für den 14. September angekündigten Neuerscheinungen von Martin Hayes & Dennis Cahill (Live in Seattle) und des All-Star-Quintetts Lunasa (Otherworld). Die letztgenannte Formation wird von der Plattenfirma bereits als "Ireland's newest traditional music supergroup" gehandelt. Ob dieser dezente Slogan zutreffend oder doch ein wenig hoch gegriffen ist, dazu eventuell mehr im nächsten Heft.

photo by The Mollis Hinter dem Titel To Be the Nation Again verbirgt sich eine der wunderschönsten schottischen Songkollektionen der letzten Jahre. Der geheime Star des Unternehmens ist der Sänger und Gitarrist Ian Bruce, der zudem Sorge dafür trug, daß in puncto Klangtechnik keine Wünsche offen bleiben. Es ist nicht zu überhören, daß alle beteiligten Musiker mit ganzem Herzen bei der Sache gewesen sind. Folk-Hits wie "Caledonia", "Freedom Come All Ye", "Both Sides the Tweed", "Erin-Go-Bragh" und "No Man's Land" wurden zwar schon x-fach interpretiert, aber in solch beseelten Versionen wie hier hört man sie sich nur allzu gerne auch zum tausendsten Mal an. Ein arger Wermutstropfen: Nach 13 exzellenten Tracks bzw. gut 50 Minuten vorzüglichster Musik erweist sich ausgerechnet der zweiminütige Schlußsong als arges "All-Time-Lowlight". So verunglückt vorgetragen möchte ich "Flower of Scotland" bitteschön niemals wieder zu Ohren bekommen. Da hilft nur eines: Wegprogrammieren!

Klezmer ist die Festmusik der osteuropäischen Juden. Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts trat sie im Fahrwasser jüdischer Emigranten eine Reise rund um den ganzen Erdball an und gelangte so auch in die USA. Im Zuge ihrer Verbreitung hat sie diverse Einflüsse anderer Musikkulturen aufgesogen und integriert. Mitte der 70er Jahre erlebte Klezmermusik - vor allem in den USA - eine beeindruckende Renaissance, die bis heute anhält. Es nimmt nicht Wunder, daß die multikulturell gestimmten Musiker Irlands fasziniert sind von Klezmerklängen und mit einem Mann wie z.B. dem Klarinettisten Andy Statman begeistert zusammenarbeiten. Wozu diese Erklärungen? Natürlich um einen Dreh zu finden, im irland journal eine Empfehlung für eine Klezmer-CD unterzubringen, ist doch klar. Denn auch in deutschen Landen gibt es seit vielen Jahren eine exzellente Klezmer-Formation. Die Rede ist von Colalaila, dem Ensemble der begnadeten Klarinettistin Irith Gabriely. Kol Nidrej ist ihre viertes Album. Virtuos entfacht hier die Band ein emotionales Wechselbad zwischen Lachen und Weinen, faszinierende Klangbilder entstehen, eine einzigartige Stimmung wird geschaffen. Diese Musik lebt davon, daß sie gelebt wird. Allen, die bereit sind, ihre Ohren auch einmal für nicht-keltische Klänge aufzusperren, sei dieses wunderbare Dokument lebendiger jüdischer Musiktradition nachdrücklichst empfohlen!

Drawing by German artist Annegret Haensel Tja, liebe Leute, wieder mal neigt sich eine Folk-Kolumne dem Ende zu, in der etwas Wichtiges fehlt: Ein blitzsauberer Verriß! Das wird mir nun schon seit Anno Tobak vorgehalten, daß ich nie mal so r-i-c-h-t-i-g schön zubeiße. Vielleicht würde ich das ja gelegentlich sogar gerne tun ... aber dann fällt mir immer gerade noch rechtzeitig voller Demut ein, daß es eine hohe Kunst ist, nett gemein zu sein. Darüber hinaus bin ich nicht annähernd so couragiert wie der Papst, das gebe ich unumwunden zu. Mich beschleicht hin und wieder die armselige Bangnis, ich könnte mich auch mal vertun. Beispielsweise eine neue Platte von Foster & Allen versehentlich madig machen, obwohl sie in Wirklichkeit ganz große Klasse ist. Ein Alptraum! Das ist natürlich alles Blödsinn, was ich hier gerade von mir gebe. Nun mal absolut ehrlich: Es ist ganz einfach so, daß sich die zuständigen Promotion-Leute vor rund 25 Jahren darauf verständigt haben, mich gar nicht erst mit schlechten Platten zu bemustern. Die sparen dadurch 'ne Menge an Kosten ein, ich 'ne Menge an Zeit. Auf diese Weise bleibt es mir nämlich erspart, mich durch gigantische Plattenstapel hindurchhören zu müssen um herauszufinden, welche Titel die miesen sind. Jetzt ist's heraus, so simpel ist das. Ehrlich.
Anmerkung der Herausgeber: Das kann FolkWorld gut nachvollziehen und geht ihm irgendwie ebenso!

Zeichnungen von Annegret Haensel; mehr Infos zur Künstlerin auf ihrer Homepage
Photo Credit: All photos by The Mollis:
(1) Tonder Festival Session with Dervish's Cathy Jordan (left) and Shane Mitchell (accordeon)

Originalabdruck: 'irland journal' 5/99 (Christian Ludwig Verlag, Dorfstr. 70, 47447 Moers).

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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 10/99

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